Efeu - Die Kulturrundschau

Ist da ein Komet im Anflug?

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20.09.2021. Die SZ schwärmt von den Stoffen, die in den Wiener Werkstätten geschaffen wurden. Außerdem baut sie jetzt auch in der Solarenenergie wieder auf Beton. Der Standard feiert mit Peter Handke und Frank Castorf in Nordböhmen ein Fest der Widersetzlichkeit. Bei Tidal erklärt Simon Reynolds die Beudeutung von Chic in der Popmusik. Die taz schwört auf die Gelassenheit von Paolo Conte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.09.2021 finden Sie hier

Bühne

Nordböhmisch: Peter Handkes "Zdenek Adamec" am Burgtheater. Foto: Matthias Horn

Als Triumph feiert Ronald Pohl im Standard Frank Castorfs Inszenierung von Peter Handkes "Zdeněk Adamec" über jenen jungen tschechen, der sich auf dem Wenzelsplatz selbst verbrannte. Herrliche SchauspielerInnen, die in einem nordböhmischen Setting inwendig brennen: "Castorf zeigt: ein schmählich abgehängtes, dabei bumsfideles 'Flyover Country'. Einen malerischen Sperrmüllzoo, in dem jeder und jede einen potenziellen Zdeněk Adamec in sich trägt. In der Ablehnung der Konsumgesellschaft, in ihrem Glauben an das Gute, Schützenswerte im Menschen, begegnen einander Handke und Castorf. Der eine ist bockiger Nobelpreisträger, der andere störrischer Expressionist. Das ergibt - im Zeichen des säkularen Märtyrers Adamec - zusammen ein Fest der Widersetzlichkeit." Nachtkritikerin Gabi Hift findet den Handke-Text außergewöhnlich schön, aber bei Frank Castorf nicht unbedingt in den besten Händen, weil der Regie-Berserker einfach nicht ohne Handlung auskomme: "Deshalb lässt er die Figuren nacheinander in die Rolle von Zdeněk Adamec schlüpfen und 'ich' sagen, beim Erzählen von Geschichten, die eigentlich von anderen über Zdeněk erfunden werden, die nur Spekulationen sind und wahrscheinlich falsch. 'Woher weißt du das?' fragen sie einander immer skeptisch. Dieses 'Ich'-Sagen passt nicht zu den Texten, es zerstört die Gemeinsamkeit, die bei Handke eben gerade dadurch entsteht, dass alles ungewiss und Zdenek ewig ungreifbar bleibt." In der SZ staunt Wolfgang Kralicek über die ungewohnte Ruhe der Inszenierung.

In der SZ beschwört Viktor Schoner, der Intendant der Staatsoper Stuttgart, zur Saisoneröffnung einen Neustart der Bühnen: "Hatten wir diese künstlerischen Berufe nicht eben genau deswegen ergriffen, weil wir Systeme hinterfragen und zur Not aushebeln wollten, um genau deswegen relevant zu sein? Relevant für Menschen, aber nie relevant für ein System." Frauke Steffens berichtet in der FAZ von der Eröffnung der Theatersaison am Broadway.

Besprochen werden Jan Bosses Adaption von Gabriele Tergits 900-seitigem Roman "Effingers" an den Münchner Kammerspielen ("Endlich wieder Theater im Großformat, freut sich SZ-Kritikerin Christine Dössel über die vierstündige Inszenierung, in der taz lässt sich Sabine Leucht den "süffigen Blockbuster" gern gefallen, in der Nachtkritik lobt Georg Kasch diese "Feier des Lebens"), Simon Stones  Inszenierung von Ödön von Horváths "Unsere Zeit" Residenztheater München (die keinen aktuellen Diskurs außer Acht lässt, wie Sabine Leucht in der Nachtkritik klagt), Friedrich Dürrenmatts Klassiker "Der Besuch der alten Dame" am Zürcher Schauspielhaus (NZZ), Barbara Bürks Adaption von Irmgard Keuns Exilroman "Nach Mitternacht" (FR), "Dantons Tod" am Staatstheater Darmstadt (FR) und die Produktionen der Ruhrtriennale (Tsp).
Archiv: Bühne

Design

Jutta Sika, Dekorentwurf für ein Porzellanservice der Wiener Porzellanmanufaktur Josef Böck, 1901 © MAK 

Die Ausstellung "Die Frauen der Wiener Werkstätte" im MAK Wien ist ein Großereignis, schwärmt Laura Weißmüller in der SZ: Viel zu lange lagen die hier präsentierte Exponate weggesperrt in Depots. "Die Stoffe heißen 'Backfisch', 'Luftschloss', 'Donnerwetter', 'Boston', 'Gespinst' und 'Archibald'. Es gibt aber auch 'Monolog', 'Radio', 'Whiskey', 'Papagena' und 'Feldpost'. Wer die Namen der unterschiedlichen Textilmuster studiert, bekommt eine Ahnung von dem kreativen Geist, der vor mehr als 100 Jahren am Werk war. Über die Stoffe selbst kann man dann nur staunen: Es gibt Motive, die nehmen es mit einem Kandinsky auf, andere erinnern an das finnische Design von Marimekko, an Zeichnungen von Andy Warhol oder japanische Holzschnitte. Ganz zu schweigen von den starken Farbkontrasten, die die Stoffe bis heute zum Leuchten bringen. Orange neben Pink, Dunkelblau neben Kanarienvogelgelb."

