Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Mann singt dagegen an

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16.09.2022. FR und Welt bescheinigen der Documenta einen ästhetischen und politischen Bankrott. taz und HNA verteidigen die dort gezeigten palästinensischen Propagandafilme. Bei Monopol ärgert sich die kubanische Künstlerin Tania Bruguera, dass die Diskussion um Antisemitismus alles andere auf der Documenta überlagert hat: auch die Diktatur in Kuba. Warum machen sich Schweizer Autoren in den öffentlichen Debatten so unsichtbar, fragt die NZZ. Die FR hört sich durch eine koreanische Ahnengedenkzeremonie mit fünfzig Schlag-, Streich- und Blasinstrumenten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.09.2022 finden Sie hier

Kunst

Der Druck von "Medien und Politiker*innen" sei "unerträglich" geworden, ließ gestern die Findungskommission der Documenta verlauten, meldet Judith von Sternburg in der FR: "'Wir lehnen Antisemitismus ebenso ab wie dessen derzeitige Instrumentalisierung, die der Abwehr von Kritik am Staat Israel und seiner derzeitigen Besetzungspolitik palästinensischer Gebiete dient", heißt es weiter. "Es scheint nur noch darum zu gehen, sich bis zuletzt - Ende nächster Woche - durchzusetzen", kommentiert Sternburg: "Eine erstaunlich populistische Randbemerkung der Findungskommission: 'Wir respektieren und schätzen', heißt es da, 'die hunderttausende an Besucher*innen, die die Ausstellung gesehen haben. Auch ihre Stimmen sollten gehört werden.' Weil sie mit ihrem Besuch Ja zu 'Tokyo Reels' gesagt hätten? Haben sie das? Und werden ihre Stimmen nicht gehört?" Die Documenta hat ganze Arbeit geleistet: Der "Irrglaube, dass der Zionismus die Erbsünde des Kolonialismus" ist, verbreitet sich nun überall, schreibt Jacques Schuster, der der Documenta in der Welt "ästhetischen Bankrott" bescheinigt.

Im epischen Monopol-Inteview mit Saskia Trebing spricht die kubanische Künstlerin Tania Bruguera, die mit dem Kollektiv Instar auf der Documenta vertreten ist, über die Unterdrückung in Kuba, die Verantwortung des Documenta-Publikums, und den Unmut vieler teilnehmender KünstlerInnen, nun "als antisemitisch abgestempelt zu werden, weil wir in dieser Ausstellung waren. Das ist etwas, das man sein ganzes Leben lang mit sich herumtragen muss. Wir haben nicht dieselbe Geschichte wie Deutschland, und wir haben nicht dieselben historischen Schulden, aber wir wurden in diese Debatte hineingezogen, und wir mussten aufhören, über die Diktatur in Kuba oder die Not in anderen Ländern zu sprechen und uns stattdessen positionieren. Nochmals: Ich verstehe, woher das kommt, aber einige Künstler hatten das Gefühl, dass die Documenta gekapert wurde."

In der HNA hätte sich der Historiker Joseph Croitoru gewünscht, die Kritiker des Projekts "Tokyo Reels" hätten sich die Mühe gemacht, die Hintergründe der Filmreihe zu erfahren. Im Gespräch mit dem Palästinenser Mohanad Yaqubi, der seit Längerem versucht, verloren gegangenes palästinensisches Filmmaterial aus der Zeit aufzuspüren, erfährt er: "Die Reduzierung von Tokyo Reels in Kritiken auf 'pro-palästinensische Propagandafilme' greift zu kurz. Nur etwa die Hälfte der Filme würde unter die Kategorie fallen, für die Yaqubi die Bezeichnung 'Solidaritätsfilme' bevorzugt - vom 'militanten Kino' ist im documenta-Text im Netz ohnehin die Rede." Und in der taz verteidigt der in Neapel lehrende Kulturwissenschaftler Iain Chambers die Reihe: "Solche Bilder befreien uns von der illusorischen Kohärenz von Ausgewogenheit und Neutralität, wie sie von CNN und BBC News aufrechterhalten wird. Sie offenbaren die asymmetrischen Machtverhältnisse, die die Welt strukturieren."

