Efeu - Die Kulturrundschau

Das Beben zwischen den Silben

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04.12.2020. Die Berliner Zeitung lässt sich in die inneren Gärten und warmen Wellen der Outsiderkünstlerin Sonja Halbfass ziehen. Die taz sieht die Sonne aufgehen in einer Ausstellung mit feministischen Arbeiten aus den letzten sechzig Jahren. In der SZ sagt Terezia Mora nein, danke zu Tageslichtlampen. Der Freitag sucht einen Ausweg aus den Echokammern von Spotify. Und: die große Schauspielerin Jutta Lampe ist gestorben. In der FAZ erinnert Gerhard Stadelmaier an eine Unvergessliche.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.12.2020 finden Sie hier

Bühne

Die Schauspielerin Jutta Lampe, Mitbegründerin von Peter Steins Schaubühne, ist gestorben. In der FAZ erinnert sich Gerhard Stadelmaier an unvergessliche Szenen. Wie sie mit Otto Sander eine Zigarette rauchte in Tschechows "Drei Schwestern" zum Beispiel: "Das Unvergessliche der Szene lag darin, dass das Offensichtliche das Verborgene war. Nicht nur, was die Zigarette in den schmalgliedrigen Fingern der Lampe, sondern was den Ton, das Beben zwischen den Silben, das Brüchige im konversationellen Oberflächenreflief anging. Jede Hebung eines Vokals, jede Senkung vor einem Punkt, jedes Schweben eines Kommas - worüber junge Gegenwartsschauspielerinnen schreiend, rasend und hohnplappernd wegjökeln und -poltern, das wurde bei Jutta Lampe zu einem Nuancenwunder. An Sprachmusik."

Weitere Nachrufe von Lothar Müller in der SZ, Barbara Villiger Heilig in der nachtkritik, Simon Strauß im faz.net, Peter Iden in der FR, Peter von Becker im Tagesspiegel, Ronald Pohl im Standard und Kai Luehrs-Kaiser in der Welt.

Die Schaubühne streamt ab heute abend 18 Uhr drei Inszenierungen mit Jutta Lampe: "Der Park" von Botho Strauß, Marivaux' "Triumph der Liebe" und Tschechows "Drei Schwestern"

Im Van Magazin erklärt die Schauspielerin Jana Zöll, warum eine Behinderung weder in der Schule noch im Beruf als Sonderfall behandelt werden sollte: "Bei inklusiver Bildung geht es nicht in erster Linie um das erlernte Allgemeinwissen. Der viel wichtigere Punkt ist die Sozialisierung. Man erschließt sich eine gemeinsame Welt mit all ihren Möglichkeiten, lernt miteinander umzugehen und im besten Falle auch, dass es für jede:n diverse Möglichkeiten gibt. Ich bin überzeugt davon, dass ich, wenn ich auf eine Förderschule in einer Sonderwelt gegangen wäre, keine Schauspielausbildung gemacht hätte. Wenn es dort gut gelaufen wäre, säße ich heute irgendwo in einem Büro, aller Wahrscheinlichkeit nach aber in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, weil das für Menschen mit Behinderung in unserem System so vorgesehen ist. Was die Kunst- und Kulturinstitutionen da machen können? Öffnet eure Frühförderungsangebote inklusiv: die Spielclubs, die Musikschulen, die Jugendtheater, die Kinderkonzerte."

Besprochen werden Albert Ostermaiers "Superspreader" am Münchner Resi (SZ) und Verdis "Falstaff" im hauseigenen TV der Bayerischen Staatsoper (SZ).
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Kunst

Sonja Halbfass, Tanzende Schlangen, 2006


Vor "so rätselhaften wie magischen Bildern" steht eine staunende Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) in der Berliner Galerie für Outsiderkunst, Art Cru, die Gemälde der schizophrenen Künstlerin Sonja Halbfass zeigt: "Die Titel muten surreal und zugleich seltsam poetisch an: 'Innerer Garten', 'Tanzende Schlangen', 'Blauer Frieden', 'Warme Welle'. Darin schwingt Sehnsucht mit, sich mitzuteilen. Die Farbkompositionen pulsieren, wimmeln, schweben, schwimmen. Sie fügen sich mal zu skizzenhaft figurativen, dann wieder zu pastosen abstrakten Szenen. Stilistisch verschränkt sich alles, was von der Kunstwissenschaft als Impression und Expression, als Op-Art, Pop-Art oder Comic eingeordnet wird. Doch es flieht aus den jeweiligen Schubladen, wird zur psychedelischen Mischung. Zu Kunst, die von akademischer, wissenschaftlicher Einordnung nichts weiß. Es ist eine Bildsprache, die sich alle Freiheiten nimmt, weil sie zutiefst subjektiv ist und Authentizität darstellt. Bilder einer Inselbegabung, die in ihrer eigenen Welt sämtliche Gemengelagen erlebt, deren Chaos sie zum Glück mit Stift und Pinsel zu einer ganz eigenen Ordnung bändigen kann."

