Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Crêpe-Stoff wird zur Baumrinde

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05.10.2022. Die taz lernt in Paris, die surrealistischen Täuschungsmnöver der Modeschöpferin Elsa Schiaparelli zu bewundern. FAZ und Berliner Zeitung verfolgen Berlin weiter, wie Dimitri Tcherniakov Wagner die Poesie austreibt. Der Standard  erzählt von Philippe Jordans schrillem Abgang von der Wiener Staatsoper. Die SZ blickt mit Ulrich Seidl in "Rimini" auf das Elend eines abgehalfterten Schlagerstars. Trauer herrscht über den Tod der Countrysängerin Loretta Lynn
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.10.2022 finden Sie hier

Design

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Brigitte Werneburg und Marina Razumovskaya erzählen in der taz Leben und Wirken der Modedesignerin Elsa Schiaparelli, der das Musée des Arts Décoratifs in Paris unter dem Titel "Shocking!" aktuell eine Ausstellung widmet. Schiaparelli ging auf Tuchfühlung zu den Surrealisten und entwickelt in Auseinandersetzung mit ihnen ihre eigene Stimme: "Schiaparellis Botschaft: Mode, das ist die auf Schönheit kalkulierte Täuschung, der große Auftritt, die Parade, das Erscheinen und Sichzeigen. ...  Schiaparelli ist fasziniert von der Metamorphose. Wie bei Ovid die Menschen verwandelt sich bei ihr ein Cape in einen dichten Umhang aus hell- und dunkelgrünen Blättern (Herbst 1938), ein Crêpe-Stoff wird zur Baumrinde und im Frühjahr 1938 ist eine ganze Kollektion 'Paienne', in der Ausstellung wird sie präsentiert als: 'Sous les ailes de Pan'. Tragendes Medium von Schiaparellis surrealistischen Transformationen ist die Stickerei, la broderie. Niemand hat sie zu so prachtvoller Entfaltung gesteigert."

Amazon wirbt damit, in einem eigens eröffneten Bekleidungsladen in Los Angeles die Algorithmen maßschneidern zu lassen. "Es ist fantastisch, so viel zu sehen, das mir nicht gefällt", berichtet Maja Beckers auf ZeitOnline von ihrer Visite. "Alles ist so sortiert, wie es eine Software sortieren würde: An einer Stange hängen Kleider, die stilistisch nichts gemeinsam haben, sich aber ein Merkmal teilen, Muster: gepunktet. An einer anderen Stange hängt 'Denim unter 50 Dollar'. Es gibt Regale für bestimmte Marken ('Champion') und Materialien ('Strick') und Anlässe ('Tops zum Ausgehen') und diverse andere Filter, die man vom Onlineshopping kennt und die hier auf Schildern stehen. Nur eines gibt es nicht, ein menschliches Geschmacksurteil, das alles zusammenhalten würde. An einer Wand hängen Kleider neben den Worten 'Costumers' most loved'. Wenn man fragt, was das heißt, erfährt man: Dinge, die Leute auf der Website besonders oft angucken. "

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Hello, Robot - Design zwischen Mensch und Maschine" im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (SZ).
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Film

Zwischen Hagiografie und Elend: "Rimini"

Bevor Ulrich Seidls neuer, umstrittener Film "Sparta" in die deutschen Kinos kommt, kommt erst einmal sein zweitneuester Film "Rimini". Der handelt von einem abgehalfterten Schlagerstar, der in tristen Hotels in Rimini außerhalb der Saison Österreicherinnen auf der Bühne und gelegentlich auch im Bett bespaßt, während draußen der Nebel keine Urlaubsstimmung aufkommen lässt. "Das alles dürfte eigentlich nicht funktionieren", schreibt Tobias Kniebe in der SZ. "Wie oft wurde die Schlagerwelt schon als verlogen gezeigt, vor dem Hintergrund kalter Tristesse? Zum wievielten Mal blickt man mit wohliger Angstlust auf die Hässlichkeit von Billighotels? Und der wieviel tausendste Nazivater ist hier zu sehen, der das Leben seiner Kinder ruiniert? Es funktioniert dann aber doch, vor allem weil der Film so gar keine Erlösung verspricht, und auch keine Erkenntnis. Alles ist so elend, wie's halt ist."