Weitere Artikel: In der NZZ greift Philipp Meier nochmal die Debatte um die Kritik irakischer Künstler an den auf der Berlin Biennale gezeigten Folterfotos aus dem amerikanischem Gefängnis Abu Ghraib in Bagdad auf (Unsere Resümees): "Der Fall der Berlin-Biennale zeigt mustergültig, wie Kunstschaffende gegeneinander vorgehen. Sie versuchen, anderen die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks zu verbieten in der irrigen Annahme, dieser sei das Vorrecht nur ganz bestimmter Künstler. Damit droht sich die Freiheit der Kunst selber abzuschaffen." Daran, dass Kunst auch Spaß machen kann, wird Jana Janika Bach in der taz immerhin bei der jetzt eröffnenden Bergen Triennale mit dem Titel "Yasmine and the Seven Faces of the Heptahedron" erinnert. Tobias Langley-Hunt berichtet im Tagesspiegel von der Berliner Art Week.
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Film

Stefan Grund berichtet in der Welt vom Filmfest Hamburg. Dem Schauspieler Mickey Rourke zum Siebzigsten gratulieren Fritz Göttler in der SZ, Andreas Busche im Tagesspiegel und Claudius Seidl in der FAZ.

Besprochen werden Sabine Derflingers Alice-Schwarzer-Doku (Zeit online, Tsp, SZ), Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens Roman "Mittagsstunde" (FR), Brett Morgens David-Bowie-Doku (Zeit online) und Ol Parkers Filmkomödie "Ticket ins Paradies" (FAZ).
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Literatur

Warum machen sich Schweizer Autoren in den öffentlichen Debatten so unsichtbar, fragt in der NZZ Roman Bucheli, der sich noch gut an andere Zeiten erinnert. Egal ob Pandemie, Ukrainekrieg oder Anschlag auf Salman Rushdie, es folgt: "nichts. Große Stille oder allenfalls hilfloses Stammeln. Eine Woche nach dem Anschlag fragt die NZZ eine Reihe von Schweizer Autorinnen und Autoren an und bittet um eine kurze Einschätzung, um Überlegungen zum Stellenwert des freien Wortes. Fünf antworten mit einem Text, weitere sieben winken ab, sie wollen oder können nichts schreiben. Auch so kann man die eigene Irrelevanz befördern und bekräftigen, indem man sich aus dem öffentlichen Diskurs zurückzieht, sei es aus Bequemlichkeit oder aus vorgeschützter Unzuständigkeit. Was aber ist von einem Schriftsteller zu halten, dem nichts einfällt, wenn einer seiner Berufskollegen niedergestochen wird? Ist dann von seinen übrigen Einfällen überhaupt noch etwas zu halten?"

In der taz berichtet Marie Frank über Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegenüber dem Leiter des Internationalen Literaturfestivals in Berlin, Ulrich Schreiber. Ein "nicht akzeptables Maß' von 'Aggressivität, Respektlosigkeit, Misstrauen und Unprofessionalität'" wird beklagt: "Die Unterzeichner*innen sehen gar die 'psychische und physische Gesundheit' der Festival-Mitarbeitenden 'in akuter Gefahr': So sollen die Missstände bei Angestellten zu Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Herzrhythmusstörungen und Zusammenbrüchen geführt haben." Schreiber gibt gegenüber der taz zu, dass er laut werden kann und verspricht Besserung. Einen Rücktritt, wie von den (anonymen? das wird im Artikel nicht klar) Unterzeichnern gefordert, lehnt er ab.

Besprochen werden Jürgen Habermas' "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik" (NZZ), Hannah Bergmanns Jugendroman "Night of Lies" (Tsp), Wolfgang Wills "Der Zug der 10 000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres" (NZZ), Omri Boehms "Radikaler Universalismus" (SZ), Marcel Jouhandeaus Reisetagebuch von 1941 "Die geheime Reise" (Welt), Jing Tsus "Kingdom of Characters. The Language Revolution that Made China Modern" (FAZ), Wolfram Hogrebes "Ligaturen" (FAZ) und Christoph Ribbats "Wie die Queen" (FAZ).
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Bühne

Was für Stoffe können Theatermacher:innen ihrem jugendlichen Publikum im Zeitalter der Triggerwarnungen noch zumuten?, fragt Nachtkritikerin Elena Philipp und hört sich in der Branche um: "Strittige Inszenierungen, die nicht schon auf der Bühne mit vermitteln, wie sie verstanden werden wollen, brauchen also eine besonders gute Einbettung oder: ein besonders stabiles Geländer. Aber ist das nicht allzu pädagogisch, ein künstlerisches Ereignis stets diskursiv einzubetten, statt es wirken zu lassen? Nicht für die jungen Zielgruppen, da sind sich Mina Salehpour, Ulrike Stöck und vermutlich die meisten ihrer Kolleg:innen einig."

