Efeu - Die Kulturrundschau

Ähnliches bis Immergleiches

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18.07.2022. Nach langem Gezerre ist Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann zurückgetreten, für Erleichterung sorgt sie damit nur bedingt: Ob und wie der Schaden, der ihr Missmanagement angerichtet, noch reparabel sei, fragen Tagesspiegel, SZ und Berliner Zeitung. Die FAZ erhebt schwere Vorwürfe gegen Documenta-Beraterin Emily Dische-Becker, die diese prompt pariert. In der spricht Nachtkritik Sasha Marianna Salzmann über die Traumata der UkrainerInnen. Critic.de pilgert zum Festival Il Cinema Ritrovato nach Bologna und erlebt in Mikko Niskanens Film "Eight Deadly Shots" eine Erleuchtung. Die Welt erliegt dem existenziellen Grübeldrive von Neil Young.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Überfällig findet die Zeitungen den Rücktritt der Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann, ausreichend aber nicht. Im Tagesspiegel wagt Christiane Peitz nicht zu entscheiden, ob Schormann aus Sturheit oder Überforderung nicht gehandelt hat, fest steht für sie jedoch: "Schormanns (Nicht-)Krisenmanagement hat erheblich dazu beigetragen, dass der Weltruf und -ruhm der Documenta von Tag zu Tag mehr Schaden nahm."  In der Berliner Zeitung bringt Harry Nutt nach dem endlosen Gezerre kaum noch die Kraft für den Seufzer der Erleichterung auf: "In einer kaum mehr zu entwirrenden Kette des kommunikativen Versagens hatte Schormann am Mittwoch noch eine Art Befreiungsschlag versucht. Vergeblich. Ihre Erklärung inklusive einer fahrigen Chronologie der Ereignisse mündete in halbherzigen Entschuldigungen und der Formulierung von Gegenvorwürfen, vorgetragen in der verstörend selbstgewissen Haltung, im Grunde alles richtig gemacht zu haben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte es Kulturstaatsministerin Claudia Roth gedämmert haben, wie gefährlich ihr das Wegducken Schormanns vor administrativer Verantwortung werden kann. Erstaunen, Befremden, wechselseitige Bezichtigungen der Lüge - aus dem Bemühen um Aufklärung war eine erbärmliche Schlammschlacht geworden."

Indem sie sich weigerte, Verantwortung auszuüben, habe sie Ruangrupa in die Falle laufen lassen, kommentiert in der SZ Jörg Häntzschel: "Dass Schormann ihre Nicht-Aufsicht wieder und wieder mit der 'Kunstfreiheit' rechtfertigte, ist Heuchelei. Kunst ist kein Spiel von Autisten, sondern hat sehr viel mit Kommunikation zu tun, das gilt nirgends mehr als auf der documenta fifteen. Doch Kommunikation ist nur möglich, wenn man sich auf sein Gegenüber einstellt." In der taz sieht Klaus Hillenbrand auch den Aufsichtsrat in der Pflicht: "Von einer Entschuldigung ist da nicht die Rede, nur von 'tiefer Betroffenheit', antisemitische Bildmotive zur Schau gestellt zu haben." In der NZZ schreibt Alexander Kissler: "Im Knäuel des Scheiterns gibt es viele Fäden, längst nicht alle sind entwirrt." In der Welt glaubt Swantje Karich gar nicht mehr an eine ausreichende Aufarbeitung.

Die FAZ beschuldigt unterdessen die Documenta-Beraterin Emily Dische Becker, "jahrelang" für die libanesische Zeitung Al Akhbar gearbeitet zu haben, die zu einem Sprachrohr der Hizbollah wurde. In einem zweiten Text führt Lena Bopp die Vorwürfe aus und beruft sich auf archivierte Webseiten des englischsprachigen Portals: "Kurioserweise sind Texte von Emily Dische-Becker für Al Akhbar im Internet kaum zu finden."  In einem ausführlichen Tweet widerspricht Dische-Becker diesen Anschuldigungen: Sie habe 2005 einen einzigen Artikel beigetragen und sich lange schon von dem Blatt distanziert.
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Film

Intensiv, weil Ähnliches geschieht: "Eight Deadly Shots"

