Efeu - Die Kulturrundschau

Der Vorrang der Politik vor der Kunst

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27.01.2022. Die taz feiert Paul Thomas Andersons "Licorice Pizza" als unbeherrschten, unvorhersehbaren Liebesfilm, der Tagesspiegel erkennt eher einen Konstruktionsfehler männlicher Nostalgie, für den Perlentaucher ist es ein exquisiter Straßenköter von einem Film. Künstler- und Kuratorenkollektive, wohin das Auge blickt, stöhnt die FAZ und warnt vor einer zunehmenden Politisierung der Kunst. Die nmz ist hin und weg von Torsten Raschs klanggewaltiger Oper "Die andere Frau". Das Van Magazin diagnostiziert Spannungen in der Staatskapelle Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2022 finden Sie hier

Film

Unbeherrscht und unvorhersehbar: Cooper Hoffman und Alana Haim in "Licorice Pizza"

Paul Thomas Andersons "Licorice Pizza" (unser erstes Resümee) lässt sich mit seiner in den Siebzigern angesiedelten Liebesgeschichte über einen 15-Jährigen und eine 25-Jährige zwar schon im Marketing problemlos als "feuchter adoleszenter Jungmännertraum" erkennen, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher - und der Film selbst löst dies auch ein. Doch zeige Anderson, "wie reichhaltig und generös eine Jungsfantasie sein kann, wenn sie nicht auf Vollzug und Eroberung angelegt ist, sondern frei und ungebunden mäandern darf. 'Licorice Pizza' ist ein exquisiter Straßenköter von einem Film: er schnuppert mal hier und mal da und gelegentlich auch in einigermaßen fragwürdigen Winkeln, und vor allem lässt er sich leicht ablenken. ... Aber er beißt nicht, dieser Straßenköter, und außerdem schaut er in seinen warmen 35mm-Farben so putzig aus, dass man ihm unmöglich ernsthaft böse sein kann."

Auch mit diesem "unbeherrschten, unvorhersehbaren Liebesfilm" setzt Anderson dem San Fernando Valley wieder ein Denkmal, schreibt Daniel Moersener in der taz. Nicht so richtig begeistert ist Andreas Busche im Tagesspiegel: Die "lärmigen, eitlen Cameos" namhafter Schauspieler unterwandern "das anstrengungslose Spiel" der beiden Jungstars und auch die Nostalgie des Films erweise sich "als schlechter Ratgeber. ... Andersons Zeitkolorit spielt ironisch mit dem Umgangston in den Siebzigern - dem Sexismus (Alanas Chef haut ihr beim Vorbeigehen auf den Hintern), dem latenten Rassismus (es gibt ein paar selten dämliche Witze über Asiaten). Aber zu mehr als einem wissenden Lacher kann sich der Film am Ende nicht aufschwingen. Man könnte es als einen Konstruktionsfehler männlicher Nostalgie abtun, wenn wenigstens die Figuren über dieses Bewusstseinsstadium hinausweisen würden." Weitere Kritiken in Standard und Presse.

Netflix scheitert sich nach oben, könnte man vielleicht als Resümee aus den aktuellen Streaming Wars ziehen, über die Nina Rehfeld in der FAZ einen Überblick bietet: Die Wachstumsrate hat ein Plateau erreicht, zugleich erhöht sich der Konkurrenzdruck enorm, womit der Bedarf an Investitionen steigt. "Mehr als 115 Milliarden Dollar, so schrieb die Financial Times Ende Dezember, werden die acht wichtigsten amerikanischen Medienkonzerne in diesem Jahr in Inhalte investieren. Und das, obwohl das Streaming-Business für viele Firmen schon jetzt ein Verlustgeschäft ist, wie die Investmentbank Morgan Stanley befindet - vor allem für Konzerne, die den Übergang von traditionellen Unterhaltungsformaten wie Fernsehen und Kino zum Streaming suchten. Aufgrund der zunehmenden Konkurrenz steigen die Produktionskosten, auch die Kreativen sind nur noch zu extremen Preisen zu haben, nachdem Netflix die Hitproduzenten der amerikanischen Fernsehlandschaft mit neunstelligen Summen an sich gebunden hat."

