Efeu - Die Kulturrundschau

Großer Blickverwischer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2020. Mehr künstlerische Freiheit statt Diversity-Checklisten bei der Filmförderung fordert der FilmDienst. Der Tagesspiegel stellt ein neues Geschäftsmodell vor: Journalisten und Filmbranche machen Wirtschaftskrimis. Die SZ fühlt sich ganz unbeschwert mit den Songs von Provinz. In der FAZ schildert der Schriftsteller Elias Khoury die verzweifelte Lage im Libanon. Der Standard untersucht aus aktuellem Anlass die ureigene Theater-Epik Peter Handkes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.07.2020 finden Sie hier

Film

Im FilmDienst plädiert Lars Henrik Gass dafür, die Filmförderung radikal umzubauen, statt amtliche Diversity-Checklisten aufzustellen und erinnert daran, dass das deutsche Kino "einmal Filme hervorgebracht [hat], die in hohem Maße 'divers' waren, als man das Prädikat noch gar nicht kannte und künstlerische Relevanz noch ein Maßstab und kein Verdachtsmoment war, etwa Filme von Rainer Werner Fassbinder, Elfi Mikesch, Ulrike Ottinger, Helke Sander, Werner Schroeter. Vielfalt war Ausdruck künstlerischer Freiheit, die im Filmfördersystem nicht erwünscht und kaum möglich ist. Filme wie 'Angst essen Seele auf' oder 'Palermo oder Wolfsburg' wären heute schlichtweg zu radikal. Gegenwärtig stellt sich Vielfalt in diesem System eher aus Versehen ein. ... Die Filme entstehen für ein System, das sich durch seine Anforderungen und Beschränkungen selbst als ästhetische Norm bedrückend 'alternativlos' gesetzt hat und erschreckend gleichförmige Ergebnisse hervorbringt. Risikobegrenzung lautet das Prinzip, das schon an Hochschulen eingebläut wird, bevor überhaupt ein einziger Gedanke aufkommen konnte, als Grundsatz eines Marktes, den es im deutschen Film seit Einführung der Filmförderung gar nicht mehr gibt."

Nico Hofmann will den "Wirecard-Skandal" als Dokudrama verfilmen, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel: "'Der Fall Wirecard liefert nicht nur die Vorlage zu einem einzigartigen Wirtschaftskrimi', findet der Filmproduzent Nico Hofmann, der ein untrügliches Quoten-Gespür für die wahren Dramen der deutschen Geschichte besitzt. 'Es gibt kaum eine Facette unseres wirtschaftlichen Zusammenlebens, das nicht berührt wäre.' Hofmanns Produktionsfirma UFA Fiction in Babelsberg hat angekündigt, den 'Wirecard-Skandal' als Dokudrama für das RTL-Streamingportal TVNow zu verfilmen, Regie führt Dokufiction-Routinier Raymond Ley ('Beate Uhse - eine deutsche Karriere'). Das Konzept basiert auf einer Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Georg Meck. Hofmann sieht in dem Schulterschluss zwischen Journalismus und Film ein vielversprechendes Geschäftsmodell, eine sechsteilige Serie soll als Nebenprodukt abspringen."

Weiteres: Die Presse empfiehlt sechs Filme mit den Stars der Salzburger Festspiele zum Streamen. Epd Filmdienst wirft einen Blick in wiedereröffnete Lieblingskinos. Besprochen werden Helena Wittmanns Stimmungsfilm "Drift" (Presse), die TV-Serie "Wild Bill" mit Rob Lowe als Chief Constable (Tsp)
Archiv: Film

Musik

Für Provinz, die Band aus dem oberschwäbischen Vogt, siehts gerade schlecht aus. Anfang des Jahres schwamm die Band noch auf Erfolgskurs, dann kam Corona und alle Konzerte mussten abgesagt werden. Dabei zeichnet die Band, die jetzt immerhin ihr erstes Album veröffentlicht, etwas in diesen Tagen seltenes aus, meint Benedikt Scherm in der SZ: Unbeschwertheit. "Der Wechsel zwischen Hyper-Emotionen zieht sich durch die Musik von Provinz. Es wird gefühlt, und das richtig. Halbe Sachen gibt's hier nicht. ... Wahrscheinlich fühlt man so nur, wenn man jung ist und die Gefühle neu und unverbraucht. Und so fühlt man wohl auch eher, wenn man frei von den großen, existenziellen Sorgen aufgewachsen ist".

