Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Wille zum ständigen Aufbruch

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31.12.2019. Die Zehnerjahre gehen zu Ende, die Kritiker resümieren etwas entmutigt die Refeudalisierung der Kunst und die Verbauhausung der architektonischen Avantgarde, Hoffnung macht ihnen die Diversifizierung der Literatur. Die FR lernt zudem von Hans Haacke, wie Social Grease im Museumsvorstand funktioniert. FAZ und Presse bewundern Eleganz und Understatement in Rian Johnsons Filmkomödie "Knives Out". Und die NZZ tanzt zur Hymne der lateinamerikanischen Protestbewegung: "Plata Ta Tá" von Mon Laferte und Guaynaa.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.12.2019 finden Sie hier

Kunst

Hans Haackes Geschenkter Gaul mit Börsenbarometer. Installationsansicht. Foto: Dario Lasagni /New Museum

Mit geradezu persönlicher Genugtuung kommentiert Claus Leggewie in der FR die Schau "Alle Connected", die das New Yorker New Museum Hans Haacke widmet, der wie ein Kunstsoziologe die Klassenanalyse zum Thema seiner Kunst machte: "1971 verwehrte ihm das Guggenheim-Museum eine geplante Solo-Show wegen seiner Schautafeln über die Machenschaften des Immobilienhais Arthur Shapolsky, der mit einigen Guggenheim-Trustees verbandelt war; das deklarierte die Museumsleitung als 'fremdartige Substanzen', als habe er Bazillen einschleusen wollen. Haacke blieb dran am Guggenheim: 1974 demaskierte er mit der Bilderserie 'Social Grease' die hohlen Phrasen der Gönner im Board der sakrosankten Institution."

Brigitte Werneburg blickt in der taz aus der Warte der Kunstkritikerin auf die Zehnerjahre zurück und sieht nicht nur wegen der Konzentration auf dem Kunstmarkt eine zunehmende Refeudalisierung: "Die Demokratisierungs-, Solidarisierungs- und Teilhabeforderungen, die die Kunst im 20. Jahrhundert noch als grundlegend für ihren Anspruch betrachtete, ästhetische wie gesellschaftliche Avantgarde zu sein, verfangen im durchkommerzialisierten Kunstbetrieb des 21. Jahrhunderts nicht mehr, weswegen er endlich als patriarchale Superstruktur kenntlich wird: absolut unzeitgemäß sexistisch, rassistisch, kriminell und immer autoritär."

Weiteres: Die Kritiker von Monopol listen ihre Lieblingsausstellungen des Jahres auf. In der FAZ gratuliert Rose-Maria Gropp dem Künstler Rainer Fetting zum Siebzigsten.
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Architektur

"Unbedingt ansehen!", meint Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung zum neuen Bauhaus-Museum in Dessau. Die Ausstellung sei so klug wie radikal konzipiert und mit einer atemberaubenden Masse von Exponaten bestückt. Ansonsten fällt seine Bilanz des Jubiläumsjahres enttäuscht aus: "Demgegenüber steht allerdings die vielleicht größte Niederlage dieses Jahres: Wieder wurden die vielen regionalen Modernen Deutschlands 'verbauhaust', bis hin zu einer Postkartenserie und einem dicken Moderne-Führer, in dem selbst expressionistische Bauten in Hamburg oder die Berliner Siedlungen der Moderne des expliziten Bauhaus-Gegners Bruno Taut umstandslos dem Bauhaus-Erbe zugeordnet sind."
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Literatur

Vom Bachmannpreis für Sharon Dodua Otoo bis zu Saša Stanišics Erfolg mit "Herkunft": Die Zehnerjahre waren das Jahrzehnt, in dem literarische Stimmen mit anderen Muttersprachen ihren Platz im hiesigen Literaturbetrieb eingenommen haben, resümiert Cornelia Geissler in der FR: "Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Feld der Literatur als Einwanderungsland bewährt. ... Doch viele der Sprachwechsler-Autoren sehen sich nicht wirklich willkommen - auch das gehört zur Realität."

