Efeu - Die Kulturrundschau

Sound ist Ankündigung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2021. Die taz wandert virenabwehrend verpackt durch die Gewerke des Wiener Volkstheaters. Und lässt sich von Mouse on Mars in das utopische Potenzial künstlicher Intelligenz einweihen. Das Zeit Magazin stellt uns einen neuen Modetrend vor: Virtuelle Kleidung. Der Filmdienst analysiert das System Kosslick und seine Auswirkungen auf die deutsche Filmproduktion. Bei Domus erklärt Thomas Demand, was ihn am Modell als Kulturtechnik interessiert. Die Literaturkritiker trauern um Philippe Jaccottet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2021 finden Sie hier

Musik

Das ist doch mal eine Abwechslung: Mit "AAI" haben die Klangtüftler von Mouse on Mars ein Konzeptalbum über das ausnahmsweise mal utopische Potenzial von künstlicher Intelligenz aufgenommen. Tazler Julian Weber ist davon nicht nur sehr begeistert, sondern hat auch gleich mit den Musikern gesprochen, die "sehr kurzweilige Grundlagenforschung mit Beats und elektronischen Sounds betreiben; mal rufen sie die experimentelle Ingenieursphase von Krautrock auf, oft klingen sie einfach unverwechselbar nach dem digitalen Hardcore-Research von Mouse On Mars, ohne jemals zu selbstreferenziell zu werden. 'Sound ist Ankündigung und er kommt mit der Vibration', sagt St. Werner. 'Auch wenn der Zug noch weit weg ist, weißt Du einfach, wie viele Waggons dranhängen, weil du weißt, wie du die Schiene lesen musst.' Nimm das, Alexander Kluge." Wir legen unser Ohr gerne aufs Gleis:



Nick Cave bleibt in der Coronakrise produktiv: Schon wieder gibt es Neues von ihm, diesmal war er wieder zusammen mit Warren Ellis an den Instrumenten. Erneut mischen sich "Traumszenen, Erinnerungen, surreale und biblische Bilder zu einer funkelnden Phantasmagorie der Gegenwart", schwärmt Thomas Bärnthaler in der SZ. Cave "ist weiterhin in Hochform. Die Krise wirkt da eher befeuernd. Weiter, immer weiter geht die Reise des bald 64-Jährigen, auch wenn alle zu Hause bleiben müssen. Zur Not auch vom Balkon aus. Dort tanzt er wie Fred Astaire zur Morgensonne, ruft er uns in 'Balcony Man' zu, dem letzten Song des Albums. 'Du bist träge und lieblich und faul / Und was dich nicht umbringt, macht dich nur noch verrückter." Wer wollte ihm da widersprechen?" Weitere Besprechungen auf ZeitOnline und bei The Quietus. Und mit einem zum Fred Astaire gewandelten Nick Cave tanzt man doch gerne auf dem Balkon:



Besprochen werden R. J. Cutlers auf AppleTV+ gezeigter Porträtfilm über Billie Eilish (Tagesspiegel, ZeitOnline, Standard), der vierte Teil aus Stereolabs "Switched On"-Reihe (The Quietus), neue Musik von Carwyn Ellis (taz), Alfred Brendels und Peter Gülkes Band "Die Kunst des Interpretierens" mit Gesprächen über Beethoven und Schubert (FR) und die von René Jacobs digirierte Neuaufnahme von Beethovens "Missa solemnis" (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Victor Sattler über Jorja Smiths "Blue Lights":

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Kunst

Angela Maderna unterhält sich für Domus mit dem Fotografen Thomas Demand über dessen Ausstellung "House of Cards", die sich mit der Idee des Modells beschäftigt. "Ich beschäftige mich schon sehr lange mit diesem Thema. Es gibt verschiedene Kategorien von Modellen wie Kindermodelle, Architektenmodelle, die Modelle des Souvenirshops, die man kaufen kann usw. ... Man findet überall Modelle, also habe ich erkannt, dass Modelle eigentlich eine Kulturtechnik sind und der Grund, warum sie etwas gemeinsam haben, ist, dass man einen Filter haben muss, weil die Realität so komplex ist. Das Gedächtnis ist ein guter Filter, weil es die wichtigsten Dinge behält, Modelle sind Filter, weil sie die Informationen auf den Brennpunkt reduzieren. Sonst wäre die Welt zu komplex. Heute haben wir nur noch Spezialisten, also sind die Modelle eine Art von Kommunikation auf einer Metaebene zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Unsere Art, die Welt zu verstehen, basiert zu einem großen Teil auf Modellen. Und deshalb glaube ich, dass in der Modellierung viel mehr steckt, als die Leute denken."

Weiteres: Paul Ingendaay trifft für die FAZ das Berliner Künstlerpaar Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich in der Kreuzberger Galerie Guardini und unterhält sich mit ihnen über ihr Buch "Torstraße 111" im besonderen und die Situation der Künstler im allgemeinen. Besprochen werden Zeichnungen von Peter Eingartner für die - vielleicht nie zustande kommende - Ausstellung "Autos im Stadtbild als Stillleben" (SZ).
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Stichwörter: Demand, Thomas, Stillleben

Design



Eigentlich ist VStitcher nur ein digitales Tool um textilsparend Modeentwürfe auszuprobieren - aber kombiniert mit dem digitalen Schaulaufen in der Coronakrise könnte es glatt ein neues Zeitalter ausrufen, meint Benedikt Herber im ZeitMagazin: die tatsächliche Virtualisierung der Mode, bei der am Ende auch die Kleidungsstücke, die man kauft, nicht mehr am Körper, sondern rein digital getragen werden. Das Label The Fabricant geht diesen Weg bereits und stellt einen Großteil seiner Entwürfe gratis ins Netz, ein Kleid wurde aber auch schon für 9500 Dollar verkauft und ziert nun auf einem Foto die Frau des Käufers. "The Fabricant geht es vor allem um den Umweltgedanken. Hat physische Kleidung doch so viele offensichtliche Nachteile: die Wasserverschwendung bei der Produktion, der Chemikalieneinsatz, der Transport um die ganze Welt, das Müllproblem. Gerade für Designer sind die neuen Möglichkeiten der Computeranimation interessant: War Mode bisher immer an die natürlichen Grenzen einer unvollkommenen Welt gebunden, kann Digital Fashion diese Fesseln nun sprengen."
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Bühne

Black Box Wiener Volkstheater. Foto: Nikolaus Ostermann / Volkstheater


Uwe Mattheiß wandert für die taz mit viel Abstand, "weißen Handschuhen, FFP2-Maske, einem Headset mit frisch gewaschenen Stoffüberzügen an den Ohren" durch Stefan Kaegis "Black Box". Das ist eine Tour per Audioguide durch die Gewerke des renovierten Wiener Volkstheaters. "Es gilt, eben unter Zeitdruck, viele Sinneseindrücke parallel zu verarbeiten. Mal blinkt ein Licht, in der Kostümwerkstatt rattern die Nähmaschinen und ein Ventilator lässt ein Seidentüchlein wehen." Das ergibt charmante Momente, schreibt Mattheiß in der taz, aber ihm fehlt die soziale Dimension, die einer Aufführung überhaupt erst politische Bedeutung gebe. "Stefan Kaegi macht das Theater kurzerhand zum Museum seiner selbst. Das kratzt ein wenig an den Legitimationsdefiziten, die es im Licht einer postmodernen Repräsentationskritik ohnehin plagen. Das Kerngeschäft der Schauspielerei steht mittlerweile unter Ideologieverdacht. Eine Ästhetik des Performativen sucht Abhilfe im Authentischen. Im Modus der Authentizität aber ist das Theater nur eine Fabrik, die momentan besichtigt wird."

Weiteres: In der FAZ berichtet Rüdiger Soldt über Ärger am Staatstheater Karlsruhe, wo Intendant Peter Spuhler jetzt gehen soll: "Ein süffisant formulierender Beobachter sagt, dass Spuhler dem Haus über Jahre eine 'künstlerisch erfolgreiche identitätspolitische Oberfläche' verschafft habe. Das 'Treiben eines bösen alten weißen Mannes' auf dem Kommandostand des Theaters habe er damit aber nur notdürftig kaschieren können." Ab heute 15 Uhr streamt die nachtkritik übers Wochenende Kindertheater, nämlich Gregory Caers' Inszenierung "Pythonparfum oder Pralinen aus Pirgendwo". Und die nmz gibt Streamingtipps für die nächsten sieben Tage.
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Film

Dieter Kosslick hat - erst als Funktionär in der Filmförderung, dann als Leiter der Berlinale - die hiesige Filmkultur wie kein zweiter geprägt, schreibt Lars Henrik Gass im Filmdienst nach Lektüre von Kosslicks Anekdotenschatz "Immer auf dem Teppich bleiben". Nur positiv meint Gass das alles nicht: "Eine autonome kulturelle Filmförderung gibt es nirgendwo mehr in Deutschland, seitdem das System Kosslick zum Maßstab wurde. ... Die deutsche Filmbranche, angefixt durch immense Zuwüchse an Filmfördermitteln, die zu immer mehr Filmen führt, die immer weniger Leute sehen wollen, reklamierte Zugriff auf 'ihr' Festival. Den hat sie bekommen, ebenso wie auf den Deutschen Filmpreis durch eine Filmakademie, in der seitdem Mehrheitsgeschmack statt fachlichem Verstand über Qualität entscheidet. Auf einmal liefen drittklassige Filme mit Beteiligung der deutschen Filmförderung bei der Eröffnung und im Wettbewerb der Berlinale. Dieser Gefälligkeitsdienst hat dem Festival und dem deutschen Film mehr geschadet als geholfen, was in diesem Land kaum einer bemerkt, weil Filmförderung hier bessere Filme gar nicht ermöglichen will."

