Efeu - Die Kulturrundschau

Komplexität und Möglichkeitssinn

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2021. SZ und Dezeen gratulieren dem Architektenduo Lacaton & Vassal zum Pritzker-Preis: Die beiden zeigen, dass günstiges Wohnen nicht hässlich sein muss. Raum schafft Möglichkeiten, erklären die beiden in Le Monde. In der Welt erkundet Regisseur Ersan Mondtag den Grenzbereich von Energie-Entladung und Übergriff. Die FAZ lernt von Fred Stein, dass gute Fotografen zuhören können. Und die Washington Post trauert um Yaphet Kotto, den knorrigsten Schurken des amerikanischen Kinos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.03.2021 finden Sie hier

Architektur

Das Quartier du Grand Parc in Bordeaux erneuerten Lacaton & Vassal durch Wintergärten. Bild: Lacaton & Vassal

Der Pritzker-Preis geht in diesem Jahr an das französische Architekten-Duo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, die bewiesen haben, dass gute Architektur nicht teuer sein muss. In der SZ gratuliert Gerhard Matzig sehr herzlich, der es skandalös findet, dass Wohnungen in Deutschland nicht nur immer kleiner und teuer, sondern auch immer hässlicher und dysfunktionaler werden: "Die Bauten von Lacatan & Vassal sehen oft verblüffend simpel aus. Sie sind aber tatsächlich reich an Komplexität und Möglichkeitssinn. Letztlich sind die Bauten, die seit 1984 entstanden sind, das genaue Gegenteil von Design. Nämlich Raumkunst. Also Architektur als solche."

Im Interview mit Le Monde erklären sie: "Bei jedem Projekt versuchen wir, mehr Raum zu schaffen, mehr als vom Programm verlangt wird, ohne die ökonomischen Vorgaben zu verlassen. Mehr Raum bedeutet nicht nur mehr Qualität. Das erlaubt auch ihn unterschiedlich zu gestalten, dunkler, heller, niedriger, höher, offener nach außen. Wenn wir Möglichkeiten schaffen, Räume mit den Jahreszeiten zu verbinden, mit Atmosphären, dann wird die Architektur angenehmer."

Ein Markenzeichen des Duos sind seine Wintergärten, erklärt Tom Ravencroft auf Dezeen, aber auch ihr Ethos der Transformation: "'Transformation birgt die Möglichkeit, mehr und Besseres aus dem zu machen, was bereits da ist', sagt Lacaton: 'Abriss ist die Entscheidung für die schnelle und einfache Lösung. Es ist Verschwendung - von Energie, von Material, von Geschichte. Vor allem hat es negative soziale Folgen. Unserer Ansicht nach ist es ein Akt der Gewalt.'" Mehr zu Lacaton & Vassal hier.

Weiteres: Ulf Meyer betrachtet in der FAZ das neue Museum von Kengo Kuma für den Meiji-Schrein in Tokio.
Archiv: Architektur

Kunst

Arthur Koestler korrigiert die Druckfahnen seines Buches "Ein spanisches Testament" Paris, 1937 © Stanfordville, NY, Fred Stein Archive

Berührt betrachtet Andreas Kilb in der FAZ die Bilder des Fotografen Fred Stein, der 1933 im Pariser Exil auf die Größen der deutschen Emigration traf. Das Deutsche Historische Museum widmet dem lange vergessenen Stein eine Ausstellung: "In der Rückschau trat Steins nüchterne Meisterschaft hinter die Kunstfotografie seiner Zeitgenossen zurück. Auch heute noch muss man zweimal hinschauen, um zu erkennen, wie genau seine Aufnahmen komponiert sind. Wenn er Arthur Koestler beim Korrigieren von Druckfahnen oder Bertolt Brecht im träumerischen Halbprofil zeigt, sind das keine Schnappschüsse, sondern Folgen intensiver Beobachtung. Stein konnte zuhören, das haben viele der von ihm Porträtierten bestätigt

In der SZ erinnert Kia Vahaland an die Bilder von Bergamo, die Europa vor einem Jahr in Schock versetzten: "Krankenschwestern hatten Journalisten von ihrer Verzweiflung berichtet, Priester läuteten die Todesglocken nicht mehr, weil der Klang sonst den ganzen Tag angehalten hätte. All das hatten Zeitungen geschrieben, Nachrichtensprecher verlesen. Europa glaubte und verstand das Ausmaß der Katastrophe erst, als das Bild der Militärlaster von Bergamo in allen Medien zu sehen war."