Weiteres: Die SZ wirft einen Blick auf die Mütter der nächstjährigen Jubilare Friedrich Hölderlin, Paul Celan, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Ludwig van Beethoven. Claudia Mäder liefert in der NZZ eine kleine Philosophie des Bleistifts. In der FAZ gratuliert Stefan Weidner dem Dichter Adonis zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Judith Kerrs "Warten bis der Frieden kommt" (Tagesspiegel), Oliver Sacks' "Oaxaca Journal" (Tagesspiegel), Peter Roseis Reizeaufzeichnungen "Die große Straße" (Standard), Nicolas Mathieus "Wie später ihre Kinder" (NZZ), der Briefwechsel zwischen Reinhart Koselleck und Carl Schmitt (NZZ) und Gunnar Deckers Biografie über Ernst Barlach (FAZ).
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Bühne

Roberto Ciullis "Boart Memory" am Theater an der Ruhr. Foto: K. Maron

Beklommen kommt SZ-Kritikerin Cornelia Fiedler aus Roberto Ciullis Flüchtlingsdrama "Boat Memory / Das Zeugnis" am Theater an der Ruhr, das "Requiem und Anklage zugleich" sei und nach den Berichten der Gerichtsmedizinerin Cristina Cattaneo vom Bergen der Toten aus dem Mittelmeer erzähle. "Boat Memory / Das Zeugnis" umkreist das Grauen mit den Mitteln der Poesie. Düster ironisch flammt anfangs über dem einsamen Wrack die Projektion eines Renaissancegemäldes auf: 'Die drei Erzengel und Tobias' von Francesco Botticini. Tobias ist der Schutzheilige der Reisenden. Mit ihren rotblonden Perücken wirken die Forensiker darunter, als wäre sie direkt aus dem Bild gefallen. Sie versuchen ungelenk hilflos, ihre Engelsposen im neuen Job anzuwenden, bergen Objekte aus dem Wasser, betrachten sie und setzen, als würden sie von ihnen ablesen, biografische Schlaglichter zusammen: Sie erzählen vom Leben, von Wettrennen am Strand, von einem Liebespaar, von Musik, von Dürre, von einem schweigsamen Kind und einem redseligen Vater. Und sie erzählen vom Sterben."

Weiteres: Die Redaktion der SZ trägt die Kulturereignisse zusammen, mit denen sie die höchsten Erwartungen verbindet, darunter den neuen Ring in Bayreuth, die Manifesta in Marseille, die Architekturbiennale in Venedig und Barbara Mundel als Intendantin an den Kammerspielen. In der FAZ bilanziert Gerald Felber das Offenbach-Jubiläumsjahr, das ihn in Sachen Repertoirebildung und CD-Editionen allerdings kaum zufriedenstellte. Für den Standard fasst Bert Rebhandl das Berliner Gezerre um das Berliner Museum der Moderne zusammen. Die Nachtkritik resümiert das Theaterjahr 2019.
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Film

Traumhafter Cast, elegant erzählt: Rian Johnsons Krimi "Knives Out"

Mit Rian Johnsons "Knives Out" kommt zum Jahreswechsel ein köstliches, mit einem äußerst beeindruckenden Cast besetztes Filmvergnügen in die Kinos, versichert Markus Keuschnigg in der Presse. Johnson nimmt sich hier des Whodunit in der Tradition Agatha Christies an und modernisiert die Form sichtlich: "Ein hintergründiges Vexierspiel zu Klassismus und Rassismus in den USA der Gegenwart" spielt sich hier auf der Leinwand ab. "Doch die profund humanistische Botschaft ist nicht Seinszweck von "Knives Out", auch kein aufdringlicher Zeitgeist-Brokat, sondern eben Subtext, altmodisch elegant verwoben mit dem dramaturgischen Krimi-Kern der Geschichte ... Alles hier ist Understatement." Auch FAZ-Kritikerin Maria Wiesner ist hin und weg: "Dass die Mörderjagd in 'Knives Out' so unterhaltsam ausfällt und man sämtliche Haken glaubt, die die Handlung hier wie ein Hase auf der Flucht schlägt, liegt zu guten Teilen an den Schauspielern, die hier gegen- und miteinander Katz und Maus spielen. Da wären neben Christopher Plummer als exzentrischer Erfolgsautor Thrombey, Jamie Lee Curtis, Michael Shannon, Don Johnson, Chris Evans und Toni Collette, die dessen Familienangehörige spielen."

