Efeu - Die Kulturrundschau

Mit gebrochenem Herzen und gepackten Luxuskoffern

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02.07.2021. Was wollt ihr: Unkündbare Verträge oder Theater mit Risiko?, ruft Intendant Christoph Nix in der SZ seinen Kollegen zu. Kann man mit einem Androiden ein pädophiles Verhältnis haben, fragt sich der Tagesspiegel in Sandra Wollners Film "The Trouble with Being Born". Wie alt manche Techniken der Moderne sind, lernt die FAZ in einer Wiener Ausstellung über die Geschichte der Landschaftsmalerei. Die NZZ fragt sich, ob die Entdeckung der "braunen Documenta" wirklich eine Neuigkeit ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.07.2021 finden Sie hier

Film

KI als Utopie? Oder doch Projektionsfläche? Sandra Wollners "The Trouble with Being Born"

Sandra Wollners "The Trouble with Being Born" weckt beim Zuschauen "unwillkürlich Unbehagen", schreibt Andreas Busche: Erzählt wird die Geschichte eines täuschend echt wirkenden Androidenmädchens, das an wechselnde Besitzer übergeht - unter anderem an einen pädophilen Mann. Gedreht wurde zum Schutz der anonymen Kind-Schauspielerin mit Masken und Bodysuits. "Wie kann KI als Utopie funktionieren, wenn die Technologie noch auf historisch gewachsenen Denkstrukturen beruht", fragt sich die Regisseurin im Gespräch mit Busche. Die Filmemacherin "interessiert an dieser 'Zuspitzung', wie sie es nennt, vor allem die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums auf ihre Bilder. 'Einen Teil lässt die Geschichte mit dem Vater und der Tochter kalt, weil klar ist, dass es sich um einen Androiden handelt. Andere kommen bis zum Schluss nicht über das pädophile Tabu hinweg.' Dieser Gegensatz wirft ihrer Meinung nach aber die entscheidende Frage im künftigen Umgang mit KI auf: Behandeln wir künstliche Wesen wie Menschen oder sind es nur unsere Projektionen?" Für Artechock porträtiert Jens Balkenborg die Filmemacherin.

Weitere Artikel: Online nachgereicht, stürzt sich Hanns-Georg Rodek für die Welt in die Flut der über 20 Kinostarts der Woche und hält sich dabei wacker, den Überblick zu behalten. Urs Bühler spricht in der NZZ mit Giona A. Nazzaro, dem neuen Leiter des Filmfestivals Locarno. Für epdFilm porträtiert Birgit Roschy den großen Christopher Walken. Fabian Tietke schreibt in der taz einen Nachruf auf den Regisseur Menelik Shabazz.

Besprochen werden Shaka Kings "Judas and the Black Messiah" über den Black-Panther-Aktivisten Fred Hampton (ZeitOnline), Maria Schraders "Ich bin Dein Mensch" (online nachgereicht von der FAZ), der Thriller "Der Spion" mit Benedict Cumberbatch (FR), der Thriller "Nobody" mit Ben Odenkirk (SZ), Brandon Cronenbergs Science-Fiction-Psychothriller "Possessor" (Tagesspiegel), Pepe Danquarts Dokumentarfilm "Vor mir der Süden" (Tagesspiegel), die Kino-Wiederaufführung von Wong Kar-Wais Klassiker "In the Mood for Love" (SZ, Welt), die Arte-Serie "Die Meute" (FAZ) und Andreas Kleinerts "Lieber Thomas" über das Leben des Schriftstellers Thomas Brasch (Welt).
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Bühne

"Theater lebt vom Risiko", ruft Intendant Christoph Nix in der SZ seinen Kollegen zu, die er unfassbar bequem und kleinbürgerlich findet. "Wo sollen ungewöhnliche, kämpferische Teams an Theatern entstehen, wenn den meisten Schauspielerinnen und Schauspielern daran gelegen ist, unkündbare Verträge zu bekommen, statt die Welt als veränderbar darzustellen? ... Das Stadttheater der Zukunft müsste von einem großen Impuls geleitet werden, lokale Konflikte mit dem Kosmos verbinden und den 'transzendental Obdachlosen' (Georg Lukács) eine Heimat geben. Es müsste Trägheit verdammen, sich selbst auflösen und alle fünf Jahre neue Ensembles, vom Einlasspersonal über die Regie zu den Souffleuren, zusammenstellen. Dort fände sich unter kollektiver Leitung, in der alle Sparten und Gewerke vertreten sind, immer wieder neu ein Theater der politischen Moderne." (Vor zehn Tagen hatte schon Christiane Lutz in der SZ die Trägheit der Theater beklagt, unser Resümee.)