Besprochen werden Anja Horsts und Jonas Knechts Inszenierung "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm/Nach der Ruhe vor dem Sturm" am Theater St. Gallen (nachtkritik), David Martons "Piqué Dame"-Inszenierung, mit der die Brüssler La Monnaie Oper die Spielzeit eröffnet (nmz) und Henri Masons Neuinszenierung der "Zauberflöte", bei der Omer Meir Wellber sein Debüt als neuer Musikdirektor der Wiener Volksoper gab (Standard).
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Musik

Artur Weigand unterhält sich für die Welt mit Grzegorz Kwiatkowski, dem Sänger der basisdemokratischen polnischen Band Trupa Trupa, die demnächst auf Deutschland-Tournee geht. Kwiatkowski ist auch Dichter. Über den Unterschied von Poesie und Musik sagt er: "Als ich jünger war, wollte ich diese beiden Welten voneinander trennen. Ich wollte meine Poesie von der Musik trennen, weil ich nicht mit meiner Schriftstellerei in die Band gehen wollte, weil ich mein Ego nicht bloßstellen wollte. Aber nach vielen Jahren habe ich etwas sehr Einfaches herausgefunden: Poesie ist immer auch Musik. Jeder Dichter und Schriftsteller ist ein Musiker. Und ich kann nicht so tun, als wäre ich kein Dichter, ich kann nur ich selbst sein. Also, auch wenn ich nicht mit meiner Poesie auf die Band ausstrahlen möchte, tue ich es doch."

Hier ein "Jolly New Song" von Trupa Trupa:



Arno Widmann (FR) hörte ein Konzert mit alter koreanischer Musik in der Berliner Philharmonie. Interessante Erfahrung, aber er hätte vorher in die Einführung gehen sollen, gibt er zu: "So bin ich nur einem Höllenlärm ausgeliefert, den an die fünfzig Schlag-, Streich- und Blasinstrumente veranstalten. Ein Mann singt dagegen an. Achtzig Minuten lang. Ich sitze in Berlin im großen Saal der Philharmonie und erlebe die Aufführung einer koreanischen Ahnengedenkzeremonie (Jongmyo Jeryeak). Seit dem 18. Jahrhundert wird sie jedes Jahr vor dem riesigen Jongmyo-Schrein aufgeführt. Ein Fest, das vielleicht am ehesten mit unserem 'Allerseelen' zu vergleichen ist. Schrein und auch die Musik, die ich gerade höre, gehören zum Unesco-Weltkulturerbe. Der ganze Vorgang erinnert daran, wie europäische Kirchenmusik aus dem sakralen Raum in die Konzertsäle verlagert wurde. Ich schreibe diesen Artikel in den Räumen der ehemaligen Singakademie, in der Mendelssohn 1829 die Matthäuspassion für das säkulare Zeitalter neu entdeckte. Aus der Religion wurde Kunstreligion. Etwas Vergleichbares scheint mit Jongmyo Jeryeak passiert zu sein."

Besprochen werden neue Alben fürs Wochenende von Jadu, Eliza, Whitney, Death Cab for Cutie (BlZ), Santigolds Album "Spirituals" (taz), Marcus Mumfords Soloalbum "Self-Titled" (FR), Oliver Sims Soloalbum "Hideous Bastard" (taz), ein Konzert des Tenors Benedikt Kristjánsson mit Musik von Bach und Texten von Amos Oz beim Beethovenfest (FAZ) und ein Konzert von Arcade Fire in Köln (das Julia Lorenz auf Zeit online nutzt, um über die #metoo-Vorwürfe gegen Sänger Win Butler zu meditieren. In der SZ schreibt dazu Jakob Biazza.)
Archiv: Musik