Weiteres: In der SZ gratuliert Fritz Göttler dem amerikanischen Dokumentarfilmemacher Frederick Wiseman zum Neunzigsten. Besprochen werden ein Biopic über Judy Garland mit Renée Zellweger (Standard), Salvador Simós Animationsfilm "Buñuel im Labyrinth der Schildkröten" (SZ) und ein Reboot von "Drei Engel für Charlie" mit Kristen Stewart, Ella Balinska und Naomi Scott (Standard).
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Musik

Knut Henkel befasst sich in der NZZ mit den Songs, die von den lateinamerikanischen Protestwellen der letzten Monate zu ihren Hymnen erklärt wurden. Insbesondere auf "Plata Ta Tá" trifft dies zu: "Mon Laferte und Guaynaa haben in diesem Stück den Spagat zwischen verschiedenen Musikkulturen brillant hinbekommen, indem sie den Reggaeton mit einer gehörigen Portion Cumbia-Tradition gemischt haben. Und in den Lyrics betonen sie die Chancen der Demokratiebewegungen. Die junge Generation mache eine Revolution, heißt es. Dank Handys habe sie mehr Macht als Donald Trump. Dass sie damit nicht ganz falschliegen, zeigt schon der Umstand, dass die Demonstranten mit dem Handy nun auch allenthalben Beweise für die massiven staatlichen Repressionen sammeln." Wir hören rein:



Andrian Kreye widmet sich in der SZ den drei neuen Alben, die der Jazz-Avantgardist Peter Brötzmann zuletzt in kurzen Abständen veröffentlicht hat. Eines davon trägt den programmatischen Titel "I Surrender Dear" und stellt eine Absage an die Heilsversprechen einer Avantgarde dar, der die Interventionsfähigkeit abhanden gekommen ist, erklärt Kreye, für den das nicht nur nach Rückzug klingt: "Sicher, Brötzmann hat schon Recht, wenn er mit seinem Solo-Album einer Avantgarde die Absage erteilt, die ihre gesellschaftliche Relevanz und ihre künstlerische Wucht verloren hat. Was er ja weniger der Avantgarde als der Gesellschaft vorwirft, die Freiräume so bereitwillig aufgibt. Gerade deswegen steckt in 'I Surrender Dear' eben nicht nur Resignation, sondern im Kontext der drei Alben ein Wille zum ständigen Aufbruch, der die Grundbedingung freier Improvisation bleibt." Hier ein Live-Auftritt von Leigh und Brötzmann:



Weiteres: Jens Uthoff denkt in der taz darüber nach, wie Streaming das Musikhören und das Geldverdienen mit Musik in den letzten zehn Jahren verändert hat - und begeht dabei leider den oft anzutreffenden Kardinalfehler, in Sachen Rentabilität die Zahl gestreamter Titel mit der identischen Zahl an Downloads gegenzurechnen. Regine Müller hat sich für die taz die Aktivitäten in Bonn zum Beethovenjahr 2020 angesehen. Die taz-Kritikerinnen und -Kritiker präsentieren ihre Musiklieblinge des Jahrzehnts. Besprochen werden das Jahresabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko (Tagesspiegel), eine neue Aufnahmensammlung des Dirigenten Pierre Monteux (Presse) und neue Wiederveröffentlichungen, darunter eine Retrospektive des Labels Strictly Rhythm (SZ).
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