Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Fülle an Frechheit

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23.09.2019. Die SZ feiert die Wiederentdeckung der norwegischen Webkünstlerin Hannah Ryggen, deren Teppich zum Abbessinienkrieg neben Picassos "Guernica" hätte hängen müssen. Der Standard sieht beim Steirischen Herbst, wie ein eiter Kulturbetrieb seinen Hedonismus in theoretische Weltläufigkeit ummünzt. Die Nachtkritik hält tapfer die Nazis in Ödön von Horvaths "Italienischer Nacht" aus. Die NZZ lauscht einem frischen Sibelius. Außerdem trauern die Feuilleton sum Günter Kunert, den großen Zweifler an der geraden Linie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2019 finden Sie hier

Bühne

Sexuell-intellektuelle Praktiken: Keti Chukhrovs und Guram Matskhonashvilis "Global Congress of Post-Prostitution" beim Steirischen Herbst. Foto: Mathias Völzke


"Grand Hotel Abgrund" lautet das von Georg Lukács inspirierte Leitmotiv des Steirischen Herbsts in diesem Jahr, im Standard sieht Helmut Ploebst sehr schön den Hedonimus des Kulturbetriebs vor Augen geführt, der sich als Weltläufigkeit geriert. Zum Beispiel in der Performance "Congress of Post-Prostitution" von Keti Chukhrov und Guram Matskhonashvil. "Als deftige Satire, die wegen seiner gechillten Herablassung gegenüber dramaturgischer Qualität zwar kein künstlerisches Meisterwerk geworden ist, aber ihr Thema gerade wegen dieser nachlässigen Machart umso besser trifft. Gnadenlos wird eine Intelligentsia vorgeführt, die vorgibt, einen wahnsinnig progressiven und zugleich moralisch aufgemotzten Gesellschaftsentwurf zu leben und zu verbreiten. Während des Global Congress of Post-Prostitution entlarvt sich der Theoriesprech dieser Intellektuellen als hohles Gewäsch. Eine so prekäre wie eitle Elite angelt mit dem billigen Pornomotiv nach Aufmerksamkeit, um aus ihrem Lifestyle Kapital zu schlagen."

Italienische Nacht gegen deutschen Abend: Ödön von Horvath am Staatstheater Stuttgart. Foto: David Baltzer


Hellauf begeistert ist Nachtkritikerin Verena Großkreutz von Ödön von Horvaths "Italienischer Nacht", das Calixto Bieito in Stuttgart in Szene gesetzt hat, mit großartigen Darstellern und einem fantastischen Bühnenbild: Allerdings sei Horvaths Volksstück über den aufkommenden Faschismus kein reines Vergnügen: "'Die Wacht am Rhein' brennt noch beim Verlassen des Stuttgarter Schauspielhauses in den Ohren. Gleich alle sechs Strophen hat der Nazi Erich gegrölt, und die gesamte Statisterie hat lauthals mitgesungen. Der Nazi Erich hat an der Rampe gestanden, als hätte er einen Stock im Arsch, die Augen fanatisch geweitet."

Besprochen werden Anne Lenks Bühnenversion von Sally Potters Film "The Party" an der Wiener Burg (SZ, Nachtkritik), Klaus Kusenbergs Politthriller zum Nahost-Konflikt "Oslo" am Theater Regensburg (Nachtkritik), Frank Hilbrichs Inszenierung von Richard Strauss' "Rosenkavalier" am Theater Bremen (der NMZ-Kritiker Joachim Lange zufolge in analytisch-kaltes Gegenlicht getaucht war), Tilmann Köhlers Inszenierung von Ágota Kristófs Roman "Das große Heft" am Theater Basel (FAZ) und das Neonazi-Dokudrama "Mütter und Söhne", mit dem das Berliner Ensemble seine neue Spielstätte, die Blackbox, eröffnete (Tsp).

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Kunst

Hannah Ryggen, Etiopia (Ethiopia), 1935. © Nordenfjeldske Kunstindustriemuseum

Catrin Lorch freut sich in der SZ über die Wiederentdeckung der norwegischen Webkünstlerin Hannah Ryggen, die stets Abstand zum Kunsthandel hielt und mit ihrer Familie als Selbstversorger knapp unter dem Polarkreis lebte. Anders als Picassos "Guernica" wurde ihr großer Wandteppich zum Abessinienkrieg auf der Weltausstellung von 1937 in Paris nicht gezeigt: "Auch Ryggen antwortete - wie Picasso - mit ihrem monumentalen Werk unmittelbar auf Zeitungsberichte und Radionachrichten. Der fast vier Meter breite Wandteppich, den sie im Jahr 1935 webte, zeigt in überzeichneter Deutlichkeit Kaiser Haile Selassie, daneben schwarze, verzweifelt gereckte Hände, einen Krieger und den Kopf von Benito Mussolini, der von einem Speer durchbohrt wird. Doch diese Szene, die auf dem letzten halben Meter dargestellt ist, bekam das Publikum nicht zu sehen. Die Kuratoren, die fürchteten, die italienische Staatsmacht könne sich beleidigt fühlen, rollten das letzte Stück des Teppichs ein." Die Frankfurter Schirn widmet Ryggen ab dieser Woche eine große Ausstellung.