Da hören wir mal rein:



Weiteres: Frederik Hanssen unterhält sich für den Tagesspiegel mit Gabriele Minz, Leiterin des Young Euro Classic Festivals, das ab morgen trotz Coronakrise stattfindet: auf dem Berliner Gendarmenmarkt, statt im Konzerthaus.

Besprochen werden Denai Moores Album "Modern Dread" (taz), Alanis Morissettes Comeback-CD "Such Pretty Forks in the Road" (FR, Zeit online), Augustin Hadelichs CD "Bohemian Tales" mit Dvořáks Violinkonzert op. 53, Janáčeks Violinsonate und Josef Suks Vier Stücke op. 17 (in der SZ ist Harald Eggebrecht ganz und gar hingerissen) und Jessy Lanza entsagt auf "All The Time" (Tsp).
Archiv: Musik

Kunst

Besprochen werden die Ausstellung "Peter Paul Rubens und der Barock im Norden" im Erzbischöflichen Diözesanmuseum in Paderborn (SZ), die Ausstellung "Astrid Klein. Dass vollkommene Liebe die Angst austreibe" in der Münchner Pinakothek der Moderne (FAZ) und ein Buch über "Duchamp und die Frauen" (monopol).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Monopole, Rubens, Peter Paul

Literatur

Die regierende Klasse hat im Libanon alles Geld gestohlen, jetzt könnte sie gehen, tut es aber nicht. Statt dessen geht die Mittelklasse, erklärt im Interview mit der FAZ der Schriftsteller Elias Khoury, der eine Auswanderungswelle syrischen Ausmaßes befürchtet. Auch für die Kultur sieht es schlecht aus. "Aber heißt das, die Kultur stirbt? Natürlich nicht. Wie macht man also weiter? Ich erinnere mich noch, wie wir 1992 nach dem Krieg das Theater gründeten. Wir waren alle Freiwillige. Es war alles ganz bescheiden, und ich denke, dorthin müssen wir zurück. Es sei denn, die Lage eskaliert und es gibt eine militärische Auseinandersetzung, einen Staatsstreich, was auch möglich ist. Dann enden wir wie unsere arabischen Brüder."

Außerdem: Die Zeit reicht Alexander Cammanns Bericht über die Grabenkämpfe im Literaturarchiv Marbach online nach. in der FAZ berichtet Jürg Altwegg über die Veröffentlichung der Tagebücher Philippe Murays, in dem der 2006 verstorbene Kultautor offenbar recht salzige Einblicke in das Pariser Literaturleben um 2000 gibt.

Besprochen werden Maggie Nelsons "Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses" (NZZ), Thomas Kapielskis "Kotmörtel. Roman eines Schwadronörs" (NZZ), Willi Achtens Roman "Die wir lebten" (Tsp), Thorsten Nagelschmidts Berlin-Roman "Arbeit" (Berliner Zeitung), Ilija Trojanows Roman "Doppelte Spur" (Standard) und Robert Seethalers Roman "Der letzte Satz" (Zeit).
Archiv: Literatur

Bühne

Am 2. August feiert Peter Handkes "Zdenek Adamec" unter Regie von Friederike Heller Uraufführung bei den Salzburger Festspielen. Im Standard nimmt Margarete Affenzeller die Aufführung zum Anlass, sich der "ureigenen" Theaterepik dieses "Anti-Harold-Pinter", der postdramatisches Theater avant la lettre machte, zu nähern: "In diesem Spiel ist dem Publikum immer ein Platz eingeräumt. (...) Wobei die Tätigkeit des Zuschauers das Zuschauen selbst bleibt, aber eben in einer dem Text eingeschriebenen Weise. Die Illusion des Vorspielens ist durchbrochen - und bei diesen Koordinaten ist Handke eigentlich geblieben. Das Betrachten wird hinterfragt: Ein Nachdenken setzt über das Erkennen ein, das aber sogleich wieder (von einer anderen Figur, die ebenfalls Augen und eine Meinung hat) torpediert wird. Was sehen wir da?, heißt es oft. Handke ist ein großer Blickverwischer, ein Advokat der Unschärfe, an der wir zu knabbern haben. Oft in einem hellen Tonfall, selbst bei finstersten Ereignissen (siehe Zdeněk Adamec). Es ist immer ein nachfragender, sich sorgender und doch im Grunde heiterer Sound, der Handke auszeichnet. Ursprünglich rührt er von den Beatles her und auch den Rolling Stones, die den Popliteraten der 60er inspiriert und geprägt haben."