Besprochen werden eine Retrospektive des "Kapitalistischen Realisten" KP Brehmer im Istanbuler Kunstmuseum Arter (taz), eine Schau von Emailreklameschilder im Grassimuseum in Leipzig (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Der Rücktritt von Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr markiert für den Tagesspiegel einen Paradigmenwechsel in Sachen #MeToo: "Laissez-faire bei Führungspositionen ist keine Option mehr." In der taz erinnert Katrin Bettina Müller seufzend an all die Stücke, die an der Volksbühne männliches Dominanzgebaren zerlegten. Regisseur Ersan Mondtag spricht in einem sehr offenen Gespräch mit Manuel Brug in der Welt über Machtmissbrauch, Energieströme und Grenzverletzungen, die das Theater bestimmen: "Man war der große Zampano, so haben diese Alten es uns vorgemacht. Nach Herrenmanier. Ich kannte Theater nicht anders. Ich fand manches grenzwertig, aber keiner hat es infrage gestellt. Es ging ja immer um Kunst. Mit allen Temperamentsentladungen. Natürlich war das manchmal Tyrannei. Ich habe natürlich nicht in die Menschen hineinschauen können. Ich habe das aber durchaus als produktiv wahrgenommen. Alle hatten dabei ein Ziel. Ich nehme mir auch die Freiheit, auf einer Probe laut zu werden, ohne persönlich jemanden gezielt anzugehen. Manchmal muss sich Energie entladen, oder sie muss kanalisiert werden. Aber Übergriffiges habe ich nie wahrgenommen, später nur von anderen gehört. Und ich habe schnell gesehen, da gibt es einen Graubereich, vor allem wenn man Intendant ist, wenn man Verträge macht. Da wird es sensibel."

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung von Sergei Prokofjews Oper "Der feurige Engel" (deren Atmosphäre quälender Aussichtslosigkeit Standard-Kritiker Ljubisa Tosic zufolge bis zum Schluss ihre Intensität behält), Riccardo Zandonais Liebestragödie "Francesca da Rimini" im Steeam der deutschen Oper Berlin (SZ) und die Tanzstücke auf dem arte-Kanal "Concert" (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Besprochen werden unter anderem Christian Krachts "Eurotrash" (FR), eine CD von Wolfgang Borcherts Heimkehrer-Hörspiel "Draußen vor der Tür" aus dem Jahr 1947 (Freitag), John Clares Gedichtband "A Language That Is Ever Green" (NZZ), Dieter Henrichs "Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiografie" (Tagesspiegel), Wolfgang Kohlhaases "Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen" (SZ) und Florian Havemanns "Speedy" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Der Schauspieler Yaphet Kotto ist tot. Er war auf Bösewichter und knorrig-schwere Kerle spezialisiert, schreibt Harrison Smith in der Washington Post: "Er selber sagte mal, dass er 'das Gegenteil' von Sidney Poitier war, der mit würdevollen und zurückhaltenden Rollen einer von Hollywoods ersten schwarzen Stars wurde. Kotto hingegen spielte Rollen, in denen schwarze Figure Spionen nachstellen, Bankräuber jagten, ins Weltall flogen und sich mit ihren weißen Gegenspielern direkt anlegten. 'Mein Agent sagte mal: Wir wissen nicht, wie wir Dich verkaufen sollen. In deinem letzten Film hast Du einen weißen Mann in einen Drescher geschmissen. Die Leute halten dich für fies', erinnerte er sich in einer Rede, die er 1976 vor einer Organisationen schwarzer Journalistinnen hielt. 'Aber die Schwarzen sehen meine Filme und sagen' - und da pausierte er, um das Publikum den Satz beenden zu lassen - 'right on!'" Mit der auf Recherchen von David Simon basierenden Copserie "Homicide" - einer Art Vorläufer von "The Wire" - gelang Kotto in den Neunzigern ein künstlerisches Comeback:



