Efeu - Die Kulturrundschau

Einen Westflügel müsste man haben

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18.03.2020. Die SZ jubelt über die Befreiung des Architekten Richard Neutra aus dem "Knast der Coffee-Table-Books". Die FAZ besingt die Ahnherrin aller Webkünstlerinnen. Die taz feiert die feministische Avantgardistin Francesca Woodman. DT-Intendant Ulrich Khon bemerkt demprimiert, wie wenig das Theater auf echte Tragödien vorbereitet sind.  Und auf ZeitOnline beobachtet David Wagner, wie Berlin langsam einschlummert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.03.2020 finden Sie hier

Architektur

Ohara House, Silver Lake, Los Angeles, 1961, Foto: David Schreyer 2017/Wienmuseum

Der Wiener Architekt Richard Neutra wurde in Kalifornien Opfer des Hochglanz-Fotografen Julius Shulman, der seine Bauten - wie auch die seiner Kollegen Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier Louis Kahn - zu Ikonen einer Martini-Moderne machte. In der SZ ist Laura Weißmüller daher ganz begeistert, dass David Schreyer, Andreas Nierhausmit ihrer Neutra-Ausstellung im Wienmuseum den Humanisten "aus dem Knast der Coffee-Table-Books" befreien. Und siehe da: "Für heutige Verhältnisse sind diese Häuser in den Hügeln von Hollywood klein, geradezu winzig. Viele sind weniger als 100 Quadratmeter groß. Trotzdem wirken sie durch ihre Offenheit, die fließenden Grundrisse und den Dialog mit ihrer heute fast urwaldartigen Umgebung großzügig. 'Man braucht nicht Hunderte von Quadratmetern, um gut zu wohnen', so Nierhaus. Und auch keine Klimaanlage. Ursprünglich hatte keines der Häuser eine, viele Bewohner verzichten bis heute darauf... Nierhaus und Schreyer haben Neutra damit tatsächlich 'demokratisiert'." Oder wie Kevin Vennemann Shulman vorwarf: Seinestwegen ist die Moderne unerschwinglich geworden!

Weiteres: In der NZZ hätte Thomas Stadelmann gern den Besuch einer Ausstellung in Lausanne empfohlen, die der Frage nachgeht, wie die anhaltende Urbanisierung eigentlich zu den endlichen Ressourcen  passen soll.
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Kunst

Francesca Woodman, On Being an Angel #1, Providence, Rhode Island, 1977 © Francesca  Woodman

In der taz feiert Achim Drucks die Fotografin Francesca Woodman als Protagonistin der feministischen Avantgarde der siebzigiger Jahre, deren Werke wir beinahe im C/O in der Berlin zu sehen bekommen hätten: "Pop-Kultur hat Woodman nicht interessiert. Die surreale Ästhetik ihrer Fotografie ist meilenweit entfernt von der damals angesagten Coolness von Punk und New Wave. Und während sich Cindy Sherman für ihre 1977-80 entstandene Fotoserie "Untitled Film Stills" als Verführerin, Sekretärin oder Hausfrau inszenierte und dabei stereotype Frauenbilder aus Hollywood-Filmen, Fernsehen oder Werbung appropriierte, finden sich bei Woodman keinerlei Bezüge zur Bilderflut der Massenmedien. Stattdessen erschafft sie eine hermetische Welt voller Verfall und Vergänglichkeit: In altmodischen Kleidern posiert sie in abgerockten Räumen. Putz liegt auf ausgetretenen Holzdielen, von bröckelnden Wänden schälen sich zerfetzte Bahnen einer Blümchentapete, hinter denen die Künstlerin ihren nackten Körper versteckt. Manchmal scheint es so, als würde sie mit den Wänden verschmelzen, in ihnen verschwinden."

Die großen Webkünstlerinnen der Moderne - Hanni Albers, Hannah Ryggen, Olivia Gioacometti - werden nach und nach in ihrer Bedeutung anerkannt, ebenso die Weberinnen, denen wir den Teppich von Bayeux zu verdanken haben. Aber wem verdanken wir die Kunst überhaupt? In der FAZ besingt Stefan Trinks in einem zeitlos schönen Text die Ahnherrin aller Künstler- und Weberinnen, Arachne, die Athene im Wettstreit besiegte und deswegen von ihr in eine Spinne verwandelt wurde: "Arachne stammt aus einfachen Verhältnissen - der Vater ist Wollfärber in Lykien. Sie vermag es aber, durch ihre Kunst Berühmtheit zu erlangen, so dass sogar die ebenfalls kunstfertigen Nymphen von weit her kommen, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Sie hat entsprechend ein Publikum für ihre Kunst, gar Verehrer, und arbeitet keinesfalls im Verborgenen. Nicht nur die fertigen Webkunstwerke, auch 'sie werden zu sehen, war ein Vergnügen', wie Ovid die öffentliche Anteilnahme am künstlerischen Prozess betont."

