Efeu - Die Kulturrundschau

Die kulturelle Kälte

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07.09.2022. Die SZ erlebt auf dem Lyrikfestival "Meridian" im ukrainischen Czernowitz, wie der Krieg etwas kategorial Neues in die Literatur bringt. taz und FR feiern Kōji Fukadas "Love Life" als das erste Meisterwerk auf dem Filmfestival Venedig. Anna Netrebkos Rückkehr an die Wiener Staatsoper war von Tumulten begleitet, Standard und SZ seufzen dennoch selig über so viel Stimmschönheit. Die NZZ erkennt die Abgründe in den poppigen Frauenfiguren der Niki de Saint Phalle.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.09.2022 finden Sie hier

Film

Steht im Regen, läuft aber dennoch im Wettbewerb: "Love Life"

Mit Kōji Fukadas "Love Life" hat das Filmfestival Venedig "das erste makellose Meisterwerk" gezeigt, freut sich Daniel Kothenschulte in der FR. Ein Mann heiratet gegen den Willen seiner konservativen Eltern eine geschiedene Frau - tragisch wird es, als das Kind in der Badewanne ertrinkt. "Das japanische Kino hat eine besondere Tradition in der unsentimentalen Behandlung von Trauer und Tod, aber der produktive 42-Jährige geht in seinem neunten Film völlig überraschende Wege." Seine "Lieblingsregisseure sind Yasujiro Ozu und Eric Rohmer, und diese Einflüsse verschmelzen zu einer behutsamen Feinfühligkeit, leicht und dennoch von makelloser Stilsicherheit. Bereits mit Anfang 20 erfand Fukada diese einfache Geschichte, in jahrelanger Arbeit entwickelte er sie zu einem betörenden Drama über die Zerbrechlichkeit von Partnerschaften." Auch tazler Tim Caspar Boehme sah den Film sehr gern, der "die Kälte zeigt, die zwischen Paaren herrschen kann, wenn es zu viel an äußeren Erwartungen gibt, die an sie gestellt werden, und versinnbildlicht dies mit der schuhkartonartigen Wohnung, in der Taeko und Jirō wohnen, die mit ihren bodentiefen Fenstern völlig transparent wirkt, in der die Schwierigkeiten jedoch unsichtbar hinter den diskreten Schubladen an den Wänden lauern." Und "bei aller Klarheit der Inszenierung entpuppt sich das Liebesleben, das besichtigt wird, als nahezu heilloses Durcheinander."

Außerdem fragt sich Tobias Kniebe in der SZ, ob es am Lido wohl cinephile Carabinieri gibt. Besprochen wird fernerhin Martin McDonaghs irische Komödie "The Banshees of Inisherin", die ihren Landsleuten laut Andreas Busche im Tagesspiegel "ein rustikales Denkmal setzt" (mehr dazu auch in der FAZ).

Zum gestrigen 70. Geburtstag von Dominik Graf (unser Resümee) hat das Branchenblatt Blickpunkt Film ein großes Gespräch mit dem Regisseur über den Stand der Dinge im deutschen Filmemachen geführt. Seit den Neunzigern hat sich das Kino "gentrifiziert", sagt er - das Dunkle, moralisch Entlegene und Abseitige, "das musste alles verschwinden". Das Fernsehen bot hier eine Nische, weil das Kino mutlos geworden war: "Man muss sich vorstellen, 'Hotte im Paradies' wurde in Hof gefeiert. 'Wann startet der Film im Kino?', wollten alle wissen, aber er hat keine Verleihförderung bekommen. Drei Mal trotz Widerspruch abgelehnt. Wieder war das Kino kein Ort. Und "Hotte" im Fernsehen? Um Mitternacht, klar. Im SFB sagte man damals: Die Leute, die an diesem Film maßgeblich beteiligt waren, werden bei uns nie wieder beschäftigt. Aber was soll's, ich hatte ihn ja machen können, das war das Wichtigste. Diese Gemengelage um das Jahr 2000 herum hat das Fernsehen mit den seinen noch real existierenden abseitigeren Ecken, wo man unter Umständen nach Politiker-Entscheid erst nach 23 Uhr gespielt wurde, für mich viel interessanter erscheinen lassen als das immer einförmiger werdende Kino."

Weiteres: Valerie Dirk erkundigt sich im Standard nach den Vorwürfen, die der Spiegel gegen Ulrich Seidl erhoben hat, nach Kinderrechten bei österreichischen Drehs. In der taz empfiehlt Fabian Tietke eine der Filmemacherin Gisela Tuchtenhagen gewidmete Werkschau im Berliner Zeughauskino. Besprochen wird die Arte-Krimiserie "Lauchhammer" (taz).
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Literatur

