Efeu - Die Kulturrundschau

Zu wenig happy Himmel

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14.05.2021. Darf Shermin Langhoff als Intendantin des Maxim Gorki Theaters bleiben, weil sie eine Frau ist, fragt die Welt und denkt über ein "generisches Patriarchat" nach. Joseph Beuys war kein Rassist, kein Antisemit und auch kein Genie, meint Philipp Ursprung im Standard-Gespräch. Am Wiener Volkstheater scheitert Jonathan Meese derweil daran, den "Kunst-" vom "Polit-Beuys" zu trennen, erkennt die nachtkritik. Zu viel Sex, Promiskuität und Transgender, befand der Ständige Rat der Bischofskonferenz offenbar und entschied deshalb, dieses Jahr keinen Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis zu vergeben, glaubt die SZ. Die Welt trauert um die Filmemacherin und Riefenstahl-Biografin Nina Gladitz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2021 finden Sie hier

Bühne

Bereits im Dezember waren die Vorwürfe gegen Shermin Langhoff bekannt (Unsere Resümees), dennoch wurde ihr Vertrag als Intendantin des Maxim Gorki Theaters von Klaus Lederer um sechs Jahre verlängert. Darf Langhoff im Gegensatz zu ihren geschassten männlichen Intendanten-Kollegen weitermachen, weil sie eine Frau ist, fragt sich Jan Küveler in der Welt: "Wenn alle Welt gegen das Patriarchat kämpft, passt es nicht ins revolutionäre Programm, wenn plötzlich eine Frau schuld sein soll. Die vielen Verdienste Langhoffs konterkarieren das Bild zudem. Vielleicht ist es dennoch an der Zeit anzuerkennen, dass das Patriarchat keine ausschließlich männliche Veranstaltung ist, sondern bestenfalls eine Chiffre für eine Form des Machtmissbrauchs, die mit Männlichkeit ungefähr auf die gleiche Weise assoziiert ist wie in der Grammatik das generische Maskulinum. Also höchstens durch stereotype Identifikation, aber nicht durch wesentliche Identität. 'Patriarchalisch' wäre demnach keine geschlechtliche, sondern eine geschlechtslose Funktion von Macht. Man täte gut daran, in Zukunft vom 'generischen Patriarchat' zu sprechen, das Frauen, die das Gestaltungspotenzial ihrer Führungspositionen missbrauchen, ausdrücklich mitmeint."

Bild: Szene aus "1000 Jahre Boys". Foto: Nikolaus Ostermann

Eine "einmalige Sause" feierte Standard-Kritikerin Margarte Affenzeller zumindest online am Wiener Volkstheater, wo Jonathan Meese für das Stück "1000 Jahre Boys" seine Mutter kurzerhand im Pelzmantel als Beuys verkleidete, um den 100. Geburtstag des Künstlerkollegen zu begehen: "Jonathan Meese hat jede Menge Manifeste mitgebracht. Doch zuvor geht es dem Guru und Jüngersammler Beuys noch an den Kragen. Denn es sei ja Hochverrat an der Kunst, sie mit Religion oder Politik in Berührung zu bringen, wie der Parteimitbegründer Beuys es tat. Sowieso sei Pippi Langstrumpf die wahre Beuys, weil sie sich - im Unterschied zu ihm - niemals angepasst habe." Nachtkritikerin Theresa Luise Gindlstrasser vergeht der Spaß jedoch, wenn  Meese den "'Kunst-Beuys' vom 'Polit-Beuys' befreien" will, indem er "die Kunst als Diktatur denken will. Dann heißt es etwa: 'Die überkultivierte, demokratische Gesellschaft ist degeneriert. Demokratie ist die Lehre des Mittelmaßes.' Damit's auch wirklich niemand verpasst, gibt's noch den obligatorischen Hitlergruß in einer obszön nahen Naheaufnahme. Nämlich so nah, dass es fast schon ein Kommentar war. Nur bleibt unklar, was für einer."

Außerdem: Das Modellprojekt am Kieler Theater - Coronatest am Eingang und genügend Abstand zwischen den Sitzplätzen - ist ein Erfolg, meldet Till Briegleb in der SZ. In der NZZ gratuliert Thomas Schacher dem Internationalen Opernstudio der Oper Zürich zum sechzigjährigen Bestehen.

Besprochen werden Niklas Ritters Inszenierung von Arthur Millers "Alle meine Söhne" am Landestheater Bregenz (nachtkritik, Standard), Lorenzo Fioronis Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus "Hippolyte et Aricie" am Nationaltheater Mannheim und Immo Karamans Inszenierung von Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" an der Staatsoper Hannover (FR) und Christopher Rüpings Inszenierung von Jean-Luc Lagarce' "Einfach das Ende der Welt" aus dem Zürcher Schauspielhaus, das den Auftakt des diesjährigen Theatertreffens macht und von Nachtkritiker Christian Rakow als "eindrückliches, eigenständiges Onlinekunsterlebnis" gewürdigt wird.
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Literatur

Dieses Jahr wird es keinen Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis geben, berichtet Kathleen Hildebrand in der SZ. Der Grund: Der Ständige Rat der Bischofskonferenz hat der Entscheidung der "unabhängigen" Jury, Elisabeth Steinkellners von Anna Gusellas illustriertem "Papierklavier" den Preis zu übergeben, einen Riegel vorgeschoben. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren, aber nicht auszuschließen sei wohl, dass eine jugendliche Transgender-Figur der Stein des Anstoßes ist. Daneben geht es um "die Promiskuität einer 16-Jährigen, die von Dreiern und Vierern erzählt und damit keine Schulnoten meint. Die Mutter von Hauptfigur Maia, die alleinerziehend ist und drei Töchter von drei verschiedenen Männern hat. Eine tote Ersatzoma, deren Leben nach dem Tod vielleicht nur darin besteht, von Tieren und Bakterien zersetzt zu werden. ... War das dem einen oder anderen Bischof zu viel? Zu viel Sex, zu wenig Kernfamilie und happy Himmel, zu viele Witze über kirchliche Formeln? Vielleicht. Andererseits: Das Herz dieses Buchs schlägt ganz eindeutig für Werte wie Zusammenhalt, Freundschaft, Empathie."

Weitere Artikel: Für die SZ hat Karin Janker Kae Tempests Auftritt beim Lyrikfestival "Barcelona Poesía" verfolgt. Nadja Kutscher geht in der taz dem Gender Bias maschineller Übersetzungen auf den Grund. Marc Reichwein erinnert in den "Actionszenen der Welliteratur" über einen Napoleonweitz von Curzio Malaparte. Jane Austen stehe derzeit unter Beobachtung, was ihre Einstellung etwa zum Sklavenhandel betrifft, berichtet Christine Brinck in der NZZ. In der Dante-Reihe der FAZ schreibt Jan Brachmann über klagende Kraniche.

Besprochen werden unter anderem ein Band mit den Gedichten der Lyrikerin Ana Luísa Amaral (ZeitOnline), Guillermo Martinez' Krimi "Der langsame Tod der Luciana B." (FR), William Boyds "Trio" (SZ) und Pierre Noras in Frankreich erschienener Memoit "Jeunesse" (FAZ).
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Kunst

"Beuys war kein Genie - es gibt keine Genies", sagt der Biograf Philipp Ursprung (aktuelles Buch: "Joseph Beuys. Kunst Kapital Revolution") im Standard-Gespräch mit Katharina Rustler, in dem er auch auf die Beuys vorgeworfene Nähe zur "esoterischen Rassenkunde" in der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners eingeht: "Es ist nötig, zu differenzieren. Es gibt bei Steiner Begriffe, die mit rassistischen, völkischen und kolonialistischen Ideologien seiner Zeit zusammenhängen. Aber man kann nicht sagen, dass er ein Rassist oder ein Antisemit war. Meine Interpretation ist, dass sich Beuys aus der Esoterik herausgriff, was ihm passte, und es in sein eigenes Weltbild montierte. Bei Beuys kann ich keine völkische, also rassistische und antisemitische Haltung finden."

