Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Mann geht durch den Raum

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04.07.2022. Peter Brook ist tot. FAZ, NZZ und Tagesspiegel trauern um den großen Theatermagier, den König des Welttheaters und das Genie der Einfachheit. Die SZ kniet nieder vor René Pollesch und Sophie Rois, allerdings im Deutschen Tehater, nicht in der Volksbühne. In der NZZ erklärt David Chipperfield, wie er reiche Leute dazu bringen will, die Anwesenheit von Armen zu ertragen. Die NZZ erkennt zudem das Erbe El Grecos bei Pablo Picasso. Im Standard erzählt Vicky Krieps, wie ihr das Korsett bei den Dreharbeiten zu Marie Kreutzers Sisi-Film "Corsage" die Gefühle abschnürte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.07.2022 finden Sie hier

Bühne

Peter Brook, der Theaterzauberer. Foto: John Thaxter, CC0

In der FAZ schreibt Gerhard Stadelmaier himself zum Tod des großen britischen Theaterregisseurs Peter Brook, der 1925 in London als Sohn jüdischer Einwanderer aus Lettland geborenen worden war: "König des Welttheaters, war das Regiegenie der größten Einfachheit und neben Ariane Mnouchkine vielleicht die einzige Theatergröße von Weltrang, die fast kindlich, staunend und forschend, rein und klar, klug und lustvoll fromm ans Theater glaubte. Und wie die Mnouchkine, die Kommandeuse des "Sonnentheaters" (Théâtre du Soleil) in Vincennes, ließ er auch nie von seinem Theater. Saß Abend für Abend dabei, machte sich Notizen, begriff seine Arbeit als endlos, nie fertig. Ein kleiner, schmaler Mann mit schlohweißem Haarkranz, hellsten Augen, jederzeit bereit, einzugreifen, neue Fragen zu stellen." In der NZZ ergänzt Marion Löhndorf: "Brooks beste Inszenierungen - nicht all seine zahlreichen Regiearbeiten waren Meisterstücke - besaßen eine fast durchscheinende Leichtigkeit. Kein Wunder, dass Brook als 'Theatermagier' bezeichnet wurde. 'Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen', schrieb er in seinem 1968 veröffentlichten Standardwerk 'Der leere Raum', das bis heute relevant - und lesenswert - ist: 'Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.'" Im Tagesspiegel betont Eberhard Spreng, dass auch Brooks Inszenierungen von Stoffen aus anderen Kulturen nie etwas Folkloristisches hatten: "Spätestens mit dem 'Mahabharata' war Brook auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft angelangt. Er inszenierte es 1985 in einem Steinbruch bei Avignon. Das indische Epos wurde sein Opus Magnum, eine neunstündige Theaterzauberei." Weitere Nachrufe in SZ und Guardian.

Ganz berauscht kommt SZ-Kritiker Peter Laudenbach aus René Polleschs neuem Stück "Liebe, einfach außerirdisch" am Deutschen Theater Berlin, die diem Kiritker reinste Pollesch-Poesie bescherte, mit Sophie Rois als Außerirdischer zu Besuch auf der Erde: "Beam me up, Sophie! Wer nach dieser Aufführung nicht glücklich, beschwingt und bereit ist, sich sofort zu verlieben oder zumindest erfreuliche Unbekannte zu Kaffee und Torte einzuladen (in Polleschs Stück eine sehr direkte Umschreibung für Sex), hat kein Herz, kein Gehirn, keine Augen und keine Libido. Die Frage, ob angesichts von Krieg, Pandemie, Klimawandel, Kapitalismus und den anderen Depressions-Plagen noch irgendjemand Theater braucht, ist mit diesem Abend aufs Schönste beantwortet: Und wie! Unbedingt!" Nur: Warum inszeniert Pollesch dieses Stück am DT und nicht an der Volksbühne, die er eigentlich leiten soll?, fragt Laudenbach. Weil er einen Vertrag hatte, antwortet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung, die besondres von der Tortenszene einfach hingerissen ist. In der FAZ applaudiert Irene Bazinger vor Theaterglück. In der Nachtkritik freut sich Stephanie Drees über "Futter für die Fans. Und ein Fest für Sophie Rois."