Die alten "Muppet's"-Folgen werden bei Disney+ künftig vorab mit einer kurzen Einblendung versehen, dass die darin gezeigten Klischees und Stereotype falsch gewesen seien und sind. Zensur? Cancel Culture? Bevormundung? Spaßbremse? Peter Praschl hält das in der Welt eigentlich sogar für ziemlich erfrischend: Was wurde man von Hollywood und Co. im Leben nicht schon mit falschen Klischees belastet und in die Irre geführt? "Es ist eine Erleichterung, wenn sich Bewusstseinskonzerne dafür einmal entschuldigen. In Zeiten, in denen man noch nicht jede Gelegenheit zur Empörung wahrnahm, nannte man das noch: Verantwortung übernehmen."

Außerdem: Bert Rebhandl empfiehlt im Standard die Online-Retrospektive Margareta Heinrich des Filmarchivs Austria.

Besprochen werden Sébastien Lifshitz' auf Amazon gezeigter Film "Adolescentes" sowie Kamal Aljafaris "An Unusual Sommer" und Phillip Warnells "Intimate_Distances", die bei der Woche der Kritik laufen (Perlentaucher), eine Netflix-Doku über Pelé (FR, NZZ), die Netflix-Serie "Tribes of Europa" (NZZ), Mike Cahills "Bliss" (Tagesspiegel) und die Satire "I Care a Lot" mit Rosamund Pike (SZ).
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Literatur

Der Lyriker, Essayist und Übersetzer Philippe Jaccottet ist im Alter von 95 Jahren gestorben. "Der poetische Ausdruckswille, jene aus einer inneren Gestimmtheit nach außen drängende Kraft der Formsuche, ging ihm vollkommen ab", schreibt Joseph Hanimann in der SZ: "Eher ließ er sich von der Welt um ihn herum einstimmen. ... Das dichterische Subjekt war bei Jaccottet vor allem ein feiner Resonanzkörper, der das Flimmern ferner Berggipfel, den Schein verwaschener Steine und zertretener Blumen am Wegrand, den Klang fremder Texte, das Rätsel eigener Gedanken, die Botschaft unbekannter oder vertrauter Gesichter aufnahm und weitergab."

"Er war der letzte ganz Große einer Gruppe von Großen", schreibt Niklas Bender in der FAZ und meint damit "die Nachkriegsgeneration der französischsprachigen Lyrik, die sich durch bescheidene Sachlichkeit und ironische Emotionalität auszeichnet. Kritische Auseinandersetzung mit dem Absoluten, Hinwendung zu Alltäglich-Elementarem und ein neugieriges Tasten der Dichtung in Richtung Prosa, Tagebuch, Essay oder Kunst-Reflexion - so die bescheidene Grundhaltung, in der Lyrik, Philosophie, Malerei und Lebenswelt verschränkt sind."

Dass die von Nicole Seifert auf 54books angestoßene Debatte über Misogynie in der Literaturkritik (unser Resümee) nicht so recht in Gang kommen will, liegt wohl auch daran, meint Gerrit Bartels im Tagesspiegel, dass die von ihr gewählten Beispiele eher fern liegen oder in die Argumentation gebogen wurden: "Takis Würger, Literaturkritiker? Denis Scheck wiederum ist wahrlich kein ausgewiesener Feminist. Und Edo Reents über Hermann? Das war 2014. Zumal es damals ebenfalls ältere weiße heterosexuelle Kritiker gegeben hat, die den Reents-Verriss reichlich seltsam fanden. Ähnlich der von Seifert beklagte Umgang mit Karen Köhler: Deren Roman 'Miroloi' kam 2019 bei der Kritik nicht gut weg, wurde aber auch von männlichen Kritikern durchaus differenziert verrissen."

Weitere Artikel: Titus Arnu erinnert in der SZ an die 1939 spurlos verschwundene Schriftstellerin Barbara Newhall Follett. Susanne Hösel denkt für 54books über die Geburt in Literatur und Film nach.

Besprochen werden Sharon Dodua Otoos "Adas Raum" (Standard), Anatol Regniers "Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus" (online nachgereicht von der FAZ), eine Neuausgabe von Mary Shelleys "Der letzte Mensch" (online nachgereicht von der FAZ), Alexander Osangs "Fast hell" (Zeit), Ursula Krechels Lyrikband "Beileibe und zumute" (FR) und Yishai Sarids "Nie wieder" (SZ).
Archiv: Literatur