Dass das Lyrikfestival "Meridian" im ukrainischen Czernowitz überhaupt stattfinden konnte, ist alleine schon ein Ereignis, findet SZ-Kritiker Helmut Böttiger. Aber das Geschehen vor Ort machte sichtlich Eindruck auf ihn: "Alle Gedanken und Gefühle werden vom Krieg aufgesogen und durchdrungen, man kann sich als ukrainischer Schriftsteller auf nichts anderes mehr konzentrieren, die üblichen Arbeiten - literarische Essays, Übersetzungen, Gedichte - bleiben liegen. Die meisten haben in der ersten Zeit nach der russischen Invasion nichts mehr geschrieben. Langsam aber wurden die neuen Erfahrungen zum Thema, und das war bei diesem Treffen deutlich zu spüren. Es beginnt etwas kategorial Neues: Irena Karpa sprach von ihrer 'Lähmung' und der Erkenntnis, sich jetzt auf den Krieg 'einlassen' zu müssen, Kateryna Kalytko nahm die militärische Bedrohung direkt in ihre Metaphern auf, in denen die Panzerketten das Körpergefühl förmlich zu durchdringen scheinen. Dabei war es sehr berührend, dass Iryna Tsilyk bei alldem davon sprach, gerade jetzt die Sehnsucht nach einem 'guten Leben' nicht zu vergessen. Ihr Mann Artem Tschech ist im Krieg und hatte gerade zwei Tage Fronturlaub. Als Jurko Prochasko sagte: 'Er hat sehr traurige Augen' war das einer der Momente, die man so schnell nicht mehr vergisst."

Für ZeitOnline hat sich Sarah Murrenhoff mit der Schriftstellerin Andrea Abreu getroffen, deren Debütroman "So forsch, so furchtlos" in ihrer Heimat ziemlich durch die Decke ging. Außerdem setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Édouard Louis' "Anleitung, ein anderer zu werden" (Welt), Harald Jähners "Höhenrausch" (SZ), Yael Inokais "Der simple Eingriff" (FR), Alex Capus' "Susanna" (NZZ), Ali Al-Kurdis "Der Schamaya-Palast" (Dlf Kultur) und Amanda Lee Koes Debüt "Die letzten Strahlen eines Sterns" (FAZ).

Und Wir freuen uns: Unsere Lyrik-Kolumnistin Marie Luise Knott erhält für ihr Buch "370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive" den Essay-Preis "Tractatus" des Philosophicums Lech - wir gratulieren!
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Kunst

Leonardo Bezzola, Niki de Saint Phalle, Lucerna, 1969. Foto: Kunsthaus Zürich

So berührt wie begeistert kommt NZZ-Kritiker Philipp Meyer aus der großen Retrospektive zu Niki de Saint Phalle im Kunsthaus Zürich, in dem sich ihre Nanas, die üppigen Frauengestalten und Riesenskulpturen der Weiblichkeit, nur so drängen: "Ihre Kunst mag poppig und humorvoll sein, weswegen sie sich in der breiten Öffentlichkeit anhaltender Beliebtheit erfreut. Unter dem oberflächlichen Charme ihres Werks verbirgt sich aber auch Abgründiges. Niki de Saint Phalle kam 1930 als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle im vornehmen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine zur Welt. Ihr Vater entstammte einer alten Adelsfamilie und war Bankier, verlor aber während der Weltwirtschaftskrise sein Vermögen. Ihre Mutter war Amerikanerin und nannte ihre Tochter Niki. Die Kindheit war geprägt von einem schwierigen Verhältnis zur Mutter und vom sexuellen Missbrauch durch ihren Vater - ein lebenslanges Trauma, das sich in ihrer Kunst niederschlug. Ähnlich wie Louise Bourgeois fand die Autodidaktin in ihrer künstlerischen Tätigkeit einen psychotherapeutischen Zufluchtsort. Kunst war ihr Schicksal, wie sie einmal selber sagte: 'Zu anderen Zeiten wäre ich für immer in eine Irrenanstalt eingesperrt worden - so aber befand ich mich nur kurze Zeit unter strenger psychiatrischer Aufsicht, mit zehn Elektroschocks usw. Ich umarmte die Kunst als Erlösung und Notwendigkeit.'"

Weiteres: In der FAZ berichtet Niklas Bender, dass Straßburgs Bürgermeisterin Jeanne Barseghian die Museen der Stadt künftig zwei Tage in der Woche schließen lassen möchte, statt wie bisher einen Tag. Sie begründet das mit den hohen Energiekosten, doch Bender meldet Zweifel an: "Die kulturelle Kälte, die schon bei der ersten Weichenstellung im Zeichen des Mangels Einzug hält, ist derzeit besorgniserregender als noch unkalkulierbare Probleme bei der Gasversorgung." In der SZ zeigt Peter Richter, was für trübselige Schleifen die Documenta-Debatte dreht. Ein Kasseler Kunststudent beklagte sich, dass sein Werk nicht gezeigt werden sollte, mit dem er den Antisemitismus der Kunstschau anprangern wollte ("Neuer Eklat!" rief die WamS): Es zeigte im Triple einen Ausschnitt aus Taring Padis "People's Justice", Joseph Beuys und, naja, eben nicht den Altnazi Werner Haftmann, sondern den Sozialdemokraten Arnold Bode.
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Bühne

