Efeu - Die Kulturrundschau

Einige dieser Heiligen sind noch unter uns

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06.04.2022. So überzeugend gegenwärtig war die amerikanische Gegenwartskunst lange nicht mehr, freut sich die NYTimes auf der Whitney Biennale. Der Guardian glaubt in Raffaels Gemälden die Sphärenklänge sichtbar gemacht. Die Berliner Zeitung genießt die Erfahrungsdichte des Find-Festivals an der Schaubühne. Als krachendes Politspektakel goutiert die NZZ Ai Weiweis "Turandot"-Inszenierung in Rom. Nachdrücklich empfiehlt die FAZ Sergei Loznitsas wieder in die Kinos gebrachten Film "Donbass". Und die Welt greift zu den Gedichten Konstantin Paustowskis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2022 finden Sie hier

Film

Der "Film der Stunde" ist vier Jahre alt: Es lohnt sich, Sergei Loznitsas aktuell wieder in den Kinos gezeigten Spielfilm "Donbass" (unsere Kritik zum damaligen Kinostart) zu sehen, schreibt Andreas Platthaus in einer Notiz in der FAZ. Unter den gegenwärtigen Eindrücken beginnt der mit dokumentarischen Ästhetiken arbeitende Spielfilm neu zu sprechen: "Wenn die dort herrschenden Milizen in diesem Film immer nur das Wort 'Faschist' zur Charakterisierung ihrer Gegner haben, meint man von der Leinwand nunmehr die Stimme Wladimir Putins zu hören." Und "man schämt sich, weil man damals nicht begriffen hatte, wie tief seine fiktionale Handlung in der politischen Wirklichkeit wurzelte. Im Kino liegt eine Erkenntnismembran zwischen Leinwand und Zuschauern, und Loznitsa ist einer jener Regisseure, die sie zu zerreißen suchen. ... Alles, was uns nun als nachträglich durch den Krieg authentisiert schaudern lässt, war 2018 schon da und realitätsnah, doch es hatte keine Folgen für unseren Blick auf die Ukraine."

Weitere Artikel: Im Standard plaudert die österreichische Filmemacherin Kurdwin Ayub über ihren auf der Berlinale preisgekrönten Film "Sonne", der gestern Abend die Diagonale in Graz eröffnet hat und mit dem Regisseurin "eine migrantische Geschichte richtig erzählen" wollte. Im Filmdienst spricht Jacques Audiard über seinen neuen Film "Wo in Paris die Sonne aufgeht" (mehr dazu bereits hier). Maria Wiesner gratuliert in der FAZ dem Filmemacher Barry Levinson zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Filmebetriebssatire "Official Competition" mit Penélope Cruz und Antonio Banders (NZZ), die zweite Staffel der HBO-Erfolgsserie "Euphoria" (NZZ), der dritte Teil der im Harry-Potter-Universum angesiedelten Reihe "Phantastische Tierwesen" (Welt, Presse), das deutsche Remake der israelischen Serie "Your Honor" (taz) und Volker Schlöndorffs Dokumentarfilm "Der Waldmacher" (critic.de).
Archiv: Film

Literatur

"So blöd kann die Wirklichkeit aussehen, wenn sie mit dem Maßband der Poesie vermessen wird", schwärmt Hilmar Klute in der SZ, nachdem er die Gedichte von Nicolas Born aus den Siebzigern wieder für sich entdeckt hat. Seinerzeit verkaufte Born verhältnismäßig gut, dieser Glanz ist heute ein wenig verblasst. Doch "man liest diese fünfzig Jahre alten Gedichte und möchte sie eigentlich sofort und per Amt zur Pflichtlektüre für all jene beleidigten deutschen Literaten erheben, die gerade in selbstgefälligem Ohnmachtsgehabe erklären, sie wollen, können und dürfen jetzt keine Romane mehr schreiben, weil der Krieg ihnen die Aufmerksamkeit raubt." Borns "Gedichte gehören zum Schönsten, das in den Siebzigerjahren geschrieben wurde. Nichts Abgeklärtes ist in diesen Versen, stattdessen: eine schöne traurige Unruhe und das fast märchenhafte Verlangen nach einer Welt, in der das Wünschen hilft."