Angesichts der rund um "Sparta" erhobenen Vorwürfe, dass Seidl seine Laiendarsteller manipuliert, stellt sich für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche bei "Rimini" nochmal neu die Frage, inwiefern die "Methode Seidl" nicht mal ein Update vertragen könnte. Doch "'Rimini' wirkt schon deshalb unverfänglicher, weil er als überzeichnete Hagiografie angelegt ist, vergleichbar mit - auch hinsichtlich der Physiognomie ihrer Protagonisten - Aronofskys 'The Wrestler'. In diesem Nostalgiemodus kann 'Rimini' in seiner Fremdscham-Inszenierung schwelgen, ohne das Publikum vollends vor den Kopf zu stoßen. Die atmosphärische Adria-Nachsaison tut ihr Übriges: Richie stapft im Pelzmantel wie ein Mammut durch den klammen Herbstnebel am Strand von Rimini, der morbide Charme der leeren Hotelfoyers und Casinos stellt eine Endzeitstimmung her."

Wenn alte Filme wieder ins Kino kommen (aktuell unter anderem Quentin Tarantinos "Reservoir Dogs" und George A. Romeros "Nacht der lebenden Toten"), dann ist das gerade in Zeiten, in denen das Kino wieder zur Monotonie des Qualitätsfilms neigt, dem die Nouvelle Vague einst den Kampf angesagt hat, mehr als nur Nostalgie, findet Daniel Moersener auf ZeitOnline: "Schließlich kennzeichnet das Kino seit jeher eine widersprüchliche Zeitlichkeit. Anders als das Fernsehen, in dem Aufzeichnung und Ausstrahlung synchronisiert werden, begnügt sich das Kino nicht mit der Gegenwart: Es ist immer 'Out of the Past' und zugleich 'A Better Tomorrow'. Das Kino entwendet sein Material der Vergangenheit und schleudert es der Zukunft entgegen. Hier wird die Projektion zum großen Wurf der Bilder."

Weitere Artikel: Nadine A. Brügger wirft für die NZZ einen Blick auf 60 Jahre James Bond im Kino und im Zuge auch auf das sich wandelnde Männerbild des Franchise. Michail Romms Essayfilm "Der gewöhnliche Faschismus" aus dem Jahr 1965 ist heute nur noch aus historischen Gründen aufschlussreich, findet Matthias Heine in der Welt. Besprochen werden Andreas Schmieds "Love Machine 2" (Standard), Gina Prince-Bythewoods Amazonen-Epos "The Woman King" (Standard) und die Disney-Koch-Serie "The Bear" (taz).
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Bühne

Fricka (Claudia Mahnke) und Wotan (Michael Volle) in der "Walküre" an der Berliner Staatsoper


An der Berliner Staatsoper geht die neue Inszenierung von Wagners "Ring des Nibelungen" nach dem "Rheingold" gleich mit der "Walküre" weiter. Die ersten Eindrücke (unser Resümee) bestätigen sich: Christian Thielemann dirigiere erstaunlich heiter, findet Clemens Haustein in der FAZ, aber Dimitri Tcherniakovs Inszenierung wirft bei ihm Fragen auf: "Es ist der Tod des Mythos durch die Wissenschaft, den Tcherniakov hier vorführt mit allen Vor- und Nachteilen, die daraus erwachsen. Sicher ist man nun vor allen Peinlichkeiten der Wagner'schen Sagenwelt; gleichzeitig verkommen die mythologischen Erzählungen in der Handlung zum Gerede, das völlig verzichtbar wäre. Und man bezahlt mit einem gewaltigen Verlust an Poesie und Wärme." Schlüssig, aber unintensiv findet Peter Uehling in der Berliner Zeitung Tcherniakovs Regie: "Als der erschöpfte Siegmund nach einem 'Quell' verlangt, erwartet man fast, dass Sieglinde beim Gang zum Kühlschrank fragt: 'Mit oder ohne Gas?'"

Der Dirigent Philippe Jordan verlässt die Wiener Staatsoper als Musikdirektor mit Aplomb: Das deutsche Regietheater sei eine Zumutung fürs Publikum, schimpfte er im Boulevardblatt Kurier, Zusammenarbeit zwischen Bühne und Orchester gar nicht möglich. Im Standard nimmt ihm Ljubiša Tošic das nicht ab und vermutet ein Zerwürfnis mit Staatsoperndirektor Bogdan Roščić: "Dass Jordan sich nun als eher reaktionär outet, lässt auf eine tragikomische Flucht nach vorn schließen. Roščić jedenfalls widerspricht ihm. Nicht Jordan habe eine Verlängerung abgelehnt; es war er, der Direktor, der ihm keine weitere Amtsperiode zugestand. Der sehr plausible Hintergrund: Es ist längst Stadtgespräch, dass die Chemie zwischen dem Staatsopernorchester und dem Dirigenten nicht die beste war."