Rückkehr der Verfemten: Anna Netrebko als Mimi in "La Bohème". Foto: Barbara Zeininger/Staatsoper Wien

Die Rückkehr Anna Netrebkos auf die Bühne der Wiener Staatsoper wurde mit Tumulten vor und zu Beginn von Puccinis "Bohème" quittiert, berichtet Stefan Ender im Standard: "Und wie war nun ihre Mimì? Wundervoll, speziell wenn man bedenkt, dass Netrebko diese Partie seit sieben Jahren nicht mehr gesungen hat... Mit Vittorio Grigolo hatte die zur Gemächlichkeit neigende Netrebko einen Turbo an ihrer Seite. Der Italiener ist dynamisch wie darstellerisch ein Heißsporn, der die Extreme liebt und zwischen ihnen Haken schlägt. Bei seinem Fortissimo fliegt das Dach weg, im Piano kann er schmachten wie Julio Iglesias." In der SZ schmachtet auch Egbert Tholl, der allerdings weiß, dass Netrebko nur für die erkrankte Eleonora Buratto einspringt: "Die Wiener 'Bohème' stammt übrigens aus dem Jahr 1963, sie war damals schon eine Übernahme von der Mailänder Scala, mehr muss man zur Inszenierung auch nicht sagen. Bertrand de Billy dirigiert mit Kraft und Saft, die Besetzung ist sehr ordentlich, doch zum Ereignis wird der Abend durch die Wärme, die schauspielerische Wahrheit, die unvergleichliche Stimmschönheit, das irisierende Pianissimo Anna Netrebkos. Da kann man sich fragen, wer braucht wen mehr, Netrebko den Opernbetrieb, oder der Opernbetrieb Anna Netrebko? Die Antwort steht fest."

Weiteres: taz-Kritikerin Shirin Sojitrawalla kann bei der Theater-Biennale in Wiesbaden gar nicht genug "Postkoloniales, Queeres, Trashiges" bekommen.
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Musik

In der NZZ resümiert Christian Wildhagen den "Diversity"-Schwerpunkt des Lucerne Festivals, den er sehr lobt - zumal, wenn sich das Problem so offensichtlich zeigt, wie etwa beim Philadelphia Orchestra, in dem bei der Aufführung der ersten Sinfonie von Florence Price nur ein schwarzer Musiker saß, der über weite Strecken des Geschehens wenig zu tun hatte - obwohl in Philadelphia 40 Prozent der Bevölkerung schwarz sind. Zwiegespalten ist er allerdings, wie sich das Problem angehen ließe, etwa bei der Frage "welcher angeblich oder wirklich marginalisierten Gruppe sich die Aufmerksamkeit als Nächstes zuwenden soll. Was definiert diese Gruppen, wer wählt sie aus? Wäre am Festival beispielsweise ein Motto denkbar, das die nicht unerhebliche Bedeutung von Homosexuellen im Kulturleben thematisiert? Es läge in der Logik des Sichtbarmachens von Minderheiten. Doch zeigt bereits die Erfahrung mit dem Luzerner 'Diversity'-Thema, dass zwischen dem Engagement für ein berechtigtes Anliegen und der Anbiederung an zeitgeistige Partikularinteressen oft ein sehr schmaler Grat liegt."

Max Nyffeler hält in der FAZ Rückschau auf das Festival: "Insgesamt wirkt der frische Wind, der in die hochkulturelle Schutzzone hineinweht, durchaus wohltuend. Ein Schwerpunkt ist die Musik schwarzer Minderheiten - ein Tribut an den aktuellen Zeitgeist. Geglücktes stand neben Problematischem, lohnenswerte Entdeckungen wie die erste Symphonie von Florence Price neben Unausgegorenem wie dem mit Schlagzeugimprovisation angereicherten Streichquartett von Tyshawn Sorey. ... Begeisterung entfachte hingegen die Südafrikanerin Golda Schultz mit Liedern komponierender Frauen von Clara Schumann bis heute."

Außerdem: Patrick Bahners resümiert in der FAZ eine Musiksendung, die der Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg als Plädoyer, Musik politisch richtig einzusetzen, für den Dlf konzipiert hat. Helmut Mauró (SZ), Stefan Schickhaus (FR), Manuel Brug (Welt) und Jan Brachmann (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Pianisten Lars Vogt.

Besprochen werden Igor Levits Darbietung von Ferruccio Busonis Klavierkonzert beim Musikfest Berlin (Tsp, hier eine Aufzeichnung), Perfume Genius' Album "Ugly Season", das laut FR-Kritiker Stefan Michalzik mitunter "düster dräuende Sounds auf Minimal-Geklicker mit stereophonem Effektspiel" bietet, Ben Harpers "Bloodline Maintenance" (taz), ein Konzert von Pussy Riot (Standard), ein Auftritt der ukrainischen Band Love'n'Joy (taz), der Auftritt von Glass Animals in Berlin (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter die Wiederveröffentlichung von Machines Soul-Album von 1972 (Standard).

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