Schriller und darin selbstbewusster ist niemand - und 100 Jahre alt ist sie kürzlich auch geworden: Sarah Pines verneigt sich daher tief in der NZZ vor Stilikone Iris Apfel: Vielleicht ist Stil und Geschmack ja "das Gefühl eines winzigen elektrischen Schocks und das sodann entstehende Bewusstsein: Hier ist etwas Neues, anderes. ... Man kann unmöglich sich so anziehen wie Apfel, die zuzeiten wirkt, als krache sie unter ihren schweren Halsketten, Tüchern, Hutgebilden jeden Moment zusammen. Und vielleicht ist es das, was Mode ausmacht: Etwas ist anders und eigenwillig, aber es wirkt trotzdem toll - Apfel trägt Dolce-&-Gabbana-Echsenhosen zusammen mit einer Art Messgewand aus dem 19. Jahrhundert, Ketten aus Bärenklauen über Cocktailkleidern, Anstecknadeln aus ausgestopften Papageienköpfen, chinesische Tempelkleider, pinkfarbene Hosen von Lanvin, viel Selbstgenähtes."

Der Herbst wird ledern in der Frauenmode, stellt Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne im Zeitmagazin fest. Nur gar so viel Empowerment sieht er darin nicht: "Vielleicht ist die in Leder geschlagene Frau vielmehr eine Männerfantasie der starken Frau: Diese Kleider tragen wahre Kämpferinnen, die gefährlich sind, aber dennoch nach einem noch stärkeren Mann rufen."
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Kunst

Joel Sternfeld: Staatlicher Campingĺatz im Red Rock Park, Gallup, New Mexico, 1982. Foto: Albertina

Ein gesetztes Meisterwerk nach dem anderen bekam FAZ-Kritiker Freddy Langer in der Schau "American Photography" in der Wiener Albertina präsentiert und fühlte sich am Ende der von Walter Moser kuratierten Schau, als hätte er sich durch "die gesamte Tortentheke des Sachers" gefuttert: "Er beweist dabei ein sicheres Auge, folgt allerdings sehr eng den etablierten Vorgaben seiner Kollegen aus New York, als wolle er den Kanon des MoMA auch in Europa zementieren. Ebenso gut freilich könnte er sich auf Oscar Wilde berufen, der meinte, guter Geschmack sei leicht zu beweisen: Man wähle einfach immer das Beste. Besser als 'American Photography' in der Albertina geht es nicht."

Weiteres: Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper steht seufzend vor dem Triumphbogen, den Christo in "einem letztem Akt der Liebe" verhüllte: "Seltsam, dass sich dieser Zauber nicht verbraucht." Ebenfalls im Tagesspiegel bilanziert Birgit Rieker die Berlin Art Week. Nicolas Freund durfte für die SZ zur Helsinki Bienniale auf der Insel Vallisaari fliegen.
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Architektur

In der SZ setzt Gerhard matzig große Hoffungen auf das Forschungsprojekt der Künstlerin Heike Klussmann, die an der Universität München daran gearbeitet hat, Beton wieder zukunftsfähig zu machen: "Schon längst arbeitet die Industrie daran, Beton umweltverträglicher zu machen. Was aber, wenn Beton so günstig angereichert wird, dass er Energie liefert, statt Energie zu kosten? Können aus Fassaden Sonnenkollektoren werden? Nicht nur auf dem Dach. Als ganze Volumen. Integral. Elegant. Ohne teure Photovoltaik-Bastelei, die oft nach Baumarkt aussieht. "DysCrete/DssCrete" heißt bislang (sperrig, fast schon diskret) das Forschungsprojekt, das zwischen Kunst, Technologie, Architektur, Umwelt, Energiepolitik und Ästhetik ein schillerndes Versprechen darstellt. Verkürzt: Beton wird durch das Auftragen einer Schicht von photoreaktiven Substanzen leitfähig - Beton wird zur Solarzelle."

Im Tagesspiegel freut sich Falk Jaeger zwar über das neue Frankfurter Romanitik-Museum, stört sich aber auch ein bisschen an den historischen Zitaten, auf die Architekt Christoph Mäckler dabei setzt: "Vielleicht ein wenig viel vordergründige Symbolik, diese geradezu postmodern zitierfreudige Architektur, vielleicht ein wenig gesprächig."
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Stichwörter: Mäckler, Christoph

Film

Viel Freude hat tazler Fabian Tietke an Giorgio Verdellis Dokumentarfilm "Paolo Conte - Via con me". Den Musiker kennt man in Deutschland am ehesten wohl von "Azzurro" her, dem von Adriano Celentano gesungenen Stück, dem der italienische Tourismus viel zu verdanken hat. Der Film "hätte leicht ein müder, nostalgischer Rückblick werden können, die Momente sind im Film klar zu erkennen. Doch Paolo Conte und seine Musik, vor allem aber die Gelassenheit auf und jenseits der Bühne bewahren den Film davor, tun mehr als das. 'Bei Paolo gibt es diese unglaubliche Freiheit, denn er ist frei von Anmaßung', sagt Isabella Rossellini." Eine Playlist auf Youtube verspricht das Beste von Conte:



Außerdem: Anke Leweke spricht für ZeitOnline mit Maria Speth über deren Dokumentarfilm "Herr Bachmann und seine Klasse" (mehr dazu hier). Matthias Lerf vom Tagesanzeiger sieht das Kino vor lauter Schafen nicht. Die Agenturen melden, dass Russland Paul Verhoevens neuen Film über eine lesbische Nonne verboten hat. Und eine traurige Meldung beim Dlf Kultur: Die Filmemacherin Tatjana Turanskyj ist tot.

Besprochen wird die zweite Staffel von "The Morning Show" (ZeitOnline).
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Literatur

Paul Ingendaay berichtet in der FAZ vom Literaturfestival Berlin. Tazlerin Katharina Granzin hat derweil viel Freude am "Festival der Kooperationen", das Alexander Kluge gemeinsam mit dem Literaturhaus Berlin noch bis zum 26. September veranstaltet (Livestreams gibt es hier). In den Actionszenen der Welliteratur wirft Wolf Lepenies einen Blick auf Balzacs Reise nach Java. Philipp Haibach erinnert im Freitag an den vor 50 Jahren gestorbenen Dichter Giorgos Seferis. Paul Ingendaay gratuliert in der FAZ dem Schriftsteller Javier Marías zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernauxs "Das Ereignis" (NZZ), Audre Lordes Essaysammlung "Sister Outsider" (online nachgereicht von der NZZ), Jonathan Lethems "Anatomie eines Spielers" (Freitag), Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" (Freitag), neue Übersetzungen von James Baldwins Büchern (online nachgereicht von der NZZ), Reto Hännys "Sturz" (Jungle World), Richard Russos "Mittelalte Männer" (Standard), Gunter Dellers experimenteller Dokumentarfilm "Inseln von Dunkelheit, Inseln von Licht" über den Dichter Paulus Böhmer (FAZ), die Comicreihe "Once & Future" (Tagesspiegel) und eine Edition mit Molière-Hörspielen (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über Volker Sielaffs "Als ich auf dich wartete":

"Ich denke uns voraus für nächste Woche
ich seh uns unter diesen Regenschirmen stehen
..."
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Musik

Wer die Beatles und Kraftwerk als wichtigste Stichwortgeber im Pop zelebriert, übersieht den Einfluss, den Nile Rodgers' und Bernard Edwards mit Chic auf die Popmusik genommen haben, schreibt der Pophistoriker Simon Reynolds in einem Magazinbeitrag des Streamingdienstes Tidal: "What was it about the Chic sound that invited sincere flattery and outright larceny? Rodgers developed funk guitar into a hyper-syncopated flicker that glinted and shimmied like a firefly. Edwards' bass combined melodic mobility with sub-bass impact, juddering up from the floor to your core. His lines seem to wiggle and frisk and sometimes even froth while massaging your whole body with surround sound. Chic favored chord changes sublimely poised between happy and sad while the choruses were staccato, the spaced-out notes seemingly plotted on graph paper. The same architectural elegance structured the arrangements, resulting in some of the most breathtaking breakdowns in pop history, with most of the instrumentation cutting away to leave bass and drums cavorting in a chasm of wide-open space. ... What set Chic further apart was a subtle infusion of intelligence and irony. Even the group's name seemed to both celebrate and satirize disco's aspirational high-life fantasies."

Reinhard J. Brembeck berichtet in der SZ von einem Bruckner-Abend mit den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann in der Kirche Sagrada Família in Barcelona. Das Gebäude packe den Klang allerdings in ein kaum mehr in sich differenzierbares Klanggebilde, erfahren wir: "Steigerungen, die leise beginnen und auf Fortissimo- oder Forte-Fortissimo-Eruptionen zuschleichen, machen von Anfang an einen furchterregenden Eindruck. Ist da ein Komet im Anflug, der gleich alles Erdenleben auslöschen wird?"

Außerdem: In der Welt porträtiert Manuel Brug den Dirigenten Lorenzo Viotti, der nicht nur mit dem Taktstock, sondern mit seinem unverschämt guten Aussehen auch auf Instagram Karriere macht und den Gewinner-Lifestyle zelebriert: "Selbst zwischen zwei Amsterdam-Vorstellungen jettet er für 48 Stunden zum Speedbaden nach Spanien." Die Jungle World reicht Wassilis Aswestopoulos' Nachruf auf Mikis Theodorakis nach (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden Lil Nas X' Debütalbum "Montero" (Pitchfork, mehr dazu hier), das neue Album von Moor Mother (ZeitOnline), die Strawinsky-Aufführungen beim Musikfest Berlin (taz), Matthew E. Whites neues Album "K Bay" (Standard) und das Konzert des London Symphony Orchestras unter Simon Rattle beim Enescu-Festival (FAZ).
Archiv: Musik