Aber was wäre Wien, wenn sich daraus nicht eine Posse entwickelte:



Besprochen werden Armin Petras' Bühnfassung von Wassili Grossmans Romanwerk "Leben und Schicksal" am Theater Bremen (Nachtkritik) und Zukunftsszenarien des Theaterkollektivs Hashtagmonike am Theaterhaus Jena (FAZ).
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Literatur

In der Zeit berichtet Katharina Teutsch von ihrem Treffen mit der Schriftstellerin Christine Wolter, deren 1982 in der DDR erschienene Roman "Die Alleinseglerin" gerade als Wiederveröffentlichung von der Kritik gefeiert wird. Die NZZ bringt hier und dort weitere Lieferungen aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. In Berlin werden unveröffentlichte Briefe von Else Lasker-Schüler versteigert, meldet Camilla Blechenin in der FAZ. Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman berichtet in der SZ von seiner schlimmsten Lesung, bei der ihn die Veranstalter mit einem Quizabend überraschten. Marko Martin erinnert in der Welt an den "Ersten Deutschen Schriftstellerkongress", bei dem vor 75 Jahren 300 Autoren in Ost-Berlin tagten und auf Moskaulinie eingenordet werden sollten. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner dem Horrorschriftsteller Clive Barker zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Juri Andruchowytschs "Radio Nacht" (taz), die von Martin von Koppenfels herausgegebene, vierbändige Zusammestellung "Spanische und hispanoamerikanische Lyrik" (FR), Aleš Štegers "Neverend" (SZ), Georg Schmidts "Durch Schönheit zur Freiheit. Die Welt von Weimar-Jena um 1800" (SZ), Sinthujan Vartharajahs "an alle orte, die hinter uns liegen" (BLZ) und Rafael Chirbes' "'Von Zeit zu Zeit'. Tagebücher 1984-2005" (FAZ).
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Kunst

In der FAZ stellt sich Patrick Bahners gegen Georg Baselitz' Forderung, Adolf Zieglers NS-Tritychon "Die vier Elemente" aus der Ausstellung der Münchner Pinakothek der Moderne zu entfernen (unser Resümee). Ein Museum soll nicht nur zeigen, was ästehtisch oder moralisch gefällt, meint Bahners. Und: "Die Auffassung, dass unter den korrupten Produktionsbedingungen im NS-Staat nur schlechte Kunst habe entstehen können, zwingt Moral und Ästhetik zusammen unter dem Bann wahnhafter Reinheit." In der Welt betont Sven Felix Kellerhoff, dass Ziegler ein Parteikünstler  gewesen sein mag, aber bei der NS-Führung nicht sonderlich gut gelitten. Goebbels beschimpfte ihn als Kamel, Wicht und Trottel.

Weiteres: Im Tagesspiegel gibt Nicola Kuhn einen Ausblick auf den Steirischen Herbst in Graz, in dessen Mittelpunkt die Schau "Ein Krieg in der Ferne" steht. Besonders beeindruckt hat sie Mykola Ridnyis an der Schwarzmeerküste gedrehtes Video "Seacoast" von 2008, bei dem Quallen zum Sound von Düsenjets auf einen friedlichen Strand klatschen. Besprochen werden Louise-Bourgeois-Ausstellung "The Woven Child" im Berliner Gropius-Bau (SZ) und zwei Magnum-Ausstellungen im Museum für Fotografie und in den Reinbeckhallen (FR).
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Musik

Die Countrysängerin Loretta Lynn ist im gesegnten Alter von 90 Jahren gestorben. Für Standard-Kritiker Karl Fluch war sie eine "Country-Heilige", auch wenn er das selbst für übertrieben hält: "Denn wie ihre männlichen Kollegen hatte sie eine so rustikale wie geschliffene Sprache. Gepaart mit einem emanzipatorischen Antrieb war das im stockkonservativen Country-Fach ein gewagter Schritt und neu. Doch für ihre Furcht war die am 14. April 1932 in Kentucky geborene Tochter eines Kohlenarbeiters nicht bekannt. Songs wie 'Fist City, Don't Come Home A-Drinkin' (With Lovin' on Your Mind)' oder 'One's on her Way' signalisierten mit Witz und Verve ihre Haltung und letztlich eine Zeitenwende." Ihr "Zorn richtete sich aber nicht nur gegen Machismo und die Nebenbuhlerinnen", schreibt Andrian Kreye in der SZ. "1966 veröffentlichte sie mit 'Dear Uncle Sam' einen der ersten Anti-Vietnamkriegs-Songs. Sie sang in 'The Pill' für das Recht auf Verhütung und in 'Rated X' gegen die Doppelmoral, mit der geschiedene Frauen von der Gesellschaft abgestraft wurden. Mehr als einmal wurden ihre Hits aus dem Radio verbannt. Weitere Nachrufe im Tagesspiegel und in der NZZ.



Auