Efeu - Die Kulturrundschau

Verachtung für die Nutella-Bürgerlichkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2022. Der Oberserver wandelt durch die Künstlerateliers eines Jahrhunderts. FAZ und FR freuen sich, wie die Oper Frankfurt mit Rossinis-Klischees aufräumt. In der SZ spricht die Historikerin Kira Thurman über die Geschichte schwarzer Musiker im deutschen Klassikbetrieb. Und auf ZeitOnline denkt Christian Bangels darüber nach, was die Jugend im Osten in den neunziger Jahren ausmachte: Männlichkeit, Loyalität und Härte oder die Klassenlosigkeit der Gewalt?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2022 finden Sie hier

Kunst

Helen Frankenthaler in ihrem Atelier, 1957. Fotografiert von Gordon Parks. © The Gordon Parks Foundation

Absolut bahnbrechend findet Laura Cummings im Observer die Schau "A Century of the Artist's Studio" in der Whitechapel Gallery in London, die auf geradezu magische Weise Einblick in die Ateliers der großen KünstlerInnen des 20. Jahrhundert gewährt: "Das Jahrhundert fließt wie ein unterirdischer Fluss durch die Schau. Egon Schiele stellt 1916 seinen Zeichenkasten im Büro eines Kriegsgefangenenlagers auf. Zehn Jahre später schuftet Brancusi in der dunklen Nacht auf seinem Pariser Dachboden. Frida Kahlo arbeitet während des Zweiten Weltkriegs mit einem Torso aus Gips von ihrem Krankenbett aus, während Picasso in den 60er Jahren in einem majestätischen französischen Schloss sein Atelier einrichtet. Cindy Sherman erfindet sich selbst, Figur für Figur, in ihrem Loft in Manhattan in den späten 1970er Jahren, das Blitzlichtkabel zieht sich sichtbar über den Boden. In Johannesburg spielt William Kentridge zwei Versionen seiner selbst auf dem Bildschirm und diskutiert über den Wert der politischen Kunst im digitalen 21. Jahrundert."

Weiteres: Ronald Berg greift in der taz den Streit über Walter Smerling großzügig subventionierte Pseudo-Kunsthalle auf, der sich zu einer grundsätzlichen Kritik an der Berliner Senatspolitik der Standortförderung auswächst.

Besprochen werden die Ausstellung "Walk!" in der Frankfurter Schirn (FAZ), die Konzeptschau "Futura" in der Hamburger Kunsthalle, mit der Bogomir Ecker die Besucher "im buddhistischen Sinne" zur Ruhe kommen lassen möchte (SZ), die Schau "Environmental Hangover" des brasilianisch-schweizerischen Künstlers Pedro Wirz in der Kunsthalle Basel (NZZ) und Alea Horsts Fotoband "Manchmal male ich ein Haus für uns" über Kinder in Flüchtlingslagern (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Christian Bangel nimmt auf ZeitOnline den Ostjugend-Bücherfrühling (unser Resümee) zum Anlass, über das Aufwachsen in Ostdeutschland in den Neunzigern nachzudenken, als Brutalitäten und Verrohrungen deutlich präsenter als heute waren. "Wo war bei alledem eigentlich das, was gemeinhin als 'liberale Mitte' bezeichnet wird? ... Über 30 Jahre nach der Wende drängt sich die Frage schon auf, was genau viele von uns Ossis mit den Faschos eigentlich teilen. Ist es ihr Begriff von Männlichkeit, Loyalität und Härte, den auch viele von uns in Kindergarten und Schule anerzogen bekommen haben? Oder ist da eine verborgene Sehnsucht nach vergangener Überschaubarkeit, Planbarkeit? Ist es das historische Pathos, dessen sie sich unablässig bedienen, die Erzählung von einer neuen Revolution, die alle befreit, die nichts zu verlieren haben? Ist es das Anarchische, Klassenlose ihrer Gewalt? Oder ist es die Verachtung für die provinzielle Nutella-Bürgerlichkeit der westdeutschen, weißen Altersgenossen?"

Außerdem: Die FAS hat ihr Gespräch mit der Schriftstellerin Vendela Vida über deren neuen Roman "Die Gezeiten gehören uns" online nachgereicht. Thomas Milz erinnert in der NZZ an Lotte und Stefan Zweigs Suizid in Brasilien vor 80 Jahren.

Besprochen werden unter anderem Ljudmila Ulitzkajas Erzählsammlung "Alissa kauft ihren Tod" (Tsp), Maddalena Fingerles "Muttersprache" (FAZ), Julia Schochs "Das Vorkommnis" (Tsp), Can Xues "Liebe im neuen Jahrtausend" (Tsp), der erste Teil aus Zhou Haohuis Thriller-Trilogie "18/4" (Tsp), Percival Everetts "Erschütterung" (Tsp) und Alfred Hornungs Biografie über Al Capone (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Wir sind in venedig: Rossinis "Bianca e Falliero" Foto: Barbara Aumüller

In Frankfurt hat Tilmann Köhler Gioachino Rossinis Oper "Bianca e Falliero" auf die Bühne gebracht. Angesichts der äußerst fein gesponnenen Musik kann Judith von Sternburg in der FR die etwa simple Geschichte um die Patriziertochter Bianca gut verkraften, die statt ihres Geliebten Falliero den Capelio heiraten soll, gut verkraften. Ganz un dgar überwältigt ist allerdings Wolfgang Fuhrmann in der FAZ. Die Koloraturen kommen hier nicht aus der geläufigen Kehle, sondern auch dem überschäumenden Affekt, schwärmt Fuhrmann: "Das gilt für den stets nervös agierenden Lebow, der den absurden Herausforderungen seiner Tenorpartie souverän gewachsen ist. Es gilt für den Bass Kihwan Sim als edelmütig-mitleidsvoller, aber durchaus auf seinen Vorteil bedachter, in seinen Koloraturen prächtig knatternder Capellio. Es gilt für die in ihren schönsten Momenten dunkelsüß wie alter Portwein intonierende Mezzosopranistin Beth Taylor, deren Falliero freilich ebenso toxisch und manipulativ agiert wie die beiden anderen Männer. Vor allem aber gilt es für Heather Phillips... Ernst und Spannung dieses Abends strafen alle deutschen Rossini-Klischees Lügen."

Besprochen werden der trashige Shakespeare-Abend "Queen Lear" am Maxim-Gorki-Theater ("Dass der Abend trotz der inhaltlichen Dürftigkeit streckenweise durchaus Spaß macht, liegt an den Schauspielern, die sich mit Vollkaracho in die Schlacht werfen", meint Peter Laudenbach in der SZ, Tsp, Nachtkritik), die Uraufführung von Thierry Tidrows "Der Hässliche" am Theater Dortmund (taz), die Oper "Santa Chiara" des Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg am Staatstheater Meiningen (Tsp), Charles Wuorinens Oper "Brokeback Mountain" im Stadttheater Gießen (FR).
Archiv: Bühne

Film

In der FAZ ärgert sich Michael Hanfeld über die Arte-Doku "Angela Merkel - Im Lauf der Zeit" von Torsten Körner, der seinen privilegierten Zugriff lediglich nutzt, um eine schmeichelnde Hagiografie vorzulegen, in der die frühere Bundeskanzlerin, umgeben von Menschen, die "wie Deppen wirken", stets das Richtige tut. Dieser Film "bezeugt die Sicht auf eine Welt, deren Dreh- und Angelpunkt die Blase Berlin ist und sonst nichts. Da gibt es kein Afghanistan, kein China, keinen Wladimir Putin. Schon klar, dass der russische Zar mit dem Angriff auf die Ukraine  gewartet hat, bis Merkel weg war. Aber vorbereitet hat er ihn seit langem." Tsp-Kritiker Jan Freitag staunt hingegen darüber, dass der Filmemacher Körner, dem "selbst berühmteste Protagonisten zufliegen wie Wespen dem Bienenstich", in diesem Film "trotz zweier Exklusivinterviews, trotz Gesprächspartnern vom Kaliber Barack Obamas, trotz sperrangelweit offener Türen in diverse Entscheidungszentren, es 90 Minuten lang schafft, mittendrin Distanz zu wahren und doch empathisch zu bleiben."

Besprochen werden Baz Luhrmanns Biopic über Elvis (Tsp), Tobias Wiemanns "Der Pfad" (SZ), das Sportdrama "King Richard" mit Will Smith (Standard) und die Netflix-Serie "Inventing Anna" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

In der SZ spricht die Historikerin Kira Thurman über ihre Forschung über die Geschichte schwarzer Musiker im deutschen Klassikbetrieb, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Deutschland war seinerzeit für viele eine Art Sehnsuchtsort, man kam etwa hierher, um "der schwarze Wagner zu werden". Man begegnete ihnen mit Zuschreibungen: In Kritiken "las ich zum Beispiel oft, dass schwarze Sängerinnen besonders rauchige Stimmen hätten, so dunkel eben wie ihre Haut." Und "einige Kritiker schrieben beispielsweise erstaunt, die Sänger würden wie Weiße oder eben wie Deutsche klingen. Wenn die schwarzen Künstler also sehr gut waren, dann hörten sie für die Musikkritiker auf, schwarz zu sein. ... Im Grunde gilt für die Rezeption leider immer: Der Universalismus der klassischen Musik hört auf, wenn schwarze Musiker die Bühne betreten."

Max Nyffeler berichtet in der FAZ von der Musikfilmmesse Avant Première, wo die Branche auch kritisch auf die letzten zwei Jahre zurückblickt: "Mit der Zeit hätten alle Beteiligten gemerkt, dass 'eine sinnlose Inflation von Content' niemanden nütze, und artikuliert damit ein allgemeines Unbehagen. Sekundiert wird er von Frank Gerdes von Servus TV; die vielen aus der Not geborenen 'Handy-Wohnzimmer-Filmchen' hätten der Kunst keinen Gefallen getan. Immerhin seien im Laufe der Zeit dank Fördermitteln ernst zu nehmende, professionelle Filmformate entstanden, in denen die Kommunikation mit den Zuschauern zu Hause gesucht wurde."

Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Valery Gergiev (Standard), ein Konzert des Cellisten Nicolas Altstaedt in München (SZ) und eine limitierte Box mit den Alben, die Ornette Coleman für Blue Note aufgenommen hat und auf denen der Jazzsaxophonist zwar weniger radikal ist als auf seinen vorangegangen Alben, die "den notorischen Störenfried der musiktheoretischen Ordnung aber noch einmal als Fackelträger der Moderne zeigten", wie Andrian Kreye in der SZ schreibt.
Archiv: Musik