Efeu - Die Kulturrundschau

Dazu die erotische Aufladung der Aktion

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25.11.2020. Zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen fordert die Fotografin Donna Ferrato eine bessere Ausbildung für Polizisten. FR und NZZ erinnern an den japanischen Schriftsteller Yukio Misihima, der sich in einem reaktionären Todesrausch vor fünfzig Jahren das Leben nahm. Ron Howards "Hillbilly Elegy" entlockt dem Tagesspiegel nicht mal ein wohliges Gruseln.  Die FAZ bemerkt mit Entsetzen, wie aufregend die maßgeschneiderten Playlists von Spotify sind. Und die NZZ stellt fest: Die großen Volumen in der Alpen-Architektur sind passé.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Donna Ferrato: Minneapolis 1987. Karens Lebensgefährte wird von einem Polizisten abgeführt. Ihre Tochter, hatte die Polizei gerufen, als sie ihre Mutter auf dem Badezimmerboden fand. Karen erstattete keine Anzeige.


Die UN haben den 25. November Zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen erklärt. Im Guardian spricht Guy Lane mit der amerikanischen Fotografin Donna Ferrato, die sich seit vierzig Jahren für Frauenrechte einsetzt und ihre Bilder auch der UN zur Verfügung stellt: "Es macht einem Angst: Wenn die Polizei kommt, weiß man nie, wie sie sich verhalten wird. Die meisten Frauen wollen ja nicht, dass ihr Mann zu Tode kommt, sie wollen nur, dass er aufhört, ihnen weh zu tun. Aber wenn die Polizei kommt, geht die Gewalt oft erst richtig los. In diesem Land können die Leute der Polizei wenig trauen. Schlimme Dinge passieren. Wir müssen die Polizei besser ausbilden, so dass sie wissen, wie sie Männer aus der Situation herausbekommen."


Weiteres: Über die Einladungen zur Documenta, die gerade an zahlreiche KünstlerInnen verschickt wurden, sollten sich die EmpfängerInnen besser nicht freuen: Es sind Fälschungen, wie ZeitOnline noch etwas trocken meldet. Auf Hyperallergic empfiehlt Rea Mcnamara nachdrücklich Hito Steyerls Podcast "Nachts im Museum", der über die Schließung ihrer Ausstellung "We will survive" im Düsseldorfer K21 hinwegtrösten muss. Allerdings läuft morgen schon die letzte Folge. In der SZ berichtet Catrin Lorch, dass die 42.000 Akten der "Vermögensverwertungsstelle" der Brandenburger Finanzbehörden jetzt der Provenienzforschung zugänglich gemacht werden sollen.
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Literatur

Vor fünfzig Jahren nahm sich der japanische Schriftsteller Yukio Misihima in einem öffentlichen Akt als Abschluss eines gescheiterten nationalistischen Putschversuches das Leben. "Mishimas Neugier kannte keine Moral", schwärmt Fabian Thunemann in der NZZ: "Sie schuf einen vielseitigen Extremisten, bei dem Leben und Werk zum Gesamtkunstwerk verschmolzen." Dialektischer geht Arno Widmann in der FR vor: 1970, da war er selber noch bei den 68ern und Maoisten dabei. "Mishimas Fanal hätte ich wegschieben können als reaktionären Todesrausch", doch dieser Autor "interessierte mich. Es war seine Konsequenz, seine Kompromisslosigkeit, die einen wichtigen Nerv traf in mir", denn "Mishima half mir abzurücken von der Idee, Konsequenz für eine Tugend zu halten. ... Dazu die erotische Aufladung der Aktion, indem er seinen Freund ihn töten lässt. Das stellte die 68er-Vorstellung von der Erotisierung der Politik ebenso sehr in Frage wie die Idee der Politisierung des Ästhetischen. Mishimas Aktion war ein Menetekel. Es diente als Abwehrzauber gegen die allerverrücktesten Vorstellungen, die die radikale Linke damals hegte."  