Auch im großen monopol-Gespräch mit Elke Buhr diskutieren Philipp Ursprung, die Kuratorin Catherine Nichols und die Kunsthistorikerin Susanne Titz über den "Demokratisierer" Beuys, seine Vergangenheit und Aktualität. Auf die Frage, weshalb Kunst heute nicht mehr die gleiche Wirkung auf Politik ausübt wie zu Beuys' Zeiten, antwortet Ursprung: "In den 1970ern war kurzfristig nicht so klar, wo die Macht liegt. Heute ist es selbstverständlicher Teil der künstlerischen Praxis geworden, konkret zu intervenieren, zumindest bei einem Teil der künstlerischen Praktiken. Die soziale Skulptur geschieht. Aber zugleich scheint die Kunst ein Stück weit zahnlos geworden zu sein."

Ihre Krebserkrankung und das Leben mit einem Urostomiebeutel dokumentierte die britische Künstlerin Tracey Emin in schonungslosen Selbstporträts, der Guardian zeigt eine Auswahl. In einem sehr persönlichen Interview spricht Jonathan Jones außerdem mit Emin über Krankheit, Kunst und Tod: "Sie hat im Krankenhaus fotografiert und Aufzeichnungen gemacht, nicht um Kunst über ihren Krebs zu machen, sagt sie, sondern weil es das sei, was sie immer tue, ihre Erfahrungen zu dokumentieren. Sie erlaubt dem Guardian, einige dieser außergewöhnlichen Bilder zu veröffentlichen, die zu ihren fesselndsten, beunruhigendsten und unvergesslichsten Arbeiten zählen. Im vergangenen Jahr musste sie auch die Grenze zwischen ihrer Kunst und ihrem Leben juristisch festlegen. 'Als ich dachte, ich könnte sterben, mussten wir mein ganzes Testament durchgehen und alles ganz schnell neu machen. Wir mussten uns Klarheit darüber verschaffen, was Kunst ist und was nicht - denn können Sie sich vorstellen, dass Leute Sachen von mir zusammenstellen und sagen, es sei Kunst und das war es definitiv nicht!'"

Besprochen wird die Ausstellung "Pop Punk Politik" in der Münchner Monacensia im Hildebrandhaus (FAZ).
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Design

Hermann August Weizenegger in der Ausstellung © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum / David von Becker

"Es passt zu unserer absurden Zeit, dass man eine der außergewöhnlichsten Ausstellung in Berlin derzeit nicht anschauen kann", schreibt Renata Stih in der taz, und legt uns dennoch "Atmoism - gestaltete Atmosphären" über Hermann August Weizenegger im Kunstgewerbemuseum am Kulturforum ans Herz. Hier biete sich "ein überwältigender Eindruck.", denn Weizenegger bezieht sich in dieser Ausstellung auch explizit auf die räumlichen Gegebenheiten des Hauses und deren Sammlung: "In dieses Universum der kostbaren Dinge bringt Weizenegger eine völlig neue Dimension von Design, die sich stark mit Wiederverwertung von Material und der Umwidmung von Dingen auseinandersetzt. Er interveniert gezielt in Sammlung und Architektur, initiiert über Gegenstände Dialoge und geht virulenten Fragen von Nutzen, Sinn und Unsinn von Design nach, alles sehr genau formuliert und doch wunderbar spielerisch."
Archiv: Design

Film

Eine traurige Nachricht: Die Filmemacherin und Filmhistorikerin Nina Gladitz ist gestorben. Ihr Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" von 1982 über die Komparsen, die für einen Riefenstahl-Film aus dem Konzentrationslager geholt wurden, zog seinerzeit einen langjährigen Prozess mit der NS-Filmemacherin nach sich, in dem sich der produzierende WDR, der den Film bis heute unter Verschluss hält, wenig solidarisch mit Gladitz zeigte. Die Abarbeitung an Riefenstahl wurde für Gladitz zur Lebensaufgabe - erst im vergangenen Jahr erschien ihr Lebenswerk in Buchform, ihre Recherche "Leni Riefenstahl - Karriere einer Täterin", für die sie ihre ganze Existenz aufs Spiel setzte. Von dem, was sie darin aufdeckt, findet sich "kein Wort in den Bergen von Riefenstahl-Literatur", schreibt Hanns-Georg Rodek in seinem großen Nachruf in der Welt. "Es schien, als habe keiner der zahllosen Biografen tiefer nachgeforscht und sich weitgehend auf die von Riefenstahl gestrickten Legenden verlassen. Das machte sie diesen Historikern auch zum Vorwurf, und die straften sie mit Nichtbeachtung. Riefenstahl war ein früher Fall von Lügen, die zur Wahrheit zu werden drohen, wenn man sie nur lange genug wiederholt."