Manche fahren im Sommer nach Italien, um ins Kino zu gehen - so verlässlich viele Filmkritiker auf Wallfahrt nach Bologna, wo das filmhistorische Festival Il Cinema Ritrovato unter der teils sengenden Sonne mit gekühlten Kinosälen lockt. Das Team von critic.de berichtet in einem großen Dossier von seinen Fundstücken. Tilman Schumacher beispielsweise hat Mikko Niskanens Film "Eight Deadly Shots" aus dem Jahr 1972 für sich entdeckt, der in seinem Heimatland Finnland zum Allgemeinwissen gehört. Langeweile macht sich in den fünfeinhalb Stunden Laufzeit keine breit: "Es ist ein Film, in dem sich kontinuierlich Dinge ereignen und entwickeln. ... Aus seinen gräulichen, eng kadrierten Schwarzweißbildern spricht Klarheit und der Wille, gleichermaßen die Alltäglichkeiten wie auch die besonderen Augenblicke in einer einfachen Geschichte aufzuspeichern; um schöne Bilder geht's dabei nicht vordergründig. Und es braucht die Laufzeit, weil in dem Landstrich, den er uns peu á peu auffächert, die Zeit wie stillzustehen scheint, sich hier Ähnliches bis Immergleiches ereignet. Seine Kraft entfaltet 'Eight Deadly Shots' daraus, dass wir die Figuren über den Wechsel der Jahreszeiten und ihre persönlichen Höhen wie Tiefen (mehr und mehr überwiegen die Tiefen) hinweg dabei begleiten, wie sie aus einem erfahrungsarmen Leben in der nordfinnischen, von Armut und archaischer Land- und Forstarbeit geprägten Einöde das Beste zu machen versuchen. Man merkt nicht von Anfang an, dass das intensiv werden wird - dafür braucht es Wiederholungen, das Gefühl von Ereignislosigkeit, das auch manchen Figuren zusetzt."

Weitere Artikel: Frédéric Jaeger berichtet auf critic.de vom Filmfest Marseille, dessen "fantastische Arbeit" er in höchsten Tönen lobt. Im FAZ-Interview schlägt Björn Böhning von der Allianz Deutscher Produzenten Alarm, dass die Kosten in der Filmproduktion derzeit explodieren.

Besprochen werden der Actionfilm "The Gray Man" mit Ryan Gosling (der Film strotze "nur so vor Lustfeindlichkeit", stöhnt Marie-Luise Goldmann in der Welt), Constance Meyers Debütfilm "Robuste" mit Gérard Depardieu (Standard) und die auf DVD veröffentlichte "Darkman"-Filmreihe (critic.de).
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Bühne

Die Autorin und Dramaturgin Sasha Marianna Salzmann, deren Familie aus der Ukraine kommt, spricht im Interview mit Nachtkrikerin Esther Slevogt über die großen Traumata der Ukrainer und Ukrainerinnen: "Stalin hat den Zusammenschluss der Völker in der Sowjetunion erzwungen. In der Ukraine gab es von Anfang an sehr klaren Widerstand von den Intellektuellen und der Politik. Die hat Stalin gezielt ausgerottet - schöner kann man das leider nicht formulieren. Der größte Angriff auf die Ukraine in dieser Zeit ist der Holodomor. Das ist ein Genozid, der als solcher noch immer nicht anerkannt worden ist: Stalins Hungerkrieg gegen die ukrainische Bevölkerung. 1932/33 wurden mehrere Millionen Menschen ausgehungert. Über die genauen Zahlen streiten die Historiker:innen, weil man an die Archive nicht herankommt, von denen die meisten natürlich in Russland liegen. Aber wenn man mit Menschen in der Ukraine spricht, gibt es niemanden, der davon nicht betroffen ist. Wenn also Wladimir Putin heute sagt, in der Ukraine werde russisch gesprochen, dann ist das auch Stalins Werk. Er hat die ukrainische Sprache auszurotten versucht und die Menschen, die sie sprechen."

In der SZ meldet Dorion Weickmann, dass Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook die Bayerische Staatsoper verlassen und in Zukunft in Moskau tanzen. Die Nachtkritik meldet den Tod des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dem großen Theoretikers des postdramatischen Theater.s 

Besprochen wird Ferdinand Schmalz' Nibelungen-Version "hildensaga" bei den Festspielen Worms (die FR-Kritikerin Judith von Sternburg mit Schwung, Wortwitz und bösen Blick erfreut, "großartige Gesamtleistung" findet auch die FAZ, SZ, taz, sieh auch unser Resümee vom Samstag).
Archiv: Bühne

Literatur

In der FAZ schreibt Dietmar Dath einen kurzen Nachruf auf den Science-Fiction-Autor und Medienkünstler Herbert W. Franke: "Das Genre 'Science Fiction', ein paradoxes Unternehmen der Verstetigung des Staunens, verdankt ihm im deutschen Sprachraum sehr viel: Vor sechzig bis dreißig Jahren, als große Taschenbuchhäuser der Bundesrepublik von Heyne über Goldmann bis Suhrkamp sich sorgfältig kuratierte Reihen fantastisch-spekulativer Literatur leisteten, gehörte er mit Leuten wie Thomas Le Blanc und dem unvergleichlichen Wolfgang Jeschke zu den verantwortungsbewussten Ermöglichern einheimischer Schreib- und Lesarten der Gattung." Einige seiner medienkünstlerischen Arbeiten veröffentlichte Franke auf seinem Youtube-Kanal.