Barbara Klemm, Postarbeiterinnen, Frankfurt a.M. 1969. © Barbara Klemm 


Johanna Schmeller (taz) nimmt eine Schau im Münchner Lenbachhaus mit feministischen Arbeiten aus dem Sammlungsbestand von 1958 bis heute zum Anlass, um über Geschlechterbilder in den letzten sechzig Jahren nachzudenken: "Beschwörend blickt ein ruhiges Porträt mit neutralem Gesichtsausdruck ins Leere. Verhalten und poetisch ist die titelgebende Arbeit dieser Ausstellung: 'Die Sonne um Mitternacht schauen', ein Werkzyklus aus großformatigen HD-Filmprojektionen der Fotografin Katharina Sieverding. Ein goldenes, übergroßes Frauengesicht steht im Zentrum der Installation, verschmilzt mit Bildern einer wissenschaftlichen Auswertungen der Sonnenaktivität, entnommen aus Open-Source-Daten des Nasa-Unternehmens SDO. Das Anliegen der Künstlerin schwingt im Titel mit: Durch die Erdrotation ist die Sonne um Mitternacht nicht zu sehen - doch die Sonnenaktivität ist allgegenwärtig und Zentrum allen Lebens."

Besprochen wird eine Ausstellung mit Arbeiten der kanadischen Künstlerinnen Nadia Belerique, Jeneen Frei Njootli und Kathy Slade, die der Kunstverein Braunschweig wegen des Lockdowns online vorstellt (taz).
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Literatur

In der SZ-Coronareihe ärgert sich die Schriftstellerin Terézia Mora über angeblich ja so entspannende Tageslicht-Lampen, die bei ihr allerdings zu gehöriger Gereiztheit führen. "Sehe ich dieses künstliche Sonnenlicht, erfasst mein ganzes Wesen ein Zittern, gespeist von der Überzeugung, dass etwas nicht in Ordnung ist, dieses Licht dürfte es so nicht geben; dass es dieses Licht gibt, ist ein Zeichen dafür, dass etwas aus den Fugen geraten ist, das nicht mit Gewalt geradegerückt werden kann. ... Ohnehin hat sich seit einer Weile die sogenannte punktuelle Beleuchtung durchgesetzt - Mensch kommt zu Licht, nicht Licht kommt zu Mensch -, man muss sehen, wie man sich platziert, am besten hat man noch eine beleuchtete Lupe dabei. Gottlob sitze ich viel vor Bildschirmen, die von innen her leuchten. Mithilfe eines von diesen schreibe ich diesen Text bei 192-prozentiger Vergrößerung mit Punktgröße 14."

Weiteres: Samuel Hamen denkt im ZeitOnline-Essay anhand neuer Veröffentlichungen von Roman Ehrlich und Sabine Schönfellner über Climate Fiction nach. Viel Hoffnung zieht er aus den Texten allerdings nicht: "Die Katastrophe war, ist und wird sein." Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Lyriker Miguel Algarin. Außerdem hat die FAZ gemeinsam mit dem deutschen Übersetzerfonds und dem Institut Français einen Übersetzungswettbewerb aus dem Französischen ausgerufen.

Besprochen werden unter anderem Carl Laszlos bereits in den 50ern erstveröffenlichten, jetzt wiederveröffentlichen Auschwitz-Erinnerungen "Ferien am Waldsee" (SZ), Michel Houellebecqs Essayband "Ein bisschen schlechter" (NZZ, Berliner Zeitung), Réjean Ducharmes "Von Verschlungenen verschlungen" (Tell), Davide Reviatis Comic "Dreimal Spucken" (Intellectures), Johannes Herwigs Roman "Scherbenhelden" über Leipziger Punks zur Wendezeit (Tagesspiegel), der von Michel Mettler und Reto Sorg herausgegebene Erzählungsband "Dunkelkammern - Geschichten vom Entstehen und Verschwinden" (Freitag) und Monika Rincks Frankfurter Poetikvorlesung (FAZ).
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Film

Diese Meldung schlägt in den USA gerade ein wie eine Bombe: Warner kündigt an, sein beträchtliches Blockbuster-Portfolio fürs Jahr 2021 neben der Kinoauswertung komplett auch parallel im konzerneigenen Streamindienst HBO Max auszuwerten. Die Regelung gelte zwar vorerst nur für ein Jahr und beschränke sich lediglich auf jene Territorien, in denen HBO Max verfügbar ist. Dennoch: Das Zeitfenster als Privileg für die Kinos ist damit de facto abgeschafft - in Nach-Epidemie-Zeiten dürfte es wohl schwierig werden, hinter dieses Modell wieder zurückzufinden.