Weitere Artikel: Tagesspiegel und Berliner Zeitung melden, dass die Schriftstellerin Kirsten Boie den Preis des Vereins der Deutschen Sprache ablehnt, da deren Bundesvorsitzende Walter Krämer sich angeblich rechtspopulistisch äußere. Sabine Kebr erinnert im Freitag an die Debatten, die Elfriede Brünings Roman "Regine Haberkorn" 1955 nach sich gezogen hat. SZ-Kritiker Gustav Seibt liest in Gabriele Radeckes und Robert Rauhs Buch "Fontanes Kriegsgefangenschaft", wie Theodor Fontane in Frankreich in Gefangenschaft geriet und dem Tod entkam. In den "Actionszenen der Weltliteratur" schreibt Gisela Trahms  über das turbulente Leben von George Sand. Autor Hans Hütt berichtet in der SZ davon, wie ihm das Coronavirus redenschwingend im Schlaf erschien.

Besprochen werden unter anderem Anke Stellings Erzählband "Grundlagenforschung" (taz), der von Ilka Piepgras herausgegebene Band "Schreibtisch mit Aussicht" mit Texten von Schriftstellerinnen über ihre Arbeit (Tagesspiegel), der Band "Dichtungen und Briefe" aus der Werkausgabe Georg Trakl (Standard), Leila Aboulelas "Minarett" (NZZ), Jiro Taniguchis Manga "Benkei in New York" (Tagesspiegel), Christian Hallers "Flussabwärts gegen den Strom" (NZZ), Patricia Highsmiths Erzählband "Ladies" mit frühen Geschichten (SZ) und Anne Carsons Lyrikband "Irdischer Dunst" (FAZ).
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Architektur

Streng Low-Tech: Das Landwirtschaftliche Zentrum in Salez Foto: Andy Senn Architect

Drei Bauten wurden mit dem alpenweiten Architekturpreis "Contructive Alps" ausgezeichnet: Andy Senns Landwirtschaftliches Zentrum in Salez, Vorarlberger Holzbaukunst und das restaurierte Ortstockhaus in Braunwald. In der NZZ erkennt Sabine von Fischer in den prämierten Low-Tech-Bauten einen grundsätzlichen Wandel in der alpinen Architektur: "Während vor hundert Jahren noch die mächtige Präsenz großer Volumen den Widerstreit der Kräfte von Natur und Kultur in Szene setzte, wird nun das Miteinander, sogar das Ineinandergreifen von Bauwerk und Landschaft betont."
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Film

Glenn Close in "Hillybilly Elegy" (Lacey Terrell/Netflix)

Ron Howard hat für Netflix mit "Hillbilly Elegy" J.D. Vance' gleichnamigen Sachbuch-Bestseller von 2016 über den Rust-Belt, das us-amerikanische Hinterland, als Spielfilm adaptiert. Vor der Kamera mit dabei sind Amy Adams und Glenn Close. Das liberale Hollywood reagiert beim Blick in diese ihm so ferne Welten vor allem verstört, schreibt FR-Kritiker Daniel Kothenschulte: "Die Hillbillies in diesem Film sehen aus, als seien sie den Fotos von Diane Arbus entsprungen und anschließend in grelle Farben getaucht worden. Ebenso wie Vances Buchvorlage dürfte auch Howards Film dem liberalen und aufgeklärten Teil des Landes damit ein wohliges Gruseln bereiten." Sehenswert sei der Film dennoch: "Howard beseitigte offensichtlich einige der schlimmsten populistischen Vereinfachungen" des Buches. Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche hingegen winkt bloß ab: "Neue Einsichten liefert der Film nicht, er fällt sogar noch hinter die Vorlage zurück. Der Autor Vance ist wenigstens ein eloquenter Beobachter, auch wenn ihm die analytische Schärfe fehlt. Dem Regisseur Howard mangelt es an beidem." Weitere Kritiken auf ZeitOnline und in der Berliner Zeitung.

