Efeu - Die Kulturrundschau

Wie ein zart schattiertes Schönwetterwölkchen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2021. Die FAZ hört die Erotik knistern, wenn Christian Thielemann aus Wagners Ring spielt. In der Welt erklärt die Autorin Deboray Levy ihr Konzept der weiblichen Subjektivität. Die Zeit liest mit langen Ohren die Twitter-Verse von Clemens Setz. Die Filmkritiker schweben heiter durch Mia Hansen-Løves Anti-Bergman-Film "Bergman Island". Die Zeit spiegelt sich im phantastischen neuen Depot des Boijmans Van Beuningen Museums. Die NZZ entdeckt mit dem Maler Otto Wyler einen leisen Meister. Und eine sehr müde nachtkritikerin lernt in Sebastian Hartmanns Inszenierung von Dostojewskis "Der Idiot": Tiere und Hitler gehen immer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.11.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: Otto Wyler. Männlicher Akt, 1916. Sammlung Carlo Mettauer. Nachlass Otto Wyler.

Im Museum Franz Gertsch in Burgdorf ist in der Ausstellung "Die schönsten Bilder" mit Otto Wyler derzeit ein "leiser Meister" wiederzuentdecken, rät Roman Hollenstein in der NZZ. Dort sind "einige der schönsten Wyler-Bilder zu einem an kunsthistorischen Bezügen reichen Dialog vereint: Verrät der frühe, in loderndem Rot gehaltene 'Jom Kippur in der St. Galler Synagoge' Wylers Beschäftigung mit dem Expressionismus, so scheint der 'Tango-Tee in Paris' 1913 bereits Varlin anzukündigen. Der in hundert Schattierungen von Weiß erstrahlende 'Monte Forno' lässt hingegen fast schon Robert Rymans monochrome Sinfonien erahnen. Die gnadenlose Unmittelbarkeit von Lucian Freuds Körperlandschaften wiederum nimmt gleichsam ein auf den ersten Blick unangenehm direkter Männerakt aus dem Jahr 1916 vorweg."

Bild: Paula Modersohn-Becker: Sitzender Mädchenakt mit Blumen. 1907, Von der Heydt-Museum, Wuppertal.

Die große Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung in der Frankfurter Schirn zeigt, "wie rasant und in welch üppigen Entwicklungsschritten die Malerin im anbrechenden 20. Jahrhundert ihr Werk entwickelte und die europäische Kunstgeschichte gleich mit", jubelt Kia Vahland in der SZ nicht nur beim Betrachten eines Selbstporträts, das Modersohn-Becker halbnackt und schwanger zeigt: "Es ist, soweit überliefert, das erste Mal, dass eine Künstlerin sich so malt, nackt und mit Kind im Bauch, eine Frau, die gleich doppelt Leben schaffen kann: als Malerin an der Staffelei und als potenzielle Mutter in der Wirklichkeit. Und weil dieses eigentlich so naheliegende Motiv in der Kunstgeschichte so ungewohnt ist, fällt plötzlich auf, was manchen anderen Frauenakten abgeht: die Selbstverständlichkeit und die Selbstvergewisserung. Das also, was in der Renaissance Albrecht Dürer mit seinem gezeichneten Selbstakt für die Männer geleistet hat, holt Modersohn-Becker 400 Jahre später für die Frauen fulminant nach."

Lange dauerte es, bis sich die "Wollust" mit dem Schönen in der Kunst versöhnte, dann aber stand die "Freisetzung von Begehren" in der Kunst Pate für die Befreiung des Menschen, schreibt Ronald Pohl im Standard und seufzt: "Mit einer Vielzahl von Empfindlichkeiten muss jedoch gerade die zeitgenössische Kunst rechnen. Unter Hinweis auf die Ausbeutung derer, die als Bildvorlage für andere herhalten, gehen Besorgte jeder Couleur gelegentliche Zweckbündnisse ein, auch solche mit der Prüderie."

