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30.03.2022. Ingo Schulze beharrt in der SZ auf Uneindeutigkeit auch beim Krieg gegen die Ukraine. Die Festivalleiterin Ekaterina Degot fordert ebenfalls in der SZ die Wiederbelebung des Kurzwellenradios gegen Russlands messianische Propaganda. Der Tagesspiegel beobachtet die wohlgenährten Geier von Lima, die sich nicht einmal von 170 Kilo Schlachtabfällen anlocken lassen. Die FAZ feiert Audrey Diwans Wahrheitskino. Die NZZ sieht schwarz für die bunte Welt des Plastik. Und die taz bewundert die Bombastlosigkeit in der Nibelungen-Version des Jazzdrummer Max Andrzejewski.
Ganz richtig findet die Leiterin des Steirischen Herbst, Ekaterina Degot, in einem sehr luziden SZ-Interview mit Ingo Arend die Entscheidung, Machtfiguren des Kunstbetriebs wie den Dirigenten Valery Gergiev oder den Regisseur Nikita Michalkow zu boykottieren. Auch die Aufrufe gegen die russische Kultur erscheinen ihr gerechtfertigt, wenn sie sich gegen die messianische Identität Russlands richteten: "Diese Stimmung gibt es tatsächlich in der russischen Kultur, wenn auch definitiv nicht bei Tschechow oder Strawinsky. Aber von nun an werden wir russische Romane mit diesem blutigen Krieg im Hinterkopf lesen, so wie wir die deutsche Romantik mit etwas Vorsicht lesen. War das Gift vielleicht schon da?" Aber auch den russischen Dissidenten muss geholfen werden: "Im Moment geht es darum, dieser Gesellschaft zu helfen, physisch und intellektuell zu überleben, im Exil und in Russland selbst. Man muss viele Anti-Putin-Aktivisten buchstäblich retten, weil sie in Russland jetzt einem enormen Risiko ausgesetzt sind oder in den Nachbarländern ohne europäisches Visum festsitzen. Man muss das Kurzwellenradiowiederbeleben, das den Menschen in Russland die Wahrheit sagen könnte."
Geier über Lima: Foto: Tres / Espacios Revelados Für den Tagesspiegelstreift Philipp Lichterbeck über das Festival "Changing Places" in der peruanischen Hauptstadt Lima, wo etwa das auf Interventionen spezialisierte KunstkollektivTres aus Mexiko 170 Kilo Schlachtabfälle auf einer Art Altar deponierte: "Die Idee hinter dem Projekt 'Türme der Stille II' war es, Geier anzulocken, diese für Lateinamerikas Städte so typischen Tiere, die sich als Allesfresser des Abfalls annehmen und sogar in Perus Wappen auftauchen, weil sie schon für die Ureinwohner eine Bedeutung in Opferritualen hatten. In Lima werden heute sogar trainierte Geier eingesetzt, um illegale Müllhalden aufzuspüren. Es gibt nur ein Problem: Die Geier ignorieren das Fleisch, seit Tagen schon, und werden es auch bis zum Ende der Installation nicht anrühren, kreisen stattdessen zu Dutzenden im Aufwind darüber. Kann es sein, dass die Geier von den Abfällen Limas so gut genährt sind, dass sie die zusätzliche Nahrung gar nicht brauchen?"
Weiteres: In der NZZsorgt sich Georges Waser um ein Lieblingsmotiv der Impressionisten, die Eglise Saint-Valery in Varengeville-sur-Mer, die heute im Meer zu versinken droht. Besprochen werden die Fotografie-Schau "Deutschland um 1980" im LVR-Landesmuseum in Bonn (taz) und Hew Lockes fantastische Prozession in der Tate Britain (Observer).
Der SchriftstellerIngoSchulze, der sich im Vorfeld des Ukrainekriegs über die CIA-Prognose eines bevorstehenden Angriffs zumindest ansatzweise lustig gemacht hatte (unser Resümee), schämt sich in einem von der SZ dokumentierten Brief an einen namenlos bleibenden Freund schon sehr für diese Fehleinschätzung. Gleichzeitig will er sich auf Schwarzweißdenken weiterhin nicht einlassen: "Der russische Überfall hat ein Freund-Feind-Bild geschaffen, das Differenzierungen ad absurdum zu führen scheint, nur eindeutige Bekenntnisse zulässt und hinter jedem Verweis auf andere Kriege oder Ereignisse eine Relativierung zu sehen glaubt." Aber "kommen wir denn bei dem Versuch, Orientierungen zu finden, um eine Haltung, die gegensätzliche Positionen als berechtigt akzeptiert, überhaupt herum? ... In der Literatur gelingt es - anders als in einem Gespräch oder einer wissenschaftlichen Abhandlung -, Widersprüche nebeneinander bestehen zu lassen. Was in einer Talkshow als unlogisch gilt, weil es nicht eindeutig ist, macht die Literatur erst zu Literatur, weil unser Leben eben widersprüchlich und uneindeutig ist."
