Efeu - Die Kulturrundschau

Gräser vom Schlüpferband

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2020. Die Filmkritiker beschwören den Garten voller Schönheit, den uns der große Komponist Ennio Morricone hinterlassen hat. Wunderbar schmelzenden Italo-Pop konnte er übrigens auch, zeigt uns The Quietus. Der Tagesspiegel lernt, dass Diversity in der Oscar-Academy mit Tücken verbunden ist. Wie's weitergeht mit der Staatlichen Ballettschule in Berlin untersucht die taz, die außerdem eintaucht ins Hippie-New-Age mit einer Hamburger Gruppenausstellung zu den Thesen der Philosophin Donna Haraway.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.07.2020 finden Sie hier

Musik



Es ist das Ende einer Ära der Filmmusik: Il Maestro, der große Ennio Morricone ist gestorben. "Seine Hinterlassenschaft ist groß und ein Garten voller Schönheit", schwärmt der Filmpublizist und Italofilm-Experte Christian Keßler in einem öffentlich auf Facebook geposteten Nachruf. Es war bekanntlich der Italowestern, der Morricone weltberühmt machte - und vielleicht auch Morricone, der den Italowestern weltberühmt machte, gerade indem er die Dinge anders anging als Hollywood-Komponisten, die oft im Raum des Naheliegenden fischten. Demgegenüber "baute Morricone völlig irre Geschichten in seine Kompositionen ein, sizilianische Maultrommeln etwa, wilden Kreischgesang oder Alessandronis Zaubergitarre. Auch Lacerenzas Trompete war ein fester Bestandteil von Ennios Westernzirkus. Spieluhren und andere atypische Elemente rundeten das dann ab." Kurz: "Er konnte Sachen, die andere Leute nicht können." Dem kann Andreas Kilb in der FAZ nur beipflichten: "Morricone schrieb eine Musik, die sich atmosphärisch mit den Elementen der Handlung vollsog: Stöhnen, Fluchen, Peitschenknallen, Pferdegetrappel, Glockenläuten, Pistolenschüsse." Es ist auch klar, woher dieser freie Zugang zur Musik kam, ist Gerhard Middings Nachruf auf ZeitOnline zu entnehmen: "Früh begeisterte er sich für die musikalische Moderne, suchte bei den Darmstädter Ferienkursen die Begegnung mit Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen, arbeitete später mit John Cage." Toll psychedelisch ist seine Musik zur wunderbar verdrogten Nachtclubszene in Mario Bavas Camp-Spaß "Danger Diabolik" mit - ja, man sieht ihn kurz - Michel Piccoli:



Für Fritz Göttler in der SZ ist klar: Morricones "Musiken sind wohl die einzigen, in denen das chorische Klagen nicht zum Gesäusel wird." Kein Wunder, denn "alles, was er komponierte, war bis ins letzte Detail durchdacht", schreibt Marc Zollinger in der NZZ: "Sein Hang zum Perfektionismus trieb ihn an. Es war letztlich eine nicht enden wollende Suche nach dem absoluten Ton: Erscheint dieser zum Greifen nahe, ist er bereits wieder entwischt. Die 'dynamische Immobilität', wie er es nannte, stellte für Ennio Morricone das größte Mysterium des Lebens dar." Dass er meist nur auf seine Westernmusiken beschränkt wird, sah der Maestro, der auch im Bereich der Avantgarde tätig war, im übrigen gar nicht gern, erinnert sich Christian Schachinger im Standard: "Von gut 600 Kompositionen in seinem Leben würden schließlich nur höchstens fünf Prozent dieser Ecke zugeordnet werden können." The Quietus sammelt internationale Stimmen von Popmusikern. Und auch wiederum wunderbar schmelzenden Italo-Pop komponierte Morricone:



Weitere Artikel: In der FAZ berichtet Wolfgang Sandner vom Dirigentenwettbewerb der Bamberger Symphoniker, deren Musiker sich unter Abstandbedingungen dazu gezwungen sahen, "ihr Spiel den neuen Gegebenheiten anzupassen, bisweilen die Einsätze etwa der Bläser um geringste Zeitabstände zu antizipieren, um kein Klangtohuwabohu zu provozieren." Auf ZeitOnline stellt Matthias Dell das Projekt eines Museums zur Geschichte Schwarzer Popkultur in Deutschland vor. Für die NZZ spricht Michael Stallknecht mit dem finnischen Dirigenten Leif Segerstam. Die FAZ hat Jan Brachmanns Artikel über Daniel Barenboims geplantes Digitalfestival online nachgereicht. Jenni Zylka (taz) und Willi Winkler (SZ) gratulieren Ringo Starr zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Arcas Album "KiCk i" (Tagesspiegel) und neue Klassikveröffentlichungen (SZ).
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Bühne