Besprochen werden die Stücke des Münchner Theaterfestivals "Radikal Jung" (taz), Victor Hugos "Glöckner von Notre Dame" bei den Festspielen in Bad Hersfeld (FR, Nachtkritik) und Torsten Fischers Inszenierung von Tschechows "Möwe" bei den Festspielen Reichenau (Standard, Nachtkritik).
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Architektur

Gleiche Türen für alle: Das Morland-Projekt in Paris. Foto: David Chipperfield

Der britische Architekt David Chipperfield hat in Paris eine Gruppe von Bauten um die ehemalige Präfektur herum zum einem Projekt für städtisches Zusammenleben entwickelt: "Gegenüber dem Fünf-Sterne-Hotel steht eine Jugendherberge, und die Eigentümer von hochpreisigen Appartements haben Bewohner von Sozialwohnungen als Nachbarn. Auf den Dächern wird in vertikalen Beeten Gemüse angebaut, im Pool des Hotels sollen die Schulkinder aus dem Quartier schwimmen lernen", schreibt Nina Belz in der NZZ, der Chipperfield im Interview erklärt: "Reiche Leute wollen nicht, dass arme Leute die gleiche Haustür benutzen. Das stimmt vielleicht, aber ich finde das uninteressant. Wenn wir wirklich daran interessiert sind, die Situation armer Leute zu verbessern, muss man ihnen einen vernünftigen Ort zum Leben geben: eine gute Straße, eine gute Wohnung. Das Konzept war nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark in der Politik verankert, aber es ging irgendwie verloren. Der Markt hat sich dorthin verlagert, wo man am meisten Geld macht: mit Luxuswohnungen. Mit Sozialwohnungen verdient man nichts. Also müssen Politiker sich darum kümmern und es attraktiv gestalten. Frankreich macht das im Vergleich zu Grossbritannien nicht schlecht."
Archiv: Architektur

Kunst


Fantastisch findet Philipp Meier in der NZZ die Schau im Kunstmuseum Basel, die mit Pablo Picasso und El Greco zwei Solitäre der Kunstgeschichte in Beziehung zueinander setzt: "Große Kunst war in Picassos Augen zeitlos: 'Für mich gibt es in der Malerei weder Vergangenheit noch Zukunft. Wenn ein Kunstwerk nicht stets in der Gegenwart leben kann, ist es nicht von Bedeutung', hatte der Spanier einmal gesagt. Für ihn war die Kunst der griechischen Antike oder der alten Ägypter keine Kunst von einst, sondern lebendiger als je zuvor. Das Kunstmuseum Basel zeigt die beiden nun gemeinsam in einer Ausstellung. Das Nebeneinander von Meisterwerken beider Künstler, des Altmeisters und des klassisch Modernen, liefert gleichsam die Bestätigung von Picassos Urteil über die Kunst: El Greco ist nicht von gestern. Im Licht von Picassos Werken könnte er gegenwärtiger nicht sein. Ja, die giftigen Farbtöne, die bildschirmartig irisierende Leuchtkraft seiner Gemälde, die überlängten, verschwommen und knochenlos wirkenden, geschlechtsfluiden Leiber seiner Figuren wirken ungemein zeitgemäss. So mutet die Palette und Figurenwelt mancher Kunstschaffender von heute geradezu el-grecoesk an."

Weitres: Marlene Knobloch begibt sich für die SZ Günsterode, um zu erkunden, was Kunst ist, was ein Haus und was eine bewohnbare Skulptur.
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Film

Im Interview mit dem Standard spricht die Schauspielerin Vicky Krieps über ihre Rolle als rebellische Sisi in Marie Kreutzers Film "Corsage". Gerade an das Korsett hat sie keine guten Erinnerungen: "Ich hasse dieses Teil so sehr! Es hat mich vor allem eingeschränkt. Beispielsweise meine Gefühle im Solarplexus: Ich wurde sofort traurig, wenn ich das Korsett anhatte. Und wenn ich es abends auszog, habe ich angefangen zu lachen. Das ist keine Übertreibung, ich konnte es selbst kaum glauben. Das Korsett hat natürlich geholfen, einen Ausdruck zu formen: diesen stummen Schrei, diese innere Verzweiflung. Es ist wie in der ersten Einstellung des Films: Es gibt ein langes Einatmen, auf das kein Ausatmen folgt. Und so war der ganze Dreh: Die Tränen, die Wut konnten nicht aus mir heraus."