"Leiden wir nicht gerade an der Sprachlosigkeit, in die uns der Krieg wirft", fragt Björn Hayer in einem FR-Essay über Antikriegslyrik. "Ein Verstummen vermittelt Ausweglosigkeit und veranschaulicht umgekehrt, dass sich Sprachfähigkeit als Schlüssel zur Selbstermächtigung erweist. Mögen manche Gedichte noch so von Fatalismus durchdrungen sein, versprechen sie dennoch Halt in ihrer Form. Sie bannen das Chaos unserer Welt in unser System aus Grammatik, Bildern und Symbolen. ... Gewiss dürfte sein: Auch aus den verheerenden Kämpfen in Osteuropa werden wieder Gedichte hervorgehen. Auch sie werden vom Grauen berichten. Auch sie werden literarische Denkmäler schaffen. Ob man sich ihres mahnenden Impetus noch in Jahrzehnten bei neuen blutigen Auseinandersetzungen vergewissern wird?"
In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller SergeiGerasimow vom "ersten Anflug von Hass", als er vom gefangengenommen russischenKampfpiloten liest, der zuvor noch "Bomben auf meinen Kopf abgeworfen hat. ... Am Abend werden wir erneut bombardiert. Die Bomben fallen jetzt näher, und die Explosionsgeräusche sind noch lauter. Das Gefühl des Schreckens wiegt schwer wie Blei, und es ähnelt überhaupt nicht dem auflösenden Gefühl der Angst, das wir früher im normalen Leben hatten. Es macht uns ein wenig apathisch, wie eine Maus vor einer Schlange, die von deren unbewegtem Blick hypnotisiert ist."
Weitere Artikel: Aus der AutorinLjudmilaUlitzkaja, die zur Annexion der Krim noch öffentlich ihre Scham bekundete, eine Russin zu sein, war bei einer literarischen Veranstaltung in Berlin zur Enttäuschung von tazlerin Katharina Granzin kaum "mehr als allgemeinmenschlicheStatements herauszupressen, die dafür um so apokalyptischer ausfallen". Moritz Baumann (SZ) und Patrick Bahners (FAZ) berichten von einer Veranstaltung im Kanzleramt, bei der Literaten Texte zur Geschichte der europäischen Literatur lasen, was schließlich in eine politische Veranstaltung zum Ukrainekrieg mündete.
Besprochen werden unter anderem VladimirSorokins "Die rote Pyramide" (Zeit), OlgaLawrentjewas Comic über JosefStalin (Intellectures), Kerstin Beckers Lyrikband "Das gesamte hungrige Dunkel ringsum" (Dlf Kultur), MelyKiyaks "Werden sie uns mit FlixBus deportieren?" (FR), Juliane Rebentischs "Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit HannahArendt" (Jungle World) und FatmaAydemirs "Dschinns" (FAZ).
Und in der Welterinnert Tilman Krause an Ludwig UhlandsGedicht "Frühlingsglaue", das 1812 verfasst wurde, "also ebenfalls in Kriegszeiten und in jenem Jahr, als ein anderer Größenwahnsinniger, nämlich Napoleon, seinen Russlandfeldzug begann".
"Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und weben Tag und Nacht, ..."
Eero Arnios legendärer Kugelsessel. Bild: Vitra Design MuseumPlastik - Segen und Fluch. Das denkt sich NZZ-Kritikerin Sabine von Fischer beim Schlendern durch die Ausstellung über den Werkstoff im Vitra Design Museum bei Basel, die sie zum Anlass nimmt, die Plastik-Geschichte nicht nur als Wissens-, sondern auch als Kolonial- und Ökologiegeschichte zu erzählen. "Die petrochemischeWelt konnte nicht nur aufmuntern, sie rettete Leben, man denke nur an die Einwegverpackungen in Spitälern. Die Ausstellungswände im Hauptraum von 'Plastik. Die Welt neu denken' allerdings sind dunkel bemalt: Wenn die Kuratoren mit dem Wissen von heute auf die Ära der Plastikbegeisterung zurückschauen, sehen sie offensichtlich schwarz. ... Das Versprechen des einfacheren und effizienteren Lebens endet noch vor der Schutzscheibe um das historische Relikt. In der Gegenwart sind Milliarden von Plastikflaschen im Umlauf, nicht nur in Supermarktregalen, sondern im Meer und im Wüstensand."
Ulf Meyer würdigt in der FAZ das imposante Luxemburger Museum des Widerstands in Esch-sur-Alzette, das Architekt Jim Clemes durch einen markanten Anbau erweitert wurde: "Obwohl der Anbau an der Rue de l'Alzette für Verwaltung, Werkstatträume, Ausstellungen und als Nebeneingang für Gruppen genutzt wird, hat Clemes ihm ein kraftvoll poetisches Aussehen ganz eigener, sprechender Art gegeben: Die dunkle Backsteinfassade scheint aufzuplatzen, als wollte sie eine Wunde offenbaren."