Weiteres: Nadia Pantel besucht für die SZ im Pariser Kulturministerium eine kleine Ausstellung, in der die geretteten Skulpturen von Notre Dame gezeigt werden, darunter auch der berühmte Hahn vom Dach des Mittelschiffs. In der FAZ feiert Rose-Maria Gropp Luc Tuymans' Ausstellung "La pelle" im Palazzo Grassi in Venedig.
Archiv: Kunst

Literatur

Die Feuilletons trauern um den Schriftsteller Günter Kunert, der im Alter von neunzig Jahren gestorben ist. Als Sohn einer Jüdin von den Nazis gegängelt, brach er im Zuge der Ausbürgerung Wolf Biermanns schließlich auch mit der DDR - ein enttäuschter Sozialist, der sich zum Antikommunisten wandelte. So "blieb er immer ein hellsichtiger Zweifler an der geraden Linie", schreibt Jürgen Verdofsky in der FR. "Vieles sah er schmerzlicher und schärfer als andere. Er war in der Nachkriegsgeneration der deutschen Literatur, die er in Ost und West mitgeprägt hat, ein rastloser Dichter, ein Unruhepol, immer in Notwehr gegen ideologische Vereinfachung." Und Beatrix Langer ergänzt in der NZZ: "Aus dem Diktum der Vergänglichkeit bezog er für sich selbst eine heitere Lebensphilosophie, in der das Schreiben eine schöne, vielleicht die schönste Form der Fortbewegung blieb." Seine Arbeiten "haben das Dilemma der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts in eine Poetik des Individualismus übersetzt: in die Enge getrieben zu sein zwischen Totalitarismus und Freiheitspathos, unglücklichem Bewusstsein und Machtlosigkeit." Als heiteren Melancholiker würdigt ihn Tilman Krause in der Welt: "Er war ein herrlich umgänglicher Mensch. So, wie man den klassischen Vertreter der Spaßgesellschaft daran erkennt, dass er meist ein griesgrämiger, kommunikativ gestörter Langweiler ist, so erkennt man ja den wahren Melancholiker daran, dass er gern lacht, weil er so sehr der Erlösung aus dem Traurigsein bedarf." Zu betrauern ist somit "ein Poet aus der Tradition Villons, Harsdörffers und Arno Holz', ein Spieler und Provokateur, der doch im Grunde seines Herzens Humanist und Elegiker war." Tagesspiegel-Kritikerin Katrin Hillgruber attestiert ihm einen "produktiven Pessimismus".

Im Standard spricht Raoul Schrott über seinen neuen Historienroman "Eine Geschichte des Windes" und die Vorzügeder Sprache des Barock: "Diese Sprache ist wirklich die gesamte 'Orgel' mit allen Pfeifen von den hohen bis zu den tiefen Registern. Sie erlaubt es mir, weit auszuholen. Mit ihrem manchmal verqueren Deutsch besitzt sie eine Fülle an Frechheit und zugleich Gestelztheit."

In ihrem Roman "Sendbo-o-te" schildert die Schriftstellerin Yoko Tawada ein Japan, das in Depression und Isolation versunken ist. Recherchiert hat sie dafür auch in Fukushima, erklärt sie im taz-Gespräch. Eine Science-Fiction-Autorin sei sie zwar nicht: "Ich schaue mir bloß die japanische Gegenwart an. Dazu gehört Fukushima, aber auch dass die Menschen immer älter werden. Unsere Alten sind fit und wollen nicht aufhören zu arbeiten. Im Vergleich dazu sind die jungen Japaner sehr viel schwächer. Schon die Kinder bleiben meistens im Haus und spielen kaum noch draußen. Wenn man all dies in der literarischen Beschreibung ein bisschen intensiviert, dann ist man auch schon mitten drin in meinem Roman."