Weiteres: Ingeborg Ruthe schreibt in der Berliner Zeitung zum Tod von Ilse Maria Dorfstecher, die mit dem Verein Xanthippe und der Inselgalerie unermüdlich die Kunst von Frauen aus Berlin und Brandenburg förderte.  Und Hyperallergic malt sich aus, wie die Kunst ausgesehen hätte, wenn Gentileschi, Frida Kahlo oder Kerry James Marshall in Zeiten des Abstandhaltens gelebt hätten.
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Bühne

Im Tagesspiegel-Interview mit Rüdiger Schaper spricht Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters, über die deprimierende Lage der geschlossenen Theater. Obwohl sie doch so oft von Katastrophen und Menschheitskrisen handeln, können sie in der jetzigen Situation nicht helfen: "Das Theater ist ein Zwischenraumgestalter, eine Art Unterbrecher. Es ist ein Ort, an dem wir die Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. Normalerweise sind wir doch alle in einem Dauerarbeitsmodus, wir tun so, als gäbe es kein Ende. Das Theater aber zeigt die Ausnahmesituation, das Ende einer Beziehung, den politischen Verrat, den gesellschaftlichen Zusammenbruch. Und jetzt passiert uns Theaterleuten das real, was wir sonst immer für die Gesellschaft tun, was wir ihr vorführen: Wir selbst sind unterbrochen, aus der Bahn geworfen." Wie unter anderem der Standard mit der Agentur APA meldet, gehen die Wiener Bühnen inzwischen von einer Schließung bis zum Ende der Saison aus.

Weiteres: Im Standard besingt Ronald Pohl die Dienstleisterin seines Herzens: "Unsere Supermarktkassiererinnen sind Heldinnen, Punkt. Sie haben es verdient, auch nach Abklingen der Ansteckungsgefahr anständig entlohnt zu werden. Das könnte unter anderem bedeuten, unbedingt mehr als 15 Euro Stundenlohn an sie auszuzahlen." Marc Zitzmann berichtet in der FAZ von Ivo van Hoves Inszenierung der "Glasmenagerie", mit einer grandiosen Isabelle Huppert am Odéon-Theater in Paris (mehr hier).

Und hier der Online-Spielplan der Nachtkritik.
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Film

Analogien zur Gegenwart: "The Plot Against America" (Bild: Sky)

Im Interview mit der FAZ spricht Drehbuchautor David Simon, der Serienklassiker wie "The Wire" und "Treme" geschrieben hat, über seine neue Mini-Serie, die Philip-Roth-Adaption "The Plot Against America". Die Vorlage handelt in einem alternativen Geschichtsverlauf davon, wie ein Antisemit wie Charles Lindbergh in den Vierzigern zum Präsident der Vereinigten Staaten wird: "Wir befinden uns in einem Moment, in dem der politische Wind viele hässliche Dinge offenbart hat, von denen wir vielleicht dachten, sie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hinter uns gelassen zu haben. ... Dem Roman wohnt eine Kernwahrheit inne über etwas, für das die amerikanische Staatsführung und die amerikanische Gesellschaft seit Beginn der Republik sehr anfällig sind. Es gibt darin Elemente, in denen erstaunliche Analogien zu unserem jetzigen politischen Moment zu finden sind."

Überforderung durch Weiterlebenmüssen: "The Outsider" (Bild: HBO)

Düster, intensiv, aber unbedingt sehenswert ist die neue, auf dem gleichnamigen Roman von Stephen King basierende HBO-Serie "The Outsider", meint Ekkehard Knörer in der taz: "Alles ist Tod und Verlust, Überforderung durch das Weiterlebenmüssen. Nichts wird den Figuren erspart, traumatisiert sind sie alle, das ungeheure Gewicht der Welt liegt auf dieser Welt. Und dann wird alles noch düsterer, schwerer. Schwer auszuhalten, aber 'The Outsider' ist so stark geschrieben, gespielt, inszeniert, dass die Plausibilisierung auf der Ebene des Figurenpsychologisch-Atmosphärischen vollauf gelingt." Dazu passend: Beatrice Behn hat für Kino-Zeit ein großes Dossier mit Streamingtipps zusammengestellt.

Die großen Studios nutzen die Corona-Krise um das Kinofenster auszuhebeln, also jene aus Rücksicht auf die Kinos normalerweise eingehaltene Frist zwischen Kinopremiere und Heimkinostart: Universal etwa will einige seiner aktuellen, vom Kinopublikum nunmehr abgeschnittenen Filme via Video-On-Demand (zum allerdings gepfefferten Preis von 20 Dollar für 48 Stunden) zur Verfügung stellen. Für deutsche Verleiher gerade aus dem Arthouse-Segment eine schon aus Ertragsgründen nicht so wirklich attraktive Option, haben Tobias Kniebe und David Steinitz für die SZ herausgefunden. "Zudem stünde in Deutschland, wo die staatliche Filmförderung auch für Verleiher zur Lebensgrundlage zählt, die Streamingoption auch rein rechtlich nicht immer zur Verfügung. ... Die Zeit nach der Pandemie macht vielen in der Branche sogar noch mehr Sorgen als die Gegenwart. Stefan Arndt von X-Filme befürchtet, dass sich nach der Krise 'alle Filme gegenseitig erschlagen werden'." In einem online nachgereichten FAZ-Artikel schildert Axel Weidemann die Situation der deutschen Produktsfirmen, die weitgehend von den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern abhängig sind.
Archiv: Film