In der Welt rät Richard Kämmerlings hingegen dazu, in diesen Tagen den russischen Schriftsteller Konstantin Paustowski zu lesen und insbesondere den zweiten Band seiner Autobiografie, der sich in einer Passage über den Ersten Weltkrieg als "furchtbar aktuell" erweist. "Lehrreich ist dabei die Umkehrung der Blickrichtung. Was heute die heroisch Widerstand leistende Ukraine ist, war damals in Moskau das unschuldig-neutrale Belgien", und "an anderer Stelle wird die 'monströse Borniertheit' des preußischen Militarismus verwundert gegen die unbezweifelte Größe der deutschen Kultur gehalten." Außerdem wisse Paustowkis schon da, "'dass derjenige, der das Schwert wider unser Volk und unsere Kultur erhoben hatte, vielleicht selbst durch dies Schwert umkommen, niemals aber es freiwillig in die Scheide stecken werde'. Für das heutige Russland ist leider das Gleiche zu vermuten."

Außerdem: In ihrer SZ-Textreihe erzählt die New Yorker Essayistin Kristen Roupenian von gescheiterten Dates im Kino. Besprochen werden unter anderem Jochen Schimmangs "Laborschläfer" (FR) und eine Neuausgabe des ersten Bans von Jules Vallès' "Jacques Vingtras" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Alfredo Jaars Video "06.01.2020 18.39" 2022 über Polizeiangriffe auf Demonstranten in Washington / Whitney Biennale


Absolut herausragend in ihrer Reflektiertheit findet Holland Cotter in der New York Times die heute eröffnende Whitney Biennale in New York: "Biennalen sind fast per definitionem Gegenwartsereignisse (und beinhalten auch Gegenwartspolitik: gewerkschaftlich organisierte Whitney-Mitarbeiter verteilten bei der VIP-Eröffnung Flugblätter mit Forderungen nach höheren Löhnen). Bei diesen Veranstaltungen wird nur selten ein Blick zurück geworfen. Bei dieser Veranstaltung jedoch schon. Coco Fuscos Video ist eine Meditation über das, was verschwunden ist und weiter verschwindet. Adam Pendletons Videoporträt der Theologin und Aktivistin Ruby Nell Sales ist eine aufrüttelnde Hommage an eine lange, tapfere persönliche Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht. Jonathan Bergers außergewöhnliche skulpturale Installation 'An Introduction to Nameless Love', ein riesiges Buch aus aus Blech geschnittenen Buchstaben, ist eine Art begehbares 'Leben der Heiligen'. Einige dieser Heiligen sind noch unter uns, andere nicht."

Raffaels Madonna von Alba, 1511. Bild: National Gallery of Art, Washington

Im Guardian kommt Jonathan Jones gar nicht aus dem Schwärmen heraus, so überwältigt ihn die große Raffael-Ausstellung in der National Gallery in London. Kein anderer Renaissance-Künstlern habe Liebe und Mathematik so harmonisch verbinden können: "Die Ausstellung lässt einen die ureigene Freude an der reinen, fast mathematischen Methode spüren. Raffaels Madonnen sind so heiter komponiert, so leicht und anmutig in ihren Farben, dass sie in der Luft zu schweben scheinen, ohne an der Wand befestigt werden zu müssen. Die Madonna von Alba ist ein rundes Gemälde (ein 'Tondo') in leuchtendem Blau und Rosa mit Jesus und Johannes dem Täufer als Kinder, die auf dem Schoß von Maria auf einer Wiese spielen. Die Landschaft hinter ihnen ist ein nebliger, bläulicher Schleier aus Bergen und Wasser unter einem klaren, hellen Himmel. Unheimlich ist der Sinn für Proportionen: Maria und die Jungen befinden sich genau dort, wo sie innerhalb des Kreises sein müssen, damit das Bild wie ein geometrisches Theorem wirkt. Raphael macht die Klänge der Sphären sichtbar."


Philipp Meier freut sich in der NZZ, dass die in Marokko geborene Künstlerin Latifa Echakhch den Schweizer Pavillon auf der Biennale in Venedig bepielen wird. In der Berliner Zeitung berichtet Ingeborg Ruthe, dass sich das private Hermitage-Museum in Amsterdam von der Petersburger Eremitage abkoppelt und dafür als solidarische Geste vom Rijksmuseum Vermeers "Mädchen mit dem Milchkrug als Leihgabe erhält.