Weitere Artikel: In der taz spricht der Lyriker Michael Thiele über seine Arbeit. Vojin Saša Vukadinović schreibt in der Jungle World einen Nachruf auf die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk. Roman Bucheli schreibt in der NZZ zum Tod der Schriftstellerin Erica Pedretti.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernauxs eben in Frankreich neu erschienener Roman "Le jeune homme" (Standard), die Comicanthologie "Movements and Moments - Indigene Feminismen" (taz), Ralf Rothmanns Roman "Die Nacht unterm Schnee" (Tsp), Rick Remenders SF-Comic "Fear Agent" (Tsp), Erik Fosnes Hansens "Zum rosa Hahn" (Tsp), neue Bücher über Drogen (Standard), Miranda Cowley Hellers "Der Papierpalast" (Tsp) und neue Hörbücher, darunter Joe Bauschs "Maxima Culpa" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über sein Gedicht "der braune gott":

"der hl. nepomuk stand auf der brücke gebaut aus
grauwacke pfeiler u. bögen beim weinort rech in
der mitte der ahr u. sah
..."
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Musik

Die Welt hat Jan Küvelers Besprechung von Neil Youngs Album "Toast" online nachgereicht. Die Aufnahmen für das Album entstanden bereits im Jahr 2001, blieben seitdem aber auf Neil Youngs Geheiß im Giftschrank, weil sie am Ende einer Beziehung entstanden und ihn emotional überwältigten, erfahren wir. Umso freudiger ist Küveler, dass das Album nun zugänglich gemacht ist: "Die Offenbarung von 'Toast', die es umstandslos in die erste Riege katapultiert, ist der existenzielle Grübeldrive von 'Boom Boom Boom'." Der Song "schwankt und swingt über epische zwölf Minuten langsam nach Hause, mit jazzig-minimalistischen Soli von Gitarre, Klavier und sogar einem sehnsüchtigen Saxofon. Man lauscht hingerissen und ertappt sich bei der leisen Hoffnung, dass sich im musikalischen Archiv von Neil Youngs Herz noch viele weitere Ex-Freundinnen tummeln mögen."



Heute vor 100 Jahren ist der große Georg Kreisler geboren. In der SZ verneigt sich Hilmar Klute. Für Kreisler war Wien "eine Art Bastelraum zur Herstellung von musikalisch-literarischen Abwehrraketen. Kreisler hat seinen Landsleuten nie über den Weg getraut, weil er aus dem Dreivierteltakt verlässlich die nationale Grundmelodie aus Judenhass, Selbstgerechtigkeit und Sentimentalität heraushörte. All dies verdichtet Kreisler in seinen schwarzen Reverenzen an die Stadt zu wahren Teufelstänzen. ... So war Georg Kreisler mit seiner schönen dunklen Stimme auch das schlechte Gewissen der Kulturdeutschen, die seinen höllenkomischen Zynismus vielleicht mehr bewunderten als seine Lieder, die fast alle große Kunstwerke waren, weil sie auf poetische Präzision setzten sowie auf die musikalische Raffinesse des klassischen Pianisten." Egbert Tholl bespricht in der SZ eine von Franui und Nikolaus Habjan eingespielte CD mit Kreisler-Liedern. In der NMZ erinnert Dieter David Scholz an Kreisler. Ronald Pohl amüsiert sich im Standard über Kreislers Boshaftigkeiten gegen Musikkritiker. Stefan Weiss führt im Standard mit Kreisler durchs Alphabet. Im Dlf Kultur befasst sich Günther Rohleder in einer "Langen Nacht" mit Kreisler. Ein Musikfeuilleton von Albrecht Dümling im Dlf Kultur wirft einen Blick auf Kreislers Anfänge. Markus Metz und Georg Seeßlen werfen im WDR-Feature ein Ohr auf den "unbekannten Georg Kreisler".

Weiteres: Für die SZ hat Andrian Kreye die Proben des Nils Wülker Quartett mit dem Münchner Rundfunkorchester besucht. Besprochen werden ein Konzert von Daniil Trifonov in Wiesbaden (FR), Auftritte in Österreich von Harry Styles' Wiener Auftritt (Standard, Presse), Alt-J (Presse) und der Rolling Stones (Standard) sowie ein Abend mit Filmmusik von Hans Zimmer und John Williams beim Rheingau Musik Festival (FR).
Archiv: Musik