Besprochen werden die Ausstellung "Venedig 1600. Geburten und Wiedergeburten" im Dogenpalast in Venedig (Tsp) und die Ausstellung "Mission Rimini. Material, Geschichte und Restaurierung des Rimini-Altars" im Frankfurter Liebieghaus (FAZ).
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Film



In Mia Hansen-Løves "Bergman Island" kommt ein Paar, beide Filmemacher, auf die Insel Fårö und macht dort Urlaub im ehemaligen Haus des schwedischen Filmemachers Ingmar Bergman. Noch ein anderes Paar gibt es, mit einer bergmanesken On-Off-Beziehung, aber richtig dramatisch scheint es nie zu werden, man plaudert über seine Filme, über Bergman und gibt sich der Schönheit der Insel hin. Kein Problem für FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, dem die heitere Melancholie und Unbefangenheit des Films gut gefallen hat: "Es ist vor allem Bergmans Meisterschaft im Visualisieren von Unbewusstem, die sich Mia Hansen-Løve zum Vorbild genommen hat. Doch diese filmische Huldigung verstummt nicht in Respekt: Die semidokumentarischen Szenen aus Ingmar Bergmans Umfeld verhalten sich nicht dominanter als eine grundierte Leinwand. Darauf tupft diese unvergleichliche Filmemacherin ihr federleichtes Beziehungsstück über kreative Differenzen. Gänzlich pathosfrei gestaltet, ist es reinster Anti-Bergman - um erst allmählich (und dann sehr Bergman-haft) mit Traum und Wirklichkeit zu spielen."

Auch taz-Kritikerin Katharina Granzin lobt den Film, der "so anmutig hingetupft daherkommt wie ein zart schattiertes Schönwetterwölkchen am schwedischen Sommerhimmel". Im Perlentaucher ist Thekla Dannenberg etwas irritierter von Mia Hansen-Løves Entschlossenheit, "nicht in Abgründe zu blicken. So als wäre es eine Frage der Willensanstrengung, hinter den Klippen die aufgehende Sonne zu erblicken. Sie liebt das Filmemachen, die Pariser Filmkreise, den intellektuellen Glamour, den ästhetischen Feinsinn. Warum also nicht zeigen, wie glücklich das macht? Ist das unbedarft? Wenn Bergman die Insel in Bildern von gleißender Schönheit zeigt, taucht Hansen-Løve sie in ein Licht von milder Wärme. Bei ihr gibt es keine harten Schnitten, keine unerbittliche Kamera, sondern sanfte Bewegungen und schmeichelnde Perspektiven."

Weitere Artikel: Andreas Scheiner porträtiert in der NZZ den Schauspieler Adam Driver, der gerade in zwei Filmen von Ridley Scott zu sehen ist, dem Historienfilm "The Last Duel" und in dem Thriller "House of Gucci". Im Tagesspiegel denkt Fabian Tietke über das Konzept "nationales Filmerbe" nach, wo doch "das Transnationale der Regelfall, das Nationale die Ausnahme" sei beim Film. Ekkehard Knörer sieht für seine taz-Kolumne DVDesk Robert Bressons "Lancelot du Lac" von 1974.

Besprochen werden außerdem die Doku "Zuhurs Töchter" über zwei syrische Transschwestern und ihre Familie von Laurentia Genske und Robin Humboldt (Perlentaucher), "Das Mädchen und die Spinne" der Schweizer Brüder Ramon und Silvan Zürcher (Standard), Hans Broichs Hommage an den Schauspieler Volker Spengler "Highfalutin" (taz), "1982" des libanesischen Regisseurs Oualid Mouaness (taz), Alan Taylors Film "The Many Saints of Newark", der die Vorgeschichte zu den "Sopranos" erzählt (SZ, Tsp), Yael Reuvenys Doku "Kinder der Hoffnung" (SZ), Chloé Zhaos "Eternals" (Standard, FR, FAZ, Zeit) und Ildikó Enyedis Kostümfilm "Die Geschichte meiner Frau" (SZ, Welt).
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Literatur

Im Interview mit der Welt spricht die Autorin Deborah Levy über ihre "Living Autobiography", deren dritter Band, "Ein eigenes Haus", gerade erschienen ist. Es geht darin um Kindheit (Levy emigrierte 1968 im Alter von neun Jahren mit ihren Eltern von Südafrika nach Britannien), Heimat und das Patriarchat, das auch die Literatur immer noch besetzt hält: "Letztendlich geht es beim Schreiben immer um Verlangen, und zwar im größtmöglichen Sinne dieses Wortes. Um das Verlangen, jemanden, dem es vorbestimmt ist, eine Nebenfigur am Rande des Lebens zu sein, als Hauptfigur ins Zentrum der Welt eintreten zu lassen. Das ist ein starkes Verlangen in mir selbst. Man möchte eine Stimmung erzeugen, eine Atmosphäre, eine Ästhetik. Bei all dem handelt es sich um ein Verlangen, aber Frauen werden erzogen, ihr Verlangen zu unterdrücken, weshalb es sehr schwierig ist, es zum Ausdruck zu bringen. Aber als Schriftstellerin musst du genau das tun. Ich glaube, dass ich sagen darf, dass es mir in den drei Bänden der 'Living Autobiography' gelungen ist, eine weibliche Subjektivität ins Zentrum der Welt eintreten zu lassen und zwar in Gestalt einer Erzählerin, deren Äußeres nicht beschrieben wird."