Nach Vorwürfen, sie riskiere mit zu hartem Training, Mobbing und Drill das Kindeswohl, sucht die Staatliche Ballettschule in Berlin einen Neuanfang, berichtet Anna Klöpper in der taz. Doch der gestaltet sich als schwierig: "Die Härte, mit der die Kinder bereit sind zu trainieren, der Erfolg, der unbedingt gewollt ist: notwendig, wenn man spitze und Spitzenschule sein will, und zugleich auch eine große Gefahr. An der Staatlichen Ballettschule hießen der Preis für den Elitestatus und den Glamour auf der Opernbühne Kindeswohlgefährdung und mangelnde Mitbestimmung auf allen Ebenen. Die Eltern- wie auch die Lehrerschaft zerreißt das: ... Da sind die Eltern, die sagen, mein Kind hatte keine Probleme, was soll die Aufregung, und die um die Leistungsfokussierung an der Schule fürchten. Da sind Eltern wie Svea Hohensee, denen der Druck an der Ballettschule sehr schnell zu unheimlich wurde." Der neue Interimsleiter Dietrich Kruse soll jetzt erst einmal herausfinden, "was will diese Schule in Zukunft sein? Eher Kaderschmiede mit angeschlossener Schule - oder Schule mit angeschlossener Kaderschmiede? Was ist ihr Selbstverständnis?" Die Grünen-Abgeordnete Marianne Burkert-Eulitz scheint dem Konflikt lieber aus dem Weg gehen zu wollen, wenn sie meint "die Schule müsse sich womöglich 'breiter aufstellen', wegkommen von der Fokussierung auf die künstlerische Ausbildung".

Außerdem: Hinweise zum Netztheater Special der nachtkritik und der online-Spielplan.
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Literatur

Susanna Petrin hat sich für die NZZ mit dem ägyptischen Comicautor Magdy El-Shafee getroffen, der gerade an einem Comic über den Urabi-Aufstand im Jahr 1880 arbeitet. In der Jungle World erinnert Christian Bomm an die Schriftstellerin Helen Keller, die vor 140 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Charlotte Woods "Ein Wochenende" (Dlf Kultur), neue Westerncomics (taz), Marie-Hélène Lafons "Die Annonce" (Dlf Kultur), der von Peter Engel und Günther Emig herausgegebene Band "Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie 'alternativer' Autoren aus den 1970er Jahren und danach" (SZ) und Hari Kunzrus "Götter ohne Menschen" (FAZ).
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Stichwörter: 1970er

Design

Wer zuhause sitzt, sortiert irgendwann aus - etwa alte Wäsche, die dann in großen Mengen in den Altkleidercontainer wandert, wie Second-Hand-Vertreter seit März beobachten können, schreibt Brigitte Werneburg in der taz. Die Folge: Textilrecycling vor dem Kollaps, Preise im freien Fall. Nicht zuletzt zeigt sich in dieser Menge auch, "wie wenig nachhaltig der derzeitige Handel mit Secondhandkleidung und das Textilrecyling tatsächlich sind. ...  Der Anteil der Altkleider, die nur noch verbrannt werden können, hat sich nach Brancheninformationen zuletzt denn auch um fast ein Achtel erhöht. Würde statt aufs Label auf die Materialangaben geachtet, würde nach Naturstoffen geschaut und der ganze Polyesterkram verschmäht, wäre schon viel gewonnen."

Patrick Wagner stellt in der taz das Berliner Modelabel Manheimer vor, das zumindest dem Namen nach an die große mit dem Namen verbundene Modetradition Berlins Mitte des 19. Jahrhunderts anzuschließen versucht.
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Film

Die Oscar-Academy will diverser werden. Die Entscheidung, zu diesem Zweck auch Narges Abyar aufzunehmen, stößt indessen bei vielen auf: Die iranische Filmemacherin stehe dem Regime in Teheran zu nahe, heißt es. Zwar ist die Sache komplexer als es mancher Tweet erscheinen lässt, erklärt Andreas Busche im Tagesspiegel: "Abyar hat sich in der Öffentlichkeit nie als feurige Unterstützerin des iranischen Regimes zu erkennen gegeben; ihre jugendliche Protagonistin in 'Atem' weigert sich sogar, ein Kopftuch zu tragen. Aber Abyar gehört wie Saeed Roustayi (2019 in Venedig) zu einer neuen Generation von Filmschaffenden, die das Regime - anders als kritische Regisseure wie Jafar Panahi oder Rasoulof - nur zu gerne auch international fördert."