Besprochen werden die Choreografie "Bodies in Urban Spaces" mit dem hessischen Staatsballett in Darmstadt (FR) und die digitale Uraufführung der Oper "Im Stein" von Sara Glojnarić und Clemens Meyer an der Oper Halle (nmz).
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Stichwörter: Nix, Christoph

Literatur

Beate Tröger erinnert im Freitag an den Lyriker Helmut Heißenbüttel, der vor hundert Jahren geboren wurde. Gallimard übernimmt die Editions de Minuit, meldet Jürg Altwegg in der FAZ. Außerdem verkündet Dlf Kultur die besten Krimis des Monats - auf der Spitzenposition: "Berlin Heat" von Johannes Groschupf.

Besprochen werden unter anderem Zadie Smiths Erzählband "Grand Union" (NZZ, Standard), Sergej Lebedews "Das perfekte Gift" (ZeitOnline), Lena Goreliks "Wer wir sind" (Dlf Kultur), Zeruya Shalevs "Schicksal" (NZZ), eine Neuausgabe von Céleste Albarets Erinnerungen an Proust (Tagesspiegel), Alexis Schaitkins Krimi "Saint X" (Dlf Kultur), Nastassja Martins Essay "An das Wilde glauben" (NZZ), Olivia Laings "Zum Fluss" (FR), Joseph Mitchells "Street Life" mit Reportagen aus New York (SZ), Hörbücher für den Strand (Intellectures) und eine bibliophile Neuausgabe von Philippe Monniers "Venedig im achtzehnten Jahrhundert" (FAZ).
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Kunst

Alfred Kubin, Schlachthausruine, 1900. Albertina, Wien


Landschaftsmalerei - das war erstmal Urbanes als Landschaft, dann ein Stück Rasen auf dem Ateliertisch. Denn jenseits der Stadtmauern "war es feindlich", erst später gingen die Künstler tatsächlich in die Natur, lernt FAZ-Kritiker Stefan Trinks in einer lehrreichen Schau zur Geschichte der Landschaftsmalerei in der Wiener Albertina. Und noch etwas wird ihm klar: "Die Moderne, so zeigt sich in zwei Sälen, sucht - mindestens in der Landschaft - keinesfalls den Bruch mit den vorausgegangenen Symbiosen; vielmehr ist sie die Fortsetzung der Tradition. Was im Gegenzug für die modernste Kunst bedeutet, dass sie in viel stärkerem Maße als meist behauptet Altbekanntes fortsetzt. Deutlich wird dies etwa an einer scheinbar nur dekorativen 'Waldwiese' mit auffällig flächig-pixeligen Blumen und Blätterdächern des heute kaum mehr bekannten Ludwig Heinrich Jungnickel von 1905. Sie ist bei näherem Hinsehen abstrakt aufgebaut aus Tausenden kleinster Farbpunkte und könnte auch ein Siebdruck von Warhol ein halbes Jahrhundert später sein."

Wie schnell das Image der Documenta sich doch vom künstlerischen Zukunftsprojekt zu einem nationalistischen, von ehemaligen Nazis kontaminierten Projekt gewandelt hat. Christian Saehrendt wundert das in der NZZ nicht. Zwar sei es natürlich immer richtig, die Weiterwirkung nationalsozialistischer Ideologie zu erforschen, aber die "plötzliche Entdeckung der braunen Documenta" findet er "ein wenig forciert und lächerlich", schließlich seien die "wesentlichen Fakten" längst bekannt. Er sieht bei der Documenta eher eine "identitätslinke Läuterungsagenda" durchgesetzt, die er mit der Migrationsforscherin Sandra Kostner so beschreibt: "Während sich die sogenannten Schuld-Entrepreneure für Diskriminierungen und historische Verbrechen verantwortlich erklärten und durch Läuterungs-Demonstrationen moralische Gewinne und damit einen Machtzuwachs erzielen wollten, gehe es den Agenten historisch benachteiligter Opfergruppen um Kompensationsansprüche (z. B. Quoten in Unternehmen und Institutionen, Reparationen, Restitution von Kunstwerken) und damit letztlich ebenfalls um Machtzuwachs. Beide Seiten spielen sich die Bälle zu und gewinnen spiegelbildlich an gesellschaftlicher Bedeutung."