Außerdem: Christiane Peitz stellt im Tagesspiegel die Berlinale-Jury vor, der in diesem Jahr M. Night Shyamalan vorstehen wird. Im Standard gratuliert Ronald Pohl der Schauspielerin Erni Mangold zum 95. Geburtstag, aus welchem Anlass das Filmarchiv Austria ihr eine Retrospektive widmet.

Besprochen werden Antonia Kilians Dokumentarfilm "The Other Side of the River" über eine vor dem IS geflohene Kurdin, die sich zur Polizistin ausbilden lässt (critic.de, taz, SZ), Wen Shipeis "Are You Lonesome Tonight?" (Perlentaucher, taz, ZeitOnline), Mika Kaurismäkis "Eine Nacht in Helsinki" (critic.de) und die vierte Staffel der Netflix-Serie "Ozark" (NZZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst

Künstler- und Kuratorenkollektive, wohin das Auge blickt, stöhnt Stefan Trinks in der FAZ. Er hält diese Entwicklung für fatal, weil sie nicht nur die Kunst in einem Meer von Beliebigkeit versinken lässt, sondern auch den einzelnen Künstler in einem Meer der Gleichmacherei. Und dann führt die Kollektivierung auch noch zu einer Politisierung der Kunst, wie man gut an der Documenta studieren kann, meint er, beispielsweise am BDS-unterstützenden palästinensischen Khalil Sakakini Cultural Center (KSCC), das "primär keine Künstlervereinigung, sondern eine politische" sei: "Der Vorrang der Politik vor der Kunst trifft auf beinahe alle gesetzten Kollektive der Documenta zu. ...  Die einst garantierte künstlerische Freiheit ist dadurch einer prinzipiellen Angreifbarkeit gewichen. Insofern ist die Emphase, mit der sich amtierende und einstige Bürgermeister von Kassel zur Verteidigung des Projekts auf die Freiheit der Kunst berufen, verfehlt: ruangrupa wollte eine durch und durch politisierte Documenta; nun wird sie sich politisch befragen lassen müssen."

Anlässlich einer Ausstellung im Kunsthaus Bregenz unterhält sich Angelika Drnek für die NZZ mit der aus Nigeria stammenden und in Antwerpen lebenden Künstlerin Otobong Nkanga, die westliches Denken und den Kapitalismus für die Wurzel allen Übels hält. Dass dieses System sich ändert, glaubt sie kaum, "es ist ja so stark eingebettet in alles. Und es will nicht akzeptieren, dass es ganze Gruppen von Menschen ausgebeutet hat, dass es indigenes Wissen begraben hat. Es ist verbunden mit einer tiefsitzenden Ideologie der Ausbeutung. Unser Ökonomiedesign kann sich nur unter einer Bedingung ändern: wenn die westliche Ideologie stirbt. Will die Ideologie das?"

Heinrich Vogler, Studie zu "Versammlung kurdischer Hirten". Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie


Ingeborg Ruthe betrachtet in der Neuen Nationalgalerie für die FR die "Komplexbilder", die Heinrich Vogler in der Sowjetunion malte. Damals träumte er noch von der "Geburt des neuen Menschen", erzählt Ruthe, den er bei der Arbeit darstellte. "Mit der Technik der 'Komplexbilder' glaubte er, ein formales Prinzip gefunden zu haben, das sich aus den neuen sozialen Strukturen und Prozessen in der Sowjetunion ergebe und diese zugleich zum Ausdruck bringe - den 'synthetischen Charakter' der Sowjetkultur. Diese ziele nicht nach kapitalistischer Manier auf Konkurrenz, sondern auf ein organisches Zusammenwirken der 'Triebkräfte'. Vogeler hoffte, diese Bilder würden Vorlagen für Wandgemälde-Aufträge. Aber auch im gelobten Land eckte der Enthusiast an. Stalin missfielen seine Bilder, das Verdikt lautete 'Formalismus'. Das Pathos nutzte nichts. Es war wohl allzu deutlich gemalt, unter welch primitiven Bedingungen der Kommunismus unterm Roten Stern siegen sollte." Vogler wurde nach Kasachstan verbannt, wo er 1942 krank und in "bitterer Not" starb.