Weitere Artikel: Insbesondere für die bayerischen und ganz besonders für die Münchner Kinos ist es ein Schlag ins Gesicht, dass Joseph Vilsmaiers letzter Film, die Komödie "Der Boandlkramer und die ewige Liebe" (hier die SZ-Besprchung), nun doch nicht in die Kinos kommt, sondern bei Amazon landet, berichtet Dunja Bialas auf Artechock. Spiegelbildlich dazu passend denkt Brandon Katz für den Observer darüber nach, was es bedeuten mag, dass Netflix Zack Snyders neuen Film "Army of the Dead" zumindest in den USA tatsächlich auf breiter Ebene (wenn auch nur sehr kurz) in die Kinos bringen wird. Anne Küper resümiert für die Artechock die Kurzfilmtage Oberhausen. Heike Makatsch klagt in der SZ über die coronabedingt ziemlich sterile Arbeitsatmosphäre an Filmsets: Früher war hier gut plaudern, tratschen, feiern und flirten - heute "ist zwischen den Takes bleierne Stille". Urs Bühler schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schauspieler Norman Lloyd.

Besprochen werden Ramon und Silvan Zürchers in der Schweiz bereits im Kino gezeigter zweiter Film "Das Mädchen und die Spinne" (NZZ), die gleichnamige Serienadaption von Colson Whiteheads Roman "Underground Railroad" (taz, Freitag), die RBB-Doku "Utopia in Babelsberg" über den Science-Fiction-Film der DDR (Artechock)  und Michael Riandas auf Netflix gezeigter Animationsfilm "Die Mitchells gegen die Maschinen" (FAZ).
Archiv: Film

Musik


Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit John Nolan über dessen amüsantes Blog "Composers Doing Normal Shit", das große Namen der Musikgeschichte beim Verrichten denkbar profaner Dinge zeigt. Die Fotos findet er beim Plündern der Bestände von Stadtbibliotheken und vor allem habe er "unglaublich viel Zeit damit verbracht, den dümmsten Scheiß zu googeln, den man sich vorstellen kann." Leuten, die es ihm gleich tun wollen, empfiehlt er "vor allem Bücher, die man sonst mit Absicht links liegen lässt … Meine Theorie dazu ist, dass bei den richtig schäbigen Büchern kein Geld da ist für gute Bilder, wegen der Copyrights. Deswegen nimmt man dafür dann einfach irgendwelche Fotos - Sibelius in der Hängematte oder so. Bestimmt denkt der Verlag sich da: 'Pack einfach irgendwas rein, wird schon passen. Das kümmert doch niemanden, diese Bücher liest eh keiner.' Aber ich lese sie alle."

Weitere Artikel: Für VAN spricht Hartmut Welscher mit dem Pianisten Lars Vogt über dessen Krebserkrankung. Thomas A. Herrig stellt im Tagesspiegel die Komponistin Cymin Samawatie und ihr Trickster Orchestra vor. Arno Lücker vergleicht für VAN verschiedene Interpretationen von Schuberts As-Du-Impromptu. Außerdem widmet sich Lücker in seiner Komponistinnen-Reihe für VAN Josephine Lang.

Besprochen werden neue Alben von St. Vincent (Freitag, mehr dazu hier), den Black Keys (SZ), International Music (taz) und Dawn Richard (taz) sowie ein Bildband über Billie Eilish (Welt), Dave Grohls Musikdoku "What Drives Us" (taz) und die Ausstellung "Pop Punk Politik" im Münchner Hildebrandhaus über die Münchner Subkultur der 80er (FAZ).
Archiv: Musik