Weiteres: In der taz empfiehlt Jens Müller heute abend auf Arte Vittorio de Sicas Filmklassiker "Der Garten der Finzi Contini" und gleich danach die Doku "Auf der Suche nach den Gärten der Finzi-Contini". Claus Löser wirbt in der Berliner Zeitung für den Roland-Klick-Abend heute im Berliner Lichtblick: "Warum sich das deutsche Kino immer wieder den Verschleiß solcher Ausnahmetalente leistet, weiß allein die Sphinx des Fördersystems." Katrin Hillgruber resümiert im Tagesspiegel das Münchner Filmfest. Matthias Kalle schreibt auf Zeit online zum Sechzigsten von Tom Cruise, in der FR schreibt Marc Hairapetian. Besprochen wird Thorsten Kleins Biopic über den Mathematiker Stanislaw Ulam (SZ)
Archiv: Film

Literatur

Adriano Sack plaudert für die Welt mit Autor Behzad Karim-Khani über Klagenfurt, wo dieser nicht gewonnen hat, aber hübsch lästert: "Klagenfurt muss man sich vorstellen wie eine norditalienische Stadt, aus der Bayern die Italiener rausgebrüllt haben. Die Straßen sind nach Naziärzten und Kinderschändern benannt. Man bleibt also am besten 24 Stunden im Hotelzimmer und lässt sich Schnitzel liefern. Auf keinen Fall springt man in diesen See. Egal, wie sehr die Einheimischen einen drängen."

Weitere Artikel: In der FR berichtet Andrea Pollmeier von einer Diskussion mit Andrej Kurkow zum Ukrainekrieg beim LiteraTurm. Regine Seipel unterhält sich mit Joe Bausch, Mediziner, Autor und Schauspieler (er spielt den Rechtsmediziner im Kölner Tatort) über dessen Buch "Maxima Culpa", Psychopathen und Resozialisierung. Und Peter Iden gratuliert dem Frankfurter Verleger und Autor Karlheinz Braun zum Neunzigsten. In der taz schreibt Rita Bischof zum Tod der Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Elisabeth Lenk.

Besprochen werden Leila Slimanis Essayband "Der Duft der Blumen bei Nacht" (Standard), Sergej Gerassimows Buch "Feuerpanorama" (Tsp), Jonathan Moores Krimi "Poison Artist" (FAZ), Kevin Barrys "Nachtfähre nach Tanger" (FAZ), Femi Kayodes "Lightseekers" (FAZ), Michael Pauls "Der Kampf um den Nordpol" (SZ) und Fabio Wolkensteins "Die dunkle Seite der Christdemokratie" (SZ).
Archiv: Literatur

Musik

Soll man jetzt, in diesem Moment, russische Komponisten spielen? Über diese Frage hat sich die FAZ mit fünf Intendanten, Direktoren und künstlerischen Leitern - Malte Boecker, Jan Henric Bogen, Winrich Hopp, Louwrens Langevoort und Viktor Schoner - unterhalten. Eine gewisse Vorsicht lasse er walten bei Werken, "die mit der durch Putin reaktivierten großen vaterländischen Erzählung Russlands und der Sowjetunion zu tun haben", sagt Hopp. Doch einen generellen Boykott russischer Musik lehnen alle fünf ab. Kunst soll verbindend, nicht ausgrenzend wirken, so die allgemeine Meinung, mit der wortreich begründet wird, warum im wesentlichen alles so weitergehen sollte wie gehabt. Nur Hopp hat am Ende eine selbstkritische Erleuchtung: "Zu den besonderen Erfahrungen der letzten Zeit gehört sicherlich der Vorwurf aus der Ukraine, aber auch aus anderen Ländern Osteuropas, dass das westliche Geschichtsbild eigentlich nur Russland kennt, die anderen Staaten, seien es die Ukraine oder die baltischen Staaten, aber außen vor gelassen hat. Was passiert dort in der Kunst, in der Musik? Nicht nur jetzt in der Ukraine, sondern auch in Rumänien, der Slowakei, in Estland oder Lettland? Da haben wir im Westen noch einen weiten Weg zurückzulegen. Egal welche Länder noch in der EU sein mögen oder nicht - Europa ist wahrscheinlich etwas ganz anderes, als wir uns vorzustellen angewöhnt haben."

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Silvia Silko vom Roskilde Festival. Jan Brachmann schreibt in der FAZ zum Tod des Musikwissenschaftlers Richard Taruskin. Besprochen werden Udo Lindenbergs Konzert in der Waldbühne (Tsp), Jochen Distelmeyers Album "Gefühlte Wahrheiten" (SZ) Billie Eilishs Konzert in Zürich (NZZ) und ein Konzert von Nick Cave und den "Bad Seeds" beim Jazz Festival in Montreux (SZ).
Archiv: Musik