Efeu - Die Kulturrundschau

Es geht immer noch dunkler

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09.03.2022. Die Filmkritiker lassen sich für einen Moment von Pop, Chic und der leisen Ironie in Pedro Almodovars "Parallele Mütter" ablenken. Kann Frankreich die derzeit in Paris ausgestellte Sammlung Morosow im Zuge der Sanktionen gegen Russland einfach beschlagnahmen?, fragt die Welt. Babi Jar steht paradigmatisch für Europa - Europa ist ein von Kriegen geformter Kontinent, sagt der Architekt Manuel Herz in der NZZ. Und die Musikkritiker schreiben dem lachenden und bellenden Phil Collins einen Nachruf zu Lebzeiten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2022 finden Sie hier

Film

Realitätssinn in der Seifenoper: Milena Smit und Penélope Cruz in Pedro Almodóvars "Parallele Mütter"

"Der Pop, le chic, der Kitsch sind immer noch gute Trostpflaster für existentielle Krisen", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ, nachdem er "Parallele Mütter", den neuen Film von Pedro Almodóvar gesehen hat. Der spanische Autorenfilmer kreuzt diesmal den Trubel über eine überraschende Schwangerschaft mit der Aufarbeitung des spanischen Bürgerkriegs. Mit den existenziellen Krisen nimmt es Almodóvar, mittlerweile über 70, in seinen letzten Filmen ziemlich ernst: "Die Liebesszenen" etwa "finden im Verborgenen statt, im Dunkeln. Die Abblenden an den Enden der Szenen, von den Gesichtern ins Schwarz, wirken so endgültig wie noch nie. Selbst ein schwarzer Kaffee wird noch in ein schwarzes Bild überblendet. Es geht immer noch dunkler. Es geht immer noch schmerzhafter." Doch "auch in den finsteren Augenblicken lässt der Film eine leise Ironie walten", versichert uns Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Die Tonarten leichthändig und souverän zu mischen, es ist Almodóvars Spezialität. Noch der verrücktesten Seifenopern-Volte trotzt er Realitätssinn ab, und wie kein anderer vermag er, genrefluid zu erzählen." Und Andreas Kilb stellt in der FAZ fest: "Einatmen, Ausatmen, Pressen und Loslassen, Anspannung und Pause. Das Leben hat einen Rhythmus bei Almodóvar, der mit keinem anderen Erzählstil im Kino vergleichbar ist." Für die FAS hat Mariam Schaghaghi mit Almodóvar gesprochen.

Außerdem: In der Welt schreibt Daniel Kothenschulte zum Tod der Experimentalfilmemacherin Dore O. Besprochen wird der neue Jackass-Film (Welt).
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Kunst

In der Pariser Fondation Louis Vuitton ist noch bis April die megalomane Schau mit mehr als 200 Kunstwerken aus der Sammlung Morosow zu sehen. Die aus Meisterwerken der europäischen Avantgarde bestehende Privatkollektion der Brüder Morosow wurde 1918 auf Befehl von Lenin verstaatlicht. Im Zuge der Sanktionen gegen Russland wird nun in Frankreich diskutiert, die Sammlung zu beschlagnahmen, berichtet Jan Küveler in der Welt: "Der Wert ist unvorstellbar. Allein die Versicherungssumme soll rund zwei Milliarden Euro betragen. Arnaults Berater Jean-Paul Claverie beschwichtigte gegenüber dem Figaro, bislang gebe es keine Rückforderung seitens der russischen Museen oder der Botschaft. Wie vereinbart fühle man sich verpflichtet, die Werke zurück zu bringen. Er betonte allerdings auch die Verantwortung der Fondation für ihren Schutz. (...) Seit dem Frühjahr 2021 gibt es in Frankreich einen Erlass, der speziell für die Fondation Louis Vuitton verlängert wurde. Er besagt, dass Werke für die Dauer ihrer Ausstellung vom Staat nicht konfisziert werden dürfen. Was heißt das aber für das Limbo danach, wenn die Ausstellung geendet hat, die Bilder allerdings zu ihrem eigenen Schutz vor dem Nebel des Krieges in Paris bleiben? Könnte der französische Staat dann zugreifen?"