Literatur

Mit Social Distancing kennen sich am Schreibtisch brütende Literaten ja eigentlich aus - entsprechend schlägt jetzt die Stunde der literarischen Onlinetagebücher zur Corona-Krise. Für ZeitOnline sitzt der Schriftsteller David Wagner am Computer und berichtet im Berliner Flaneur-Tagebuch von einer Stadt, die langsam einschlummert: "Später am Abend ruft eine Freundin an. Sie erzählt, sie gehe gerade die Rosenthaler Straße hinauf, Richtung Rosenthaler Platz. In der Mitte der Fahrbahn. Kein Auto sei unterwegs. 'Wir FußgängerInnen bekommen die Stadt zurück', sagt sie. 'So hat alles auch sein Gutes!'"

Der Schriftsteller Tilman Rammstedt liefert derweil auf ZeitOnline die zweite Folge seiner auf sieben Tage angelegten Kolumne "Der Quarantänetröster": "Einen Westflügel müsste man haben. Dann könnte man ab und an dorthin schlendern, den endlosen Flur entlang, den man ja zweifellos auch hätte, um mal zu schauen, was da drüben im Westflügel so passiert." Simon Strauß kündigt in der FAZ die Social-Distancing-Textreihe "Mein Fenster zur Welt" an: "Hier sollen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der ganzen Welt Blicke aus ihren Fenstern werfen. Und uns damit von ihrem Blick auf diese Krisenwelt erzählen." Die Belegschaft des Onlinemagazins 54books schreibt derzeit kollektiv Distanz-Tagebuch.

In unserem Online-Buchladen Eichendorff21 haben wir eine Leseliste zum Thema "Corona-Krise" zusammengestellt.

Außerdem: In der NZZ perspektiviert der Politikwissenschaftler Wolf Linder den Schriftsteller Gottfried Keller als Vordenker der Grünen. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erzählt Marc Reichwein, wie Hölderlin seinerzeit zwangseingwiesen wurde.

Besprochen werden die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift Die Horen (Standard), Agustina Bazterricas "Wie die Schweine" (FAZ), Wolfgang Martynkewiczs Studie "1920. Am Nullpunkt des Sinns" (FR), Hartmut Langes "Der Lichthof" (Tagesspiegel), Birgit Birnbachers "Ich an meiner Seite" (NZZ), Éric Vuillards "Der Krieg der Armen" (SZ) und Anna Maria Orteses Erzählband "Neapel liegt nicht am Meer" (FAZ).

Und eine hübsche Idee: Der Twitterkanal Streamkultur liefert Streamingtermine für Online-Lesungen und -Konzerte.
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Musik

Ist ja schön, dass immer mehr Konzerthäuser und Kultureinrichtungen jetzt aufs Netz setzen, meint Reinhard J. Brembeck in der SZ. Allerdings vermisst er beim Konzertabend zuhause doch ein bisschen den Zwang zur Etikette. Im Saal darf man höchstens sanft entschlummern, doch "von anderen unbeobachtet hat der Hörer schon ganz andere Möglichkeiten: laut schreiend gegen Langeweile und Missdeutungen aufbegehren, aus dem Zimmer rennen, den Ton oder die ganze Übertragung abschalten". Außerdem werde da "kein Konzert übertragen, sondern eine unter aseptischen Studiobedingungen abgehaltene Probe. ... Der Staatsopernabend macht auch deshalb nicht glücklich, weil er die Sehnsucht nach einem Konzert erweckt. Eine Sehnsucht, die auf lange Zeit hinaus nicht zu erfüllen sein wird." Wer sich davon dennoch nicht abhalten lassen will, findet bei Manuel Brug in der Welt zahlreiche Empfehlungen und Hinweise.

Wer nun im Social Distancing zu Hause sitzt und dabei vom Wunsch gepackt wird, endlich mal der eigenen kreativen Ader zum Ausdruck zu verhelfen, für den hat SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert gute Neuigkeiten: "Moog und Korg haben ihre Synthesizer-Apps anlässlich der Pandemie kostenlos zugänglich gemacht. Wer mag, kann die Minimoog Model D iOS-App von Moog und die iKaossilator-App von Korg für iOS und Android derzeit umsonst herunterladen und seine eigenen Quarantänesongs aufnehmen."

Weitere Artikel: Im britischen Spectator empfiehlt Oliver Soden ein Buch des amerikanischen Kunst- und Architekturkritikers Philip Kennicott, "Counterpoint. A Memoir of Bach and Mourning", das die heilende Wirkung der Goldberg Variationen beschreibt. Im Freitag schreibt Maximilian Schäffer einen Nachruf auf Genesis Breyer P-Orridge von Throbbing Gristle (weitere Nachrufe bereits hier).
Archiv: Musik