In der Zeit empfiehlt Volker Weidermann wärmstens die Gedichte von Clemens J. Setz auf Twitter: "Er selbst sagt, wenn man ihn nach Gründen für die Wahl dieses Publikationsortes fragt: 'Ich würde heute generell keinen gedruckten Gedichtband mehr veröffentlichen, weil ein Gedichtband häufig so ein tristes Text-Exil darstellt.' Und: 'Auf Twitter bekommen Gedichte wenigstens eine Leserschaft.' Auch er selbst liest gern und viel und bewundernd Twitter-Verse von Kollegen. Setz schwärmt von der 'bemerkenswerten Explosion von sprachlicher Energie' und der Renaissance von light verse, aber auch konkreter Poesie und haikuartiger Dichtung vor Ort."

Hasen spielen dabei eine anmutige Rolle:
Weitere Artikel: Die nächsten Mittwoch startende Messe Buch Wien will ein Wissensfestival sein, aber zum Gastland Russland möchte man lieber keine kontroversen Diskussionen anzetteln, entnehmen wir einem Nachrichtenticker im Standard: "'Zu Russland mag ich nicht Stellung nehmen', lässt der Programmleiter wissen, dies sei 'nicht meine Baustelle'." Andreas Schnell begleitet für die taz den Kunsthistoriker Pascal Simm auf den Spuren Erich Mühsams auf einem interaktiven Rundgang durch Lübeck. Der 31-jährige senegalesischen Autor Mohamed Mbougar Sarr wurde für seinen Roman "La plus secrète mémoire des hommes" mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, meldet Zeit online. Und der südafrikanische Autor Damon Galgut wird mit dem Booker-Preis ausgezeichnet, meldet die SZ. In der SZ schreibt Nicolas Freund zum 100. Geburtstag von Gert Ledig. Zum 200. Geburtstag Dostojewskis schreiben in der Zeit Jens Jessen und Alard von Kittlitz.

Besprochen werden Dorothea Zwirners Thea-Sternheim-Biografie (FR), Schriften von Rudolf Steiner zur Geschichte der Philosophie (NZZ), Tim Weiners Band "Macht und Wahn" (NZZ), die Tage- und Notizbücher Patricia Highsmiths (SZ), Jens Nordalms Biografie Gottfried von Cramms (Welt), László Krasznahorkais "Herscht 07769" (Zeit), Günther Rühles Tagebuch "Ein alter Mann wird älter" (Zeit), Marie NDiayes Roman "Die Rache ist mein" (Zeit), Marie Pavlenkos Jugendbuch "Die Kirsche auf der Torte aller Katastrophen" (Zeit), Kim Stanley Robinsons "Das Ministerium für die Zukunft" (FAZ),  Henning Ahrens' Roman "Mitgift" (FAZ) und Hanns-Josef Ortheils Roman "Ombra" (FAZ).
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Architektur

Das Depot des Boijmans Van Beuningen Museums. Foto: Anja Seeliger


Ein total begeisterter Hanno Rauterberg stellt in der Zeit das neue Depot des Boijmans Van Beuningen Museums vor. Klar, man hätte es billig als "Kunstspeicher irgendwo im Nirgendwo" errichten können, "als graue Metallkiste am Stadtrand. Doch die Rotterdamer, bekannt für ihren Geschäftssinn, entschieden anders. Sie gaben ihr Geld für eine unvertraute Idee aus: für ein Haus, in dem das Unsichtbare sichtbar wird. ... Keine Abstellkammer, eine große Bühne will das neue Haus sein, die größte, die man sich vorstellen kann. Und tatsächlich, wer sich dem Bauwerk nähert, wird hineingezogen in ein Spiel der Spiegelungen, erblickt sich selbst auf der Fassade des Gebäudes, sieht zugleich die anderen Passanten, spürt den visuellen Kitzel. Es ist das perfekte Museum für eine fotovernarrte Epoche, und doch, sehr seltsam, lässt es sich auf Fotos nicht wirklich fassen. Man muss anwesend sein, wie das Museum anwesend ist. Nur so lässt sich erleben, wie die Stadt von den vielen Spiegelgläsern der Fassade eingefangen wird - und wie sie die Stadt verwandeln."