Ein Kinobetreiber, den das gar nicht so sehr anfechten dürfte, ist der Münchner Thomas Kuchenreuther, der in den Kampf vieler Kinobetreiber gegen Netflix und Co. gar nicht erst eingestiegen ist, Stattdessen hat er die Filme der Streamer einfach für sein Haus gebucht. Für Artechock hat Dunja Bialas mit ihm über die momentane Lage gesprochen: Durch Corona sind die filmförderbedingten Zeitfenster-Regelungen "hinfällig und nicht mehr praktikabel. Es hat sich selbst überholt! Das ist ein Gesetz von 1967! ... Gegen die großen Veränderungen kann sich das Kino gar nicht wehren. Es muss andere Möglichkeiten für sein Programm ausschöpfen." So heißt es im Filmfördergesetz etwa: "der Film soll gefördert werden durch die Abgaben, die die Kinos in die Filmförderung einzahlen. Wir zahlen drei Prozent von jedem Ticketverkauf an die Filmförderungsanstalt (FFA). Dieses Geld gibt es dieses Jahr nicht. Somit ist der ganzen Filmfinanzierungsgrundlage der FFA der Boden entzogen. Es ist schade, dass noch nicht bewusst ist, dass wir das Kino ganz neu gestalten müssen. Wir stehen praktisch an einem Neuanfang, wenn die Kinos wieder öffnen. Die alten Gesetze gelten nicht mehr."

Weitere Artikel: Amira Ben Saoud schreibt im Standard über den Schauspieler Elliot Page, der seinen früheren Namen "Ellen" abgelegt hat. Jens Balkenborg porträtiert für Artechock die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Monika Gossmann, die aktuell in David Finchers "Mank" zu sehen ist. Auf critic.de empfiehlt Patrick Kokoszynski drei auf Youtube abrufbare Filme von Janusz Majewski. André Malberg schreibt im Perlentaucher einen Nachruf auf die italienische Schauspielerin Daria Nicolodi, "einer der würdevollsten Personen des Kinos".

Besprochen werden Werner Schroeters "Der Bomberpilot" von 1970, den das Filmmuseum München noch bis diesen Sonntag frei zugänglich in seiner Online-Retrospektive zeigt (Perlentaucher), David Finchers ab heute auf Netflix gezeigtes Biopic "Mank" über den Hollywood-Drehbuchautoren Herman J. Mankiewicz (FR, Zeit, mehr dazu bereits hier), Ron Howards "Hillbilly Elegy" (Perlentaucher, NZZ), die japanische Netflix-Serie "Midnight Diner: Tokyo Stories" (Freitag) und Sammo Hungs derzeit auf Netflix abrufbarer Hongkong-Thriller "The Bodyguard" (critic.de).
Archiv: Film

Musik

Wer ein bisschen auf Tantiemen verzichtet, kann sich auf Spotify künftig auf einen der begehrten Plätze auf den offiziellen Playlists des Streamingkonzerns einkaufen. Die Echokammer des eigenen Geschmacks dichte sich damit noch weiter ab, fürchtet Konstantin Nowotny im Freitag: "Für viele bedeutet das: ein bisschen von nichts. Laut Berechnungen verdienen Künstler in Deutschland pro Stream aktuell durchschnittlich 0,28 Cent. Eine Million Streams entspräche also 2.800 Euro brutto. Bereits erfolgreiche Künstler dürften keine Probleme damit haben, auf ein paar Prozente zu verzichten. ... Kleinere Künstler, wie etwa die großartige Stella Sommer, die im vergangenen Monat ihr zweites Solo-Album 'Northern Dancer' veröffentlichte, dürfen für ihre Leidenschaft marktkonform verarmen oder eben ungehört bleiben. Die Hörer kriegen von dem Marktgerangel nichts mit." Nun könnte man aber auch sagen: Wer eh schon nichts an seiner Musik verdient, für den kommt es auf ein paar Cents auch nicht an. Außerdem empfehlen wir Nowotny, sich mal in der Spotify-Welt der User-Playlists umzusehen. Dort gibt es en masse algorithmenfreie Empfehlungen von wahren Streaming-Diggern - zum Beispiel hier wird man reich fündig.

Außerdem: In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Komponisten Paul-Heinz Dittrich zum 90. Geburtstag. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Cornelius Dieckmann über Elvis Costellos "Shipbuilding".



Besprochen werden "Stabil Labil", das Debütalbum der Schnipo-Schranke-Nachfolgerin Ducks on Drugs ("alles ist sehr poppig und tanzbar", verspricht Kevin Goonewardena in der taz, auf Youtube gibt es das Release-Konzert), Nick Caves Live-Album "Idiot Prayer" (taz) und Skyway Mans Weltall-Country-Gospel-Platte "The World Only Ends When You Die", für Standard-Kritiker Christian Schachinger "ein Album des Jahres". Wir hören rein:

Archiv: Musik