Weitere Artikel: Für den Freitag spricht Thomas Abeltshauser mit Alan Ball über dessen auf Amazon gezeigtes, in den 70ern spielendes Coming-Out-Drama "Uncle Frank". Nilz Bokelberg schreibt auf ZeitOnline einen Nachruf auf Karl Dall.

Besprochen werden Adam Egypt Mortimers Horrorfilm "Der Killer in mir" (Berliner Zeitung) und die Serie "Yellowstone" (FAZ).
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Bühne

Nach zwei Jahren im Amt wird dem Obehausener Theaterintendanten Florian Fiedler der Vertrag nicht verlängert. Das anvisierte hippe und migrantische Publikum wollte nicht kommen. In der Nachtkritik sieht Max Florian Kühlem darin nicht nur einen Konflikt zwischen kosmopolitischer Kulturblase und Stadttheater: "Dass Fiedler die Zeit, die solche Veränderungsprozesse brauchen, nicht bekommen hat, hat allerdings nicht nur mit schlechter Kommunikation, Nagellack und einem fehlendem Anzug zu tun, sondern auch mit den an Stadttheatern üblichen, zu knapp bemessenen Zeiträumen für eine Theater-Intendanz."

Weiteres: Im Standard erzählt der Satiriker Alfred Dorfer, warum er jetzt für das Theater an der Wien Mozarts "Figaro" inszeniert und wie er überhaupt zum Musiktheater kam ("Ich bin eine Klassik-Graugans").
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Musik

Auch Rasmus Peters hat mittlerweile bemerkt, dass Spotify auf Grundlage des eigenen Hörverhaltens maßgeschneiderte Playlists anbietet, die erstaunlich gut funktionieren und einen mitunter richtig interessante Entdeckungen machen lassen. In der FAZ äußert Peters sein blankes Entsetzen darüber: Wo bleibt da noch der Diskurs, wo die Auffassung von Musikkonsum als "sozial verhandelbarem Ideal"? Er sieht hier "eine Hörigkeit, die mehr dem technischen Fortschritt und einer Mode gilt als der Musik. Die personalisierte Playlist kultiviert die Trennung des Hörers von der Musik als Ganzem. Alles ist erlaubt, solange es Gefallen erzeugt und damit effektiv einen Nutzen hat. Musik muss nicht mehr aktiv gehört, sondern kann passiv konsumiert werden." Sicher ganz im Gegensatz zu früher, als man keineswegs passiv am Radiogerät saß, wenn John Peele lief.

Weitere Artikel: Für die SZ hat sich Cathrin Kahlweit mit dem Perkussionisten Martin Grubinger getroffen, der neben seiner künstlerischen Tätigkeit noch mit einer wöchentlichen Kolumne in der österreichischen Krone den politischen Diskurs im Nachbarland aufwirbelt. In der NMZ porträtiert Ssirus W. Pakzad den Saxophonisten Matthieu Bordenave. In einer FAZ-Notiz verneigt sich der Komponist Helmut Lachenmann tief vor Beethoven, der für manches Publikum viel zu gut sei: "Eine überwältigende, heitere und ernste Größe und Tiefe dieser Musik verdient es nicht, tauben Politikern in der Hamburger Elbphilharmonie zum unverdaulichen Fraß vorgeworfen zu werden, wo diese doch nur gelangweilt auf den 'Song of Joy' warten."

Besprochen werden neue Alben von Adrianne Lenker (FR, mehr dazu bereits hier) und Beabadoobee (taz), weitere neue Popveröffentlichungen, darunter Billie Joe Armstrongs "No Fun Mondays" (SZ), und das neue Album von Bob Vylan, für deren an Punk und Grime orientierte, sehr zornige Musik sich Berthold Selíger in der Jungle World erheblich begeistern kann: "Mehr als nur eins in die Fresse des Establishments, hier geht es ums Ganze, Bob Vylan stehen für nicht weniger als den Umsturz." Das geht in der Tat sehr beeindruckend nach vorne:

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