Weitere Artikel: Jürgen Gottschlich erzählt in der taz die Geschichte des alten und des neuen, letzten Freitag eröffneten Atatürk-Kulturzentrums in Istanbul. Düsseldorf soll nach Plänen des Architekten Christoph Ingenhoven grüner werden, berichtet Klaus Englert in der FAZ.
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Bühne

Szene aus "Der Idiot". Foto: Arno Declair

"Nichts für zarte Gemüter", warnt Nachtkritikerin Anna Fastabend, die sich im Deutschen Theater in Berlin von Sebastian Hartmann in dessen Dostojewski-Inszenierung "Der Idiot" mit "hämmernden Monologen, treibender Musik und Bilderwucht" beschallen ließ. War aber nur im ersten Drittel "geil", danach ist Fastabend der Umgang mit "sensibel diskutierten Zeichen" zu "lax". Zunächst erlebt man aber "eine bezaubernde Ansammlung von Lebenskünstler:innen, die Adriana Braga Peretzki in transparent schimmernde Gewänder gesteckt hat. (...) Zwei riesige Tipis gibt es auch, die feuerwehrrote Fassade eines Klassizismusbaus, Anekdoten über gefallene Menschen, einen echten Hund, der wie jedes Tier auf der Bühne erstmal zur Verzückung im Publikum führt, außerdem aufwendig produzierte Animationen, die müde Pferde und Katzen in Menschenbetten zeigen, ach ja, und Hitler wird am Ende des Abends auch nochmal aus der Mottenkiste geholt. Weil: Tiere und Hitler gehen immer."

Im FR-Gespräch mit Judith von Sternburg spricht Sebastian Weigle, Generalmusiker der Oper Frankfurt, über Proben während der Pandemie in Japan und den USA und die Wiedereröffnung der Met, der Chor und Orchester komplett aufgelöst waren: "Im Chor sind es circa 40 Prozent neue Sängerinnen und Sänger. Im Orchester habe ich sehr viele wiedererkannt, da gab es ein großes Hallo und eine große Wiedersehensfreude, aber es gibt auch neue Gesichter."

Besprochen werden die Performance "1984, Back to No Future" von Gob Squad im Berliner HAU 3 (taz) sowie Paul Dessaus und Bertolt Brechts Oper "Verurteilung des Lukullus" in Stuttgart (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Stehende Ovationen für Christian Thielemann, den scheidenden Leiter der Osterfestspiele in Salzburg, die coronabedingt dieses Jahr im Herbst stattfanden - jedenfalls bei Richard Strauss' "Ein Heldenleben". Mozart kann er dagegen nicht, lernt FAZ-Kritiker Florian Amort. Aber dann wieder ein Konzert mit Ausschnitten aus Wagners Ring: "unwiderstehlich gut! Hier ist Thielemann hörbar zu Hause. Vom ersten Takt an folgen die Musiker der Staatskapelle dem unberechenbaren, spontanen und dennoch ganz organisch aus der Musik heraus entwickelten Dirigat. Jede noch so kleine Bewegung Thielemanns übersetzen sie in Sinnlichkeit und knisternde Erotik. Schwelgerisch-innige Cellosoli, Posaunen in herrschaftlicher Diktion, prägnante Basstrompete - bei Thielemann fügen sich die Instrumente zu einem Erzählfluss, der nirgends abzureißen droht. Ob Tempi, Dynamik, Rhythmik - alles strebt nach Kontrast zur Steigerung des Rauschs."

Weitere Artikel: Maxi Broecking unterhält sich für die taz mit dem niederländischen Jazzdrummer Han Bennink, der heute abend beim Jazzfest Berlin spielt. Christoph Dallach plaudert für die Zeit mit Simon Le Bon von Duran Duran über das neue Album der Band und die guten alten Achtziger.

Besprochen werden Adam Granduciels Album "I Don't Live Here Anymore" (SZ) und Ed Sheeran neues Album ("Sogar in melancholischen Momenten tönt Ed Sheeran, als hätte er gerade einen Auszug seines Bankkontos gelesen oder noch ein Kind gekriegt", seufzt in der NZZ Hanspeter Künzler).
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