Weitere Artikel: Nicola Kuhn lässt sich für den Tagesspiegel von der Kuratorin Anna Gritz, neue Direktorin des Hauses am Waldsee in Berlin, ihre Ausstellungspläne erzählen. Laura Weissmüller stellt in der SZ die neue Direktorin des Wiener MAK, Lilli Hollein, vor. Und in einem zweiten Artikel begutachtet sie die Finalisten des DAM-Wettbewerbs vor.

Besprochen werden die Transmediale-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste (die "die Schäden und das Toxische der Technologie" untersucht, so Birgit Rieger im Tsp, taz), die Ausstellung "Scheitere an einem anderen Tag" in der Berliner Galerie Nord (taz) und die Georgia-O'Keeffe-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel (Zeit).
Archiv: Kunst

Literatur

Für die SZ porträtiert Marie Schmidt Jakob Augstein, der mit "Strömung" seinen Debütroman vorgelegt hat. Der Freitag-Eigentümer will sich künftig wohl nur noch der Literatur widmen: "Seinen Twitter-Account hat er im Herbst 2020 gelöscht", seine Spiegel-Kolumne ist eingestellt. "Das Impressum des Freitag führt ihn als einen von drei Chefredakteuren, aber er schreibe kaum noch und habe auch kein Büro mehr in der Redaktion, sagt er: 'Ich kann nicht für andere Leute sprechen, aber ich werde im Kommentiergeschäft nicht gut alt. Die Meinungsbereitschaft nimmt bei mir im Lauf der Zeit ab.'"

Außerdem: Die Welt dokumentiert Richard Kämmerlings' Laudatio auf die Schriftstellerin Judith Hermann, die mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Sieglinde Geisel unterzieht Michel Houellebecqs "Vernichten" dem Page-99-Test von Tell.

Besprochen werden unter anderem Yasmina Rezas "Serge" (Freitag), Andreas Puff-Trojans Essay "Vampire! Schattengewächse der Aufklärung" (NZZ), Fabien Grolleaus und Nicolas Pitz' Comicbiografie über Angela Davis (Intellectures), Martin Suters biografischer Roman "Einer von Euch" über Bastian Schweinsteiger (online nachgereicht von der FAZ) und Abbas Khiders "Der Erinnerungsfälscher" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Die andere Frau". Foto: Ludwig Olah


Sehr viel mehr Zuhörer, als pandemiebedingt möglich waren, hätte nmz-Kritiker Michael Ernst der Uraufführung von Torsten Raschs "Die andere Frau" an der Dresdner Semperoper gewünscht: Wegen der "klanggewaltigen" Musik von Rasch, aber auch dem "wortgewaltigen" Libretto von Helmut Krausser, "der aus einer biblischen Legende die Poesie des überlieferten Wortes herausgefiltert und sie mit einer zupackend harten heutigen Sprache konfrontiert hat." Das Publikum sitzt im Bühnenraum, "mit dem Blick Richtung Saal. Dort steht zentral auf einem Podest im Parkett eine 'Augenzeugin', die mit betörendem Gesang von der Zerstörung der Stadt Ur berichtet. Zu elektronischem Einspiel singt Sussan Deyhim auf hebräisch diesen prähistorischen Text, dazu flimmern Licht-Spiele von László Zsolt Bordos, erhellen das Ambiente mal goldig und edel, dann mit flirrenden Punkten, Bögen und Strichen. Wie eine Barriere zwischen Bühne und Saal erstreckt sich ein durchgehender, mit Hunderten und Aberhunderten Schuhen drapierter Steg zwischen den vorderen Seitengassen. Zerlatscht, ausgetreten und unbrauchbar geworden, geben sie die Schichten der Äonen wider, in denen Menschen seit Generationen wegen Flucht und Vertreibung über die Erde ziehen."