Weiteres: Friederike Meier besucht für die FR die Fotografietriennale Ray im Fotografie Forum Frankfurt. Besprochen werden außerdem eine Werkschau der israelischen Künstlerin Yael Bartana im Jüdischen Museum Berlin (SZ), eine Ausstellung der Malerin Persis Eisenbeis in der Berliner Galerie Tammen (Berliner Zeitung), die Installation "Vyre" der Gruppe SV Szlachta, die in Hamburg zur Führung durch ein Biohacking-Labor einlädt (taz), und die Ausstellung "Hellas in München" über 200 Jahre bayerisch-griechische Freundschaft in den Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek in München (FAZ).
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Design

Sich in der Öffentlichkeit über sichtbare Männerwaden zu echauffieren, ist auf Social Media eine so beliebte wie günstige Strategie, über das Sommerloch zu kommen und sich vor seiner Community als geschmackssicherer Mensch von Welt in Szene zu setzen. In seinem 54books-Essay über die subversive Sprengkraft von kurzen Hosen für Männer deutet Oliver Pöttgen die Lage allerdings sanft um: Nicht die Meckerer sind das Problem, sondern all die Männer, die aus schierer Angst vor Unmännlichkeit auch bei unmenschlichen Temperaturen in lange Hosen schlüpfen. "Die kurze Hose provoziert, vor allem die sehr kurze, die nicht an der Demarkationslinie Knie endet, sondern Mitte der Oberschenkel oder noch höher, noch näher am darunter vermuteten Penis. Denn das sind Hosen ja auch: Penisverhüller und Penisschützer. Die lange Hose als Burg des Mannes, die kurze Hose als Burgruine? Wie soll, mögen sich manche denken, der Mann seiner tradierten Geschlechterrolle als 'Beschützer' nachkommen, wenn die kurze Hose ihn und seine Geschlechtsteile selbst schutzloser macht, ihm einen Teil seiner Rüstung nimmt?"

Besprochen wird eine Ausstellung in Chemnitz über den DDR-Designer Karl Clauss Dietel (taz).
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Musik

Daniel Gerhardt hört sich für ZeitOnline durch das neue Album von Tyler, the Creator, das einerseits nostalgische Gesten bedient, zugleich aber auch von einer wieder entdeckten Freude am Haben von Spaß angetrieben ist. Er rappt "Zweideutigkeiten und kleinere Geschmacklosigkeiten, er benutzt böse Worte, tadelt sich selbst dafür und benutzt kurz darauf noch bösere. ... Spielfreudig und verspielt ist all das zugleich, bis zur Beschreibung des Rolls-Royce, den Tyler, the Creator mit Keksen vollkrümelt. Dem Ekelpaket von früher setzt er heute eine dandyhafte Inszenierung entgegen. Sir Baudelaire heißt sein Alter Ego auf 'Call Me If You Get Lost', ein weltgewandter Lebemann, der mit gebrochenem Herzen und gepackten Luxuskoffern durch ein Europa reist, das so ehrwürdig verklärt erscheint, wie man es eigentlich erst vom nächsten Wes-Anderson-Film 'The French Dispatch' erwartet hatte." Wir hören rein:



Finn Johannsen erzählt in der taz die Geschichte von Italo House, denn "es gibt kaum Clubmusik, die mehr Eskapismus und Hedonismus ausstrahlt, mehr Harmonie anbietet und mehr Glück verspricht als Italo House in den 1980er und frühen 1990er Jahren." Ziemlich einschlägig für diesen Stil, "mit dem sich jeder Club in eine weltumarmende Utopie von Glückseligkeit mit Meerblick verwandeln lässt und jeder urbane Alltagskampf inmitten weniger azurblauer Umgebungen augenblicklich in Vergessenheit gerät", ist Massimino Lippolis auffällig von Manuel Göttschings "E2-E4" inspirierter Hit "Sueño Latino" aus den späten 80ern.



Weitere Artikel: Arne Löffel spricht für die FR mit DJ Solomun über dessen neues Album. Jan Brachmann berichtet in der FAZ von den Strauss-Tagen in Garmisch. Für die Zeit hört Wolfram Goertz genau hin bei einer selten beachteten Aufnahme, auf der der Chopin-Verächter Glenn Gould doch tatsächlich Chopin spielt.

Besprochen werden neue Alben von Modest Mouse (Tagesspiegel), Gaspard Augé (SZ), Molly Lewis (Freitag) und John Grant (Standard). Was für ein herrlich schwermütiger Synth-Pop - wir hören rein:

Archiv: Musik