Besprochen wird die große Retrospektive zu Georgia O'Keeffe in der Fondation Beyeler bei Basel (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Robert lepages "Seven Streams of the River Ota" beim FINF-Festival. Foto: Elias Djemil

Beim FIND-Festival für Internationale Neue Dramatik an der Berliner Schaubühne hat Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung durchaus auch Überdrehtes und Verquastes gesehen, aber die Erfahrungsdichte eines Festivals weiß sie nach zwei Jahren Abstinenz sehr zu schätzen: "Wirklich groß wurde der Festivalbeginn dann aber durch einen Meister, der längst tief in den Annalen der Theatergeschichte nistet: Robert Lepage und sein Sieben-Stunden-Epos 'The Seven Streams of the River Ota' von 1996. Eine verzweigte Erzählung von amerikanisch-japanischen Kriegs- und Liebesbeziehungen über 50 Jahre hinweg, die in ihren kurzen, prägnant zwischen den Zeiten und ihren Medien springenden Szenen eine Welt spiegelt, die tatsächlich immer beides ist: historische Wahrheit und individueller Projektions- und Sehnsuchtsort zugleich."
 
In Rom hat Ai Weiwei Puccinis "Turandot" als großes politisches Opernspektakel inszeniert, mit Videos aus Wuhan, von Kriegsschauplätzen, Flüchtlingsströmen oder der Demokratiebewegung in Hongkong. NZZ-Kritikerin Luzi Bernet ging diese Aufführung unter die Haut: "Plötzlich haben die großen Themen dieser Oper, Liebe, Gewalt, Krieg und Frieden, eine ganz neue Dringlichkeit. Sie wird im Fall von Ai Weiweis Inszenierung noch verstärkt durch die Tatsache, dass am Dirigentenpult erstmals die junge ukrainische Oksana Lyniv steht, deren dunkles Kleid ein Band in den Nationalfarben ihrer Heimat ziert. Als sie sich am Ende des Abends dem Publikum präsentiert, brandet der Applaus auf. Und so wird man Zeuge eines Spektakels, das weit entfernt ist von der Vorstellung der Oper als Rückzugsort. Kein Abschweifen der Gedanken, kein Schwelgen, keine Glückseligkeit, auch nicht, als die himmlische Arie 'Nessun dorma' erklingt - nichts von all dem stellt sich in dieser Aufführung ein."

Besprochen werden Stefan Wirths Vermeer-Oper "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" in Zürich (FAZ)
Archiv: Bühne

Musik

Alle paar Jahrzehnte - und zuerst 1964 - wird der Bluesmusiker Son House wiederentdeckt, schreibt SZ-Kritiker Joachim Hentschel, zu dessen großer Freude gerade ein kleiner Sensationsfund in Form eines Albums mit verschollen geglaubten Aufnahmen ans Licht der Öffentlichkeit geraten ist. Die auf "Forever on My Mind" versammelten Songs "porträtieren Son House in einer relativ frühen Phase seines zweiten künstlerischen Frühlings. Die Behandlung des eigenen Werks hat hier noch etwas sehr Impulsives, wenig Routiniertes. Während er die auf der Metallkörpergitarre gepickten Töne mit brutaler, unwirscher Energie splittern und scheppern lässt, driftet der Gesang dabei oft in einen fast entrückten, gospelhaften Ton hinein." Eine "Dialektik zwischen Gottesfurcht und Erdhaftung" ist bei House zu beobachten und so zeigen "diese Aufnahmen ein weiteres Mal exemplarisch, wie weit entfernt vom berüchtigten Authentizitätsklischee die eigentliche Wahrheit des Blues liegt." Wir hören rein:



Außerdem: Für die SZ lässt sich Johanna Adorján von Chuck Klostermans Buch "The Nineties" in die Popkultur der Neunziger entführen. Uwe Ebbinghaus besucht für die FAZ die Proben des Berliner Vokalensembles Polynushka, das sich der russisch-ukrainischen Volksmusik verschrieben hat.

Besprochen werden ein Konzert iranischer Flüchtlinge zugunsten ukrainischer Flüchtlinge (ZeitOnline), ein Wiener Konzert des des SWR Symphonieorchesters unter Teodor Currentzis (Standard), das Album "musik" von Acht Eimer Hühnerherzen (taz, mehr dazu bereits hier), das neue Album von The Jeremy Days (FR), neue Popveröffentlichungen, darunter Horace Andys "Midnight Rocker" (SZ) und das neue Album von Aldous Harding (taz).

Archiv: Musik