Weitere Artikel: In der Jungle World empfiehlt Esther Buss die Filmreihe "Black Light" im Berliner Kino Arsenal (mehr dazu bereits hier). Barbara Schweizerhof porträtiert im Freitag den Filmverleiher Torsten Frehse. Besprochen werden die Netflix-Serie "Warrior Nun" (FAZ), der auf Netflix gezeigte Anthologiefilm "Homemade" mit im Lockdown entstandenen Filmen (SZ) und Til Schweigers Film über Bastian Schweinsteiger (Freitag).
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Kunst

Melanie Bonajo, Night Soil  Fake Paradise, film still,  2014, courtesy the artist & AKINCI


Mit Mensch, Tier, Pflanze und Mineralen in einem großen Kompost aufgehen? Kann durchaus Spaß machen, entdeckt tazler Jan-Paul Koopmann in der Gruppenausstellung "Makin Kin" im Hamburger Kunsthaus, die sich mit dem Denken der amerikanischen Philosophin Donna Haraway auseinandersetzt: "Großformatige Videos von Melanie Bonajo erzählen etwa vom Mensch-Sein im kapitalistischen Jetzt, vom Wissen indigener Völker und von aktuellen Strategien, dieses heute nutzbar zu machen. In ihrer Serie 'Night Soil' wird etwa halluzinogener Ayahuasca-Sud verköstigt: hierzulande eine Modedroge zur Selbsterfahrung, wie LSD das früher mal versprochen (und in Einzelfällen wohl auch eingelöst) hat. Auch sonst weht hier mehr als nur ein Hauch vom Hippie-New-Age. Eine halbnackte Performerin lässt sich von einer Ziege Gräser vom Schlüpferband knabbern, andere kuscheln im Stroh mit Schweinen, die wie jeder weiß, sonst ein grässliches Leben als Zucht- und Fresstier zu führen gezwungen sind. Der emotionale Gehalt der Botschaft ist klar. Und wer könnte da auch widersprechen? Interessanter ist ihre Verpackung, denn da gibt es durchaus Brüche zu entdecken."

Eins der wiederentdeckten Fotos von Paraska Plytka-Horytswit


In der Welt stellt Julia Smirnova die 1927 als Tochter eines Schmieds geborene Fotografin Paraska Plytka-Horytswit vor, die - nachdem sie Jahre in einem sowjetischen Straflager verbracht hatte - 40 Jahre lang in einem abgelegenen Huzulendorf in der Westukraine lebte und fotografierte. Eine Eremitin war sie deshalb aber nicht, so Smirnova, sondern "eine neugierige Frau. Sie blieb ständig durch Briefe und andere Medien mit der Außenwelt in Verbindung. Und ihre Texte handelten vom Schrecken der Lager, doch zunehmend auch von Hoffnung und Dankbarkeit. Dieses spirituelle Staunen vor der Welt und dem Leben ist auch in ihren Fotos zu spüren. Es ist noch nicht lange  her, dass das Fotoarchiv von   Plytka-Horytswit von der ukrainischen Künstlerin Inha Levi und dem Filmregisseur Maxym Rudenko in ihrem Haus in Kryworiwnja wiederentdeckt wurde. Mithilfe von  Kollegen haben sie die Bilder sortiert und digitalisiert. Rudenko drehte danach den Film "Porträt vor Berghintergrund" über das Dorf und die Künstlerin. Ende  des vergangenen Jahres wurden ihre Werke in einer großen Ausstellung in Kiew gezeigt, die den Titel 'Gravitation überwinden' trug."

Weiteres: Der Louvre ist wieder geöffnet, meldet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel, wenn auch mit Einschränkungen. Besprochen wird die Ausstellung "Richard Neutra. Wohnhäuser für Kalifornien" im Wien Museum (FAZ).
Archiv: Kunst