Die UNESCO hat dazu aufgerufen, das ukrainische Kulturerbe zu schützen - besonders die sieben Welterbestätten und die 5000 Museen, berichtet Kevin Hanschke in der FAZ. Aber es mangelt an Lastwagen, zudem sind viele Museumsmitarbeiter sind auf der Flucht: "Auch Peter Keller, Generaldirektor des ICOM, sorgt sich. 'Die Evakuierung der Sammlungen ist eine Option, aber in Städten wie Charkiw ist es wahrscheinlich zu spät', sagt der Kunsthistoriker. Trotz des Überraschungsangriffs hätten Museumsmitarbeiter versucht, 'die Sammlungen in Sicherheit zu bringen, ins Untergeschoss des Museums oder sie mit Stacheldraht zu sichern'. Eine Evakuierung der Sammlungen vor Kriegsbeginn sei daran gescheitert, dass eine Genehmigung nötig gewesen wäre, für die sich die ukrainischen Kollegen vergeblich einsetzten. Auf internationaler Ebene wird nun überlegt, wie auf den Krieg in der Ukraine zu reagieren ist. Es stehen Pläne zur Debatte, trotz aller logistischen und rechtlichen Schwierigkeiten ukrainische Sammlungen in die Nachbarstaaten zu retten."

Außerdem: In der taz schildert Katharina J. Cichosch, wie der Sohn des ukrainischen Avantgarde-Künstlers Fedir Tetianych versucht, das umfangreiche Werk seines Vaters aus Kiew zu retten. Aber: "'Wir sehen leider momentan überhaupt keine Möglichkeit, Kunstwerke aus der Ukraine sicher zu transportieren oder sicher in der Ukraine zu lagern', sagt Rainald Schumacher, der die Art Collection der Deutschen Telekom kuratiert, die sich osteuropäischen Perspektiven verschrieben hat. Eine Ausfuhr - falls sie überhaupt gelänge unter den gegebenen Umständen - sei mit hohem organisatorischen Aufwand und strengen Zollkontrollen verbunden, um Kunstraub vorzubeugen." Die deutsche Künstlerin Katarina Fritsch und die Chilenin Cecilia Vicuña erhalten am 23. April den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig für ihr Lebenswerk, meldet der Standard. Im Fotolot des Perlentauchers empfiehlt Peter Truschner dringend, noch bis zum 13. März die erste Retrospektive der südafrikanischen Künstlerin und Aktivistin Zanele Muholi im Berliner Gropiusbau zu besuchen.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken des Fotografen Martin A. Völker in der Berliner Galerie Nüüd (Tagesspiegel).
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Literatur

Im FAZ-Gespräch empfiehlt Volker Weichsel von der Zeitschrift Osteuropa (mehr im heutigen 9Punkt) auch ukrainische Autoren, die man kennen muss: "Der erste ist Serhij Zhadan aus Charkiw. Seine Bedeutung als Schriftsteller und moralische Autorität ist in der Ukraine sicherlich so groß wie jene, die Heinrich Böll oder Günter Grass im Deutschland der Siebzigerjahre hatten." Auf Zhadan kommt auch Marie Luise Knott in der aktuellen Ausgabe ihrer Lyrikkolumne "Tagtigall" beim Perlentaucher zu sprechen: Der Dichter "hat in seinem Buch 'Warum ich nicht im Netz bin' bereits 2015 in Liedern, Gedichten und einem Tagebuch die Gewalt der Kriegssprache und Kriegsbilder reflektiert; die Sprache des Krieges sei kalt und sein Vokabular ströme in die Gespräche, wie Passagiere in die morgendlichen 'Terminals'. Zu viele Wörter hätten im Krieg einen metallischen Nachgeschmack, und die Kriegssprache sei der Versuch, alle Beziehungen umzuprägen." Im Dlf Kultur empfiehlt Martin Sander Juri Andruchowytsch. Eine Übersicht mit Büchern aus und über die Ukraine haben wir ihnen in unserem Online-Buchladen Eichendorff21 zusammengestellt.

Besprochen werden unter anderem Franz Dahlems autobiografische Erzählung "Am liebsten würde ich Marilyn Monroe sein" (Zeit), Vladimir Vertlibs "Zebra im Krieg" (Standard), Golo Maurers "Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst" (SZ), Hektor Haarkötters "Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert" (FR) und Ursula Krechels Essayband "Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen" (FAZ).
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Musik

Auf ihrer ausgedehnten Reunion- und Abschiedstour mit einem sichtlich von Alter und Krankheit gezeichneten Phil Collins sind Genesis nun auch in Deutschland aufgeschlagen. Auf ZeitOnline nutzt Jens Balzer den mal mitreißenden, mal ergreifenden, aber auch mal peinlichen Abend für eine Art Nachruf zu Lebzeiten. Insbesondere der im Sitzen singende Collins fasziniert ihn: Am besten wirke er "in den Songs aus den frühen Achtzigerjahren, in denen die Gruppe mutwillig alles zerstörte, was sie an musikalischer Verfeinerung im vorigen Jahrzehnt gepflegt und geprägt hatte - und in denen er, mit Vocodereffekten und anderen Formen der maschinellen Manipulation, seiner Stimme einen metallenen, entsubjektivierten, bedrohlichen Klang verlieh. Zu diesem Soundbild passt seine heutige Erscheinung interessanterweise weit besser als zur Zeit von dessen Entstehung. Damals wirkte er stets zu jung und zu zappelig für diese Art der fröstelnden Traumamusik; jetzt, wo er zitternd und böse in seinem Drehstuhl ins Mikrofon lacht und bellt, hat das artifizielle Phil-Collins-Alter-Ego aus jener Zeit endlich in den verfallenen Körper gefunden, nach dem es sich damals schon sehnte."

Von einem "Triumph" spricht Jan Wiele in der FAZ und schreibt dies gerade Collins' ausgestellter Gebrechlichkeit zu: "Schien es bis vor Kurzem noch darum zu gehen, Achtzigjährige als topfitte Gymnastiker auszustellen (Mick Jagger) oder sie in Form digitaler Avatare ewig jung zu halten (Abba), scheint ausgerechnet die Band mit dem Namen Genesis nun sagen zu wollen: Der Verfall und alles ihm Abgetrotzte gehören mit zum Leben und daher auch auf die Bühne." Hier der Auftakt des Berliner Konzerts, frühere Shows in voller Länge gibt es auf Youtube zuhauf:



Nilüfer Yanya macht Indierock auf E-Gitarre, was für eine Milennial-Musikerin ja erst einmal ungewöhnlich ist. Die Stimmung ihrer Generation bringt sie auf ihrem neuen Album "Painless" aber dennoch passgenau zum Ausdruck, schreibt Timo Posselt in der SZ, der hier erfährt, "wie es jenen geht, deren Zukunftshorizont seit Jahren auf immer innovativere Art implodiert. Die Erschöpfung in Yanyas Stimme ist auf 'Painless' schier mit Händen zu greifen. ... Wie eine dunkle Wolke schwebt über diesen Songs etwas Fatalistisches: Die Wut über Ignoranz, Kränkung und Ungerechtigkeit ist geschluckt - aber sie gärt noch. Fürs Erste nimmt man aber alles hin. So schüttet Yanya in 'Company' ihre Illusionslosigkeit zu einem verstrahlten Riff in nur eine dürre Zeile: 'Good luck human if that's your choice.' Danke, Glück kann man ja grad gut gebrauchen."



Außerdem: Im FR-Gespräch blickt der Sänger Christian Gerhaher eher skeptisch in die Zukunft des Konzertbetriebs: Dass die Zuschauerzahlen wieder ihr Vor-Pandemie-Niveau erreichen, glaubt er nicht. Standard-Popkritiker Christian Schachinger fühlt sich angesichts des Kriegs in der Ukraine und den Kämpfen um Atomkraftwerke dort an die von Nuklearängsten heimgesuchte Popmusik der Achtziger erinnert. In der FAZ gratuliert Edo Reents John Cale zum achtzigsten Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album "Kritik der Leistungsgesellschaft" des Knarf Rellöm Arkestra (taz), ein von Vladimir Jurowski dirigierter Münchner Konzertabend mit der Sopranistin Sabine Devieilhe (SZ), ein Hamburger Auftritt von Damon Albarn (taz), neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von Dolly Parton (ein "sehr archetypisches, sehr amerikanisches Country-Werk", schreibt SZ-Popkolumnist Jakob Biazza), sowie Charlotte Adigérys und Bolis Pupuls Album "Topical Dancer" (Pitchfork).

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Bühne

Bild: Beth Chalmers

In der FAZ erschrickt Christoph Weißermel über die Aktualität jener Stücke, die er sich an verschiedenen Theatern in Washington angesehen hat. Zwei Stücke über die Kuba-Krise stehen auf dem Spielplan, das Studio Theatre zeigt indes das Stück "Flight" des schottischen Theaterensembles "Vox Motus" über den Afghanistan-Krieg: "Es ist eine der Stärken der Inszenierung, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Idee, man könne aus dem warmen Theatersessel heraus jemals die Schrecknisse einer Kriegsflucht begreifen, eine Illusion bleiben muss. 'Flight' verzichtet daher auf voyeuristischen Naturalismus und setzt stattdessen wirkungsvoll auf die individuelle Vorstellungskraft. So sehen wir Aryans und Kabirs schwere Überfahrt über das Meer in kleinen, schlaglichtartig aufleuchtenden Dioramen, in denen ein Schlauchboot gegen die Wellen kämpft. Bewegtbilder gibt es nicht, stattdessen hören wir das Brausen von Sturm und Meer und immer öfter und immer lauter auch Schreie, als hätte es einen von ihnen schon unter Wasser gezogen."

In der NZZ nutzt Marco Frei seine Kritik von Stefan Herheims Inszenierung von Benjamin Brittens "Peter Grimes" an der Bayerischen Staatsoper vor allem, um sich mal ordentlich Luft zu machen. Er ärgert sich über den Boykott russischer Kunst und Kultur im Allgemeinen und über Intendant Serge Dorny im Besonderen: Ein Engagement von Anna Netrebko habe der storniert, "fragwürdige" Corona-Regeln am Haus eingeführt und Dornys künstlerische Bilanz passt Frei auch nicht: "Hatte sich Dorny an seinem früheren Haus, der Opéra de Lyon, noch den Ruf eines Intendanten erarbeitet, der Kunst für alle Bevölkerungsschichten bieten wollte, so trägt die Stückauswahl bei den Neuproduktionen in München bis anhin recht elitäre Züge. Sie richtet sich vorwiegend an Kenner und Spezialisten der Opernwelt. Dem traditionell ausgeprägten Bedürfnis des Münchner Publikums nach großen Namen und Glamour wird dagegen deutlich weniger Rechnung getragen. Ob Dorny diesen Fokus finanziell wie auch gesellschaftspolitisch durchhalten kann, scheint fraglich."

Besprochen werden Hans-Christian Hegewalds "Showtime" am Staatstheater Darmstadt (FR), Stefan Herheims Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes", "souverän, poetisch angehaucht", meint Joachim Lange im Standard, Guntbert Warns' "König Leat" am Berliner Renaissance Theater (Tagesspiegel) und Christoph Diems Inszenierung von Peter Weiss' Stück "Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird" am Musiktheater Braunschweig (FAZ).
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Architektur

"Dass Babi Jar (…) jetzt wieder zum Kriegsschauplatz wird, ist besonders pervers. Es zeigt uns, wie wir bei allen Versuchen der Erinnerung diese Lektionen doch sehr schnell vergessen", sagt im NZZ-Gespräch mit Sabine von Fischer der Basler Architekt Manuel Herz, der eine Synagoge für Babi Jar entworfen hat: "Es sind nicht nur die Ereignisse vom Herbst 1941. Auch in den Monaten danach fanden dort Massenerschießungen statt. Nach dem Krieg wurde das Areal dann als Ort für die Herstellung von Ziegelsteinen benutzt. Bei einem Bruch eines Dammes im Jahr 1961 starben nach Schätzungen etwa 1500 Menschen durch die Schlammlawine. Es ist also ein verwundeter Ort, dem jetzt ein weiteres Kapitel hinzugefügt wird. Und letztlich muss man vielleicht sagen, dass es etwas typisch Europäisches ist, was hier passiert. Auch wenn wir das gerne ignorieren, ist Europa ein Kontinent, der von Jahrhunderten von Kriegen gezeichnet und geformt ist. Diese Kriege legen sich Palimpsest-artig wie Zeitschichten übereinander. Auch deswegen steht Babi Jar paradigmatisch für Europa. Wir hatten nur das Glück, in den letzten paar Jahrzehnten hier relativ friedlich zu leben."
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Stichwörter: Herz, Manuel, Babyn Jar