Zumindest virtuell konnte FR-Kritiker Daniel Kothenschulte das im September eröffnende Filmmuseum in Augenschein nehmen, das sich die Filmindustrie in Los Angeles gönnt. Zusammen mit den aktuellen Oscarnominierungen zeigt sich ihm dabei, dass "die wichtigste filmkulturelle Institution der USA derzeit die radikalste Transformation in ihrer Geschichte erlebt": Diversität und Geschlechtergleichstellung sind die Stichworte, aber auch die Aufarbeitung von Momenten, in denen sich die Traumfabrik nicht mit Ruhm bekleckert hat. "Griffith mochte mit seinem Bürgerkriegsepos 'Die Geburt einer Nation' die moderne Filmmontage etabliert und den Blockbuster begründet haben - doch sein Werk lieferte auch den Anlass zur Neugründung des Ku-Klux-Klan. Das Museum stellt sich dieser Debatte, indem es den lange vergessenen Gegenentwurf des afroamerikanischen Filmemachers Oscar Micheaux, den Stummfilm 'Within Our Gates' von 1920, in seine Dauerausstellung aufnimmt. ... Noch nie hat man sich am Ort der vermeintlichen Traumfabrik auch den Albträumen ihrer Geschichte so offen gestellt." Die Library of Congress hat den Film online gestellt:



Weitere Artikel: Till Kadritzke erinnert in der taz an die harten Polizeifilme, die das Kino der frühen 70er heimsuchten. Tobias Sedlmaier (NZZ), Fritz Göttler (SZ) und Maria Wiesner (FAZ) gratulieren dem Schauspieler Kurt Russell zum 70. Geburtstag. Besprochen wird Can Ulkays auf Netflix gezeigter Film "Das Leben ist wie ein Stück Papier" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Jakob Biazza spricht für die SZ mit dem Bühnenveranstalter Nicolai Sabottka, der üblicherweise die ganz großen Pyro-Shows für Rammstein und Kiss abfeuert und nun sein zweites Jahr in Folge ohne Einnahmen hinnehmen muss. Die teuer angeschaffte Technik setzt Moos an, seine Angestellten gehen derweil vor die Hunde: "In so einem Team werden natürlich auch Menschen aufgefangen, die in einem 'normalen' Bürojob nicht funktionieren würden." Der Job "bedeutet auch, dass du womöglich drei Jahre beinahe am Stück unterwegs bist. ... Und daraus bildet sich natürlich eine unheimlich eingeschworene Gemeinschaft - mit dem einen, unumstößlichen Ziel: Am Abend gibt es immer eine Show! Egal was passiert. ... Und so sind die Leute eben auch drauf. Die kannst du nur schwer zum Regaleinräumen hinstellen. Ein Rock'n'Roll-Truckfahrer, der jetzt Amazon-Pakete ausliefert, geht zugrunde."

Weitere Artikel: Für The Quietus widmet sich Fergal Kinney ausführlich dem Stereolab-Album "Emperor Tomato Ketchup", das vor 25 Jahren erschienen ist.

Besprochen werden die Compilation "J Jazz Volume 3: Deep Modern Jazz From Japan" (Pitchfork), Smerz' Album "Believer" (taz), das Debütalbum von Sad Night Dynamite (Standard) und neue Popveröffentlichungen, darunter der zweite Teil der von Mathias Modica zusammengestellten Compilation "Kraut Jazz Futurism" - ein orgiastisches "Fest des Grooves" mit "psychedelischen Keyboards" hört SZ-Popkolumnistin Juliane Liebert hier. Wir hören rein:

Archiv: Musik