Weiteres: In den Intellectures gibt Mathias Énard über seinen gemeinsam mit Zeina Abirached geschriebenen Comic "Zuflucht nehmen" Auskunft. Samir Sellami resümiert in der SZ das Internationle Literaturfestival Berlin und freut sich darüber, dass es "nun auch ein halboffizielles Forum für postkoloniale Fragen geworden ist." Elmar Krekeler berichtet in der Welt von einem Treffen mit der Schriftstellerin Alina Bronsky. Der Standard bringt den zweiten Teil einer großen USA-Reportage des Schriftstellers Arnon Grünberg. Paul Jandl sinniert in der NZZ über den Herbst und die Literatur. Margarete Blümel befasst sich im Feature für Dlf Kultur mit der politischen Literatur der beiden koreanischen Staaten.

Besprochen werden unter anderem Miku Sophie Kühmels für den Deutschen Buchpreis nominiertes Debüt "Kintsugi" (Tagesspiegel), Lars Gustafssons "Etüden für eine alte Schreibmaschine" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Elizabeth Acevedos' Versroman "Poet X" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Dirk von Petersdorff über Matthew Sweeneys "Hund und Mond":

"Der Hund versuchte den Mond zu beißen,
aber er sprang nicht hoch genug
und fiel in den Fluß, in dem
..."
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Film

Eigentlich habe er ja nie Lust darauf verspürt, in einer Comicverfilmung mitzuspielen, erklärt Joaquin Phoenix im Tagesspiegel-Gespräch. Dass er nun als "Joker", Batmans neurotischen Gegenspieler im gleichnamigen Film, gefeiert wird, hat ganz einfach den Grund, dass der Film "eigentlich ja eine Charakter-Studie ist. Er ist außerdem eine Low-Budget-Produktion, bei der man uns alle Freiheiten ließ. ... Und es war von vornherein klar, dass es keinen weiteren 'Joker'-Film mit mir geben wird." Low Budget heißt in diesem Kontext im übrigen immer noch schlanke 50 Million Dollar.

Weiteres: In der Berliner Zeitung spricht Nora Fingscheidt über ihr Spielfilmdebüt "Systemsprenger". Der Standard bringt einen Auszug aus Bert Rebhandls Buch über Carol Reeds Klassiker "Der dritte Mann". Besprochen werden James Grays "Ad Astra" mit Brad Pitt (taz, unsere Kritik hier) und eine DVD von "Billionaire Boys Club" mit Kevin Spacey (SZ).
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Musik

Eine Gesamtaufnahme aller Sibelius-Sinfonien durch das Orchestre de Paris unter der Leitung von Paavo Järvi wirft ein neues Licht auf die oft verdüsterten Arbeiten des Komponisten, schreibt Marcus Stäbler in der NZZ. Der Dirigent offenbare "eine selten zu hörende Frische, gerade im Vergleich mit Sibelius-Aufnahmen der Vergangenheit.  ... In der 6. Sinfonie verlangt Järvi einen weicheren, weniger rauen Klang als gewohnt. Sphärisch schweben einem da die einleitenden Streicherklänge ins Ohr, wie eine verklärte Himmelsvision. Keine Spur von der Düsternis, die man der Musik von Sibelius ja gern als Dauerzustand unterstellt. Ein Weichzeichner ist Järvi gleichwohl nicht, die Wucht der Musik tritt klar zutage. Er meidet das Phlegma, das man mitunter von anderen Interpreten hört und deshalb dem Komponisten selbst anlastet."

Weiteres: Online nachgereicht, spricht Marcus Stäbler in der NZZ mit Ragna Schirma über Clara Schumann, die die Pianistin in diesem Jahr mit insgesamt 150 Konzerten würdigen will und dafür immensen Rechercheaufwand betrieben hat: "Über 1300 Programmzettel hat Ragna Schirmer im Schumann-Haus in Zwickau gesichtet und abgetippt", um nachvollziehen zu können, wo Schumann was mit wem gespielt habe. Thomas Schacher berichtet in der NZZ vom Festival Alte Musik in Zürich. Für die FR berichtet Bernhard Uskae vom Musikfest Eroica in Frankfurt. Sam Sodomsky holt für Pitchfork Darkthrones stildefinierenden Black-Metal-Klassiker "A Blaze in the Northern Sky" wieder aus dem Schrank. Frank Junghänel (Berliner Zeitung), Eric Facon (NZZ), Johan Schloemann (SZ) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Bruce Springsteen zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Thurston Moores "Spirit Counsel" (Pitchfork), die Compilation "The Time for Peace Is Now" mit Gospel aus den 70ern (Pitchfork), das Album "Egoli" des Africa Express (NZZ) und das neue Album des Conscious-Rappers Common (taz). Daraus ein aktuelles Video:

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