Eine der Treppen von Leopold Jessner und Emil Pirchan, hier für eine Inszenierung von Shakespeares "Richard III." mit Fritz Kortner in der Hauptrolle. Foto: Theaterwissenschaftliche Sammlung, Uni Köln


Brecht, Bayreuth und Frauen hinterm Regiepult fehlen in der Ausstellung "Regietheater" im Deutschen Theatermuseum München, quittiert Sybill Mahlke im Tagesspiegel schmallippig. Ansonsten lernt sie hier aber alles, was Regie darf - und was nicht: "Ausgeschlossen ist hemmungslose Aktualisierung." Außerdem erfährt sie: "Der 1968er Generation, vertreten durch Peter Zadek, Claus Peymann und Peter Stein, wird gern die Initialzündung für das Regietheater auf den deutschsprachigen Bühnen zugeschrieben. Ein Theaterskandal aus dem Jahr 1919 indes hat sich in die Kulturgeschichte Berlins eingebrannt: Leopold Jessner stellt als seine erste Inszenierung am Preußischen Staatstheater seinen 'Wilhelm Tell' mit Fritz Kortner in der Rolle des Gessler vor. Das Stück spielt nicht vor der erwarteten Alpenkulisse, sondern auf der berühmten 'Jessnerschen Treppe'. Tumulte im Zuschauerraum eskalieren, Polizeieinsatz wird nötig, um die Fortsetzung der Aufführung zu garantieren. Am Ende bricht Jubel aus."
 
Weiteres: Im Welt-Gespräch mit Manuel Brug erklärt Günther Groissböck, der dieses Jahr eigentlich den Wotan in der "Walküre" in Bayreuth gegeben hätte, warum hohe Gagen im Opernbetrieb keineswegs falsch sind: "Die angeblich hohe Gage, die ist nur das, was man als Spitzensänger nach enorm hohen Vorleistungen bekommt. Und zwar nicht nur in der Ausbildung, sondern immer, mit teuren Aufenthalten in hochpreisigen Städten, Rollenstudium, bezahlten Korrepetitoren. Und dann dauert die Spitzenphase einer Karriere selten länger als 20 bis 25 Jahre, dann muss auch die Rente 'ersungen' sein." In der FAZ bespricht Simon Strauss mit Jakob Hayners "Warum Theater" und Florian Malzachers "Gesellschaftsspiele" zwei Bücher, die sich mit dem politischen Anspruch des Theaters auseinandersetzen und fragen, "wie viel Spiel wir noch sehen wollen und wie viel Aktivismus wir brauchen? Welche geheime Verbindung der Markt mit der Moral eingeht, wenn Spielpläne entstehen und beliebte Regiehandschriften gebucht werden" - worauf sie sehr gegensätzliche Antworten geben. Im Standard porträtiert Helmut Ploebst den aus Benin stammenden Choreografen und Vodoo-Meister Koffi Koko, der beim Impulstanz-Festival Tanz-Workshops unterrichten wird. Im NZZ-Gespräch mit Daniele Muscionico erklärt Barbara Mundel, erste Intendantin der Münchner Kammerspiele, wie sie die "Frauenfrage" thematisieren will. Besprochen wird Sapir Hellers Inszenierung von Laura Naumanns "Das hässliche Universum" am Münchner Volkstheater (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

In der FAZ sendet Matthias Alexander dem Architekten Stephan Braunfels, der unter anderem die Pinakothek der Moderne oder das Löbehaus im Berliner Spreebogen entwarf, giftige Glückwünsche zum Siebzigsten: "Er streitet seither regelmäßig mit Staatsbauämtern wegen der Verantwortung für Baumängel, er geht juristisch immer wieder gegen Wettbewerbsausschreibungen der öffentlichen Hand vor, auch weil er sich als geborenen Teilnehmer jedes wichtigen Auswahlverfahrens für Kulturbauten sieht, etwa für ein Konzerthaus in München und zuletzt für den Umbau der Komischen Oper in Berlin. Häufig veröffentlicht er ungefragt eigene Vorschläge, so für Hochhäuser am Checkpoint Charlie und für das Kulturforum in Berlin, gern auch, nachdem die Entscheidung für Entwürfe anderer, aus seiner Sicht minder begabter Architekten längst gefallen ist, beispielsweise für die Ostfassade des Berliner Stadtschlosses."
Archiv: Architektur