Andreas Wilink denkt in der nachtkritik über die Theaterkritik nach: "Wenn Kunst der Versuch ist, das Unmögliche zu entwerfen, zu komponieren, zu sprechen, zu spielen, in Bild und Wort zu erfassen, vor uns hinzustellen, und diesen Anspruch ins Werk setzt, gleichgültig, ob Gelingen oder Scheitern dabei am Ende stehen, ist sie dann nicht auch Stachel für den Betrachter, zumal den kritischen Betrachter, der sich habituell in diesem Unmöglichkeits-Raum aufhält, um sein Möglichstes zu tun, indem er es, nennen wir es vorsichtig, bezeugt? Aber selbst auch ahnungsweise ein Sehnen verspürt und das Sensorium besitzt für die Begegnung mit diesem Unmöglichen als dem Anderen. Was freilich das Rätsel der Wahl noch nicht löst."

Besprochen wird außerdem Giacomo Puccinis "Il Trittico" am Aalto Theater in Essen (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Hartmut Welscher und Jeffrey Arlo Brown präsentieren im VAN-Magazin ihre Recherchen zur Stimmung an der Staatskapelle Berlin, wo Daniel Barenboim im Jahr 2000 als Leiter auf Lebenszeit bestimmt wurde - eine Entscheidung, die "zur Hypothek zu werden" drohe - und wo bereits 2019 Kritik an Barenboims Führungsstil laut wurde. Am seitdem installierten Dialogprozess am Haus habe er nicht teilgenommen. Deutlich werde bei der Durchsicht interner Dokumente, "wie gespalten das Orchester und wie angespannt die Beziehung zu seinem Chefdirigenten ist". Es "machen Mails im Orchesterverteiler die Runde, in denen beide Seiten sich jeweils vorwerfen, das Orchester zu spalten, hinter dem Rücken anderer Intrigen zu spinnen und nicht im Sinne der Allgemeinheit zu handeln". Zudem werde "das Dramadreieck komplettiert von einer Kulturpolitik, die es in der Causa Barenboim verpasst hat, das immer fragiler werdende Beziehungsgeflecht an der Staatsoper rechtzeitig zu stabilisieren."

Krautrock-Hero Michael Rother hat mit seiner Partnerin Vittoria Maccabruni ein neues Album namens "As Long As The Night" aufgenommen, dem Standard-Kritiker Christian Schachinger zufolge ein guter Spagat gelingt: Es "setzt auf alte Qualitäten und bleibt interessiert an heutigen Sounds und Techniken." Es "kombiniert - für Instrumentalist Rother selten - Maccabrunis sparsam eingesetzten Flüstergesang mit elektronischen Beats zwischen Minimalismus und Sperrigkeit, die man sonst bei Acts wie Autechre hören kann. Rothers Gitarre im zart schwebenden und angezerrten Tremolo-Modus kann im repetitiven Strudel noch immer romantisch werden. Das Abschlussstück 'Happy (Slow Burner)' untermauert eine alte Meisterschaft im Bereich der herzerweiternden Spieldosenballade." Wir hören rein:



Beeindruckende Konsequenz: Weil Spotify dem Podcaster und Coronaskeptiker Joe Rogan eine prominente Bühne bietet, hat Neil Young seine Drohung nun wahr gemacht und seine Musik von dem Streamingdienst komplett abgezogen, melden die Agenturen. Der wegen sexueller Nötigung verurteilte Pianist Siegfried Mauser bittet den österreichischen Bundespräsidenten um einen Gnadenerlass, meldet Patrick Bahners in der FAZ.

Besprochen werden OG Keemos Rapalbum "Mann beißt Hund" (SZ), Tara Nome Doyles Album "Værmin" (online nachgereicht von der FAS) sowie das gemeinsame Album "Metta, Benevolence" von Sunn o))) und Anna von Hausswolff (taz).
Archiv: Musik