In der FAZfeiert Andreas Kilb in einer sehr schönen Besprechung Audrey Diwans Verfilmung von Annie Ernaux' Abtreibungserzählung "Das Ereignis", wobei er falschen Parallelen entschieden vorbaut: "'Das Ereignis' ist aber kein Nouvelle-Vague-Nachzügler, es steht in der Tradition eines Bresson oder Pialat. Schlimme Dinge mit schönen Frauen, so könnte man das Prinzip dieses Wahrheitskinos zusammenfassen. Die Schönheit ist sein Messer, um unsere ermüdete Urteilskraft aufzuwecken... Von Sartre, über den sie mit ihren Freundinnen spricht, kennt Anne vielleicht nur ein paar Zeilen, doch das Entscheidende hat sie verstanden: 'Der Mensch ist zuerst ein Entwurf.' Sie lebt diesen Satz. Auch darin liegt ein Unterschied zur Nouvelle Vague, die um die Abgründe immer diskutierend herumgetanzt ist. In 'Das Ereignis' sieht man nicht nur Tinte und Zigarettenrauch, sondern auch das Blut." Mehr bereits hier und in der NZZ.
In der NZZkommentiert Andreas Scheiner Will Smiths Ohrfeige, mit der der Schauspieler auch Hollywoods Selbstverständnis als einem Hort des zivilisierenden Fortschritts ins Gesicht geschlagen hat. Melchior Poppe sammelt in der NZZ dazu passend die fünf kuriosesten Zwischenfälle aus der Geschichte der Oscars.
Besprochen werden Philipp Preuss' Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" (die FAZ-Kritiker Torben Ibs zufolge dem Theater Dessau einen weiteren Coup beschert) und Olivier Pys Inszenierung von Verdis "Sizilianischer Vesper" in Berlin (FR).
Mit seinem Album "Mythos" dekonstruiert der Jazzdrummer MaxAndrzejewskis den "Ring des Nibelungen" und vereint dabei "zwei seiner Grundinteressen: freie Improvisation und Komposition", schreibt Sophie Emilie Beha in der taz, und das "nicht nur als Komponist, sondern auch am Schlagzeug. Gemeinsam erzeugen die zwölf Musiker*innen lichte, verträumte Atmosphären. Durch die Besetzung entsteht Transparenz - das Gegenteil von Wagners schwerromantischen Orchesterapparaten. Wagners Schwulst ist bei Andrzejewski wirklich ein Steinbruch. Er baut dort einzelne Motive ab, um sie in seinen eigenen Ouvertüren anders weiterzuspinnen. Gerade diese Distanz zur Vorlage macht die Qualität dieser Einspielung aus: Sie überzeugt mit schillernden Klangfarben, mäandernden Motiven und Bombastlosigkeit." Wir hören rein:
Asmik Grigorians und LukasGeniušas' Rachmaninow-CD "Dissonance" hat Berthold Seliger umgehauen, wie er in Jungle World schreibt. Zu bezeugen ist ein Dokument von "Grigorians herausragender Gestaltungskraft. Sie verfügt stimmlich über eine erschreckende, klirrendeKälte, wo es geboten ist, und kann ihren Sopran dann wieder voller Wärme oder sengender Hitze erstrahlen lassen. ... Doch man kann nicht von diesem Album schreiben, ohne die Kunst des Pianisten Lukas Geniušas zu erwähnen, der die anspruchsvollen Klavierparts voller Selbstbewusstsein als eigene Stimme und eben nicht nur als Begleitung spielt - erst das Agieren der beiden als echtes Duo wird der Komplexität dieser Minidramen und spätromantischen Preziosen gerecht." Eindrücke gestattet dieses Werbe-Feature:
In der FAZ sammelt Hannes Hintermeier Stimmen zu MarkusSöders Vorschlag einer "Denkpause" in Sachen neuesMünchnerKonzerthaus: An Gegenstimmen insbesondere aus dem Betrieb herrscht kein Mangel, doch "Söder ficht dieser Gegenwind nicht an, er ahne schon, wer ihn wegen seiner Äußerungen demnächst anrufen oder in der Staatskanzlei besuchen werde. Nun ist Söder nicht Jesus, er vertreibt keine Händler aus dem Tempel, er baut erst gar keinen."
Außerdem: Der Standardempfiehlt "widerständige Musik aus der Ukraine und Russland". Besprochen werden ein russischer Abend mit VladimirJurowski im Berliner Konzerthaus (Tsp), SoulGlos "Diaspora Problems" (Pitchfork) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein Album von CharlesPrests Soloprojekt NoonGarden: "eine reizende Merkwürdigkeit", meintSZ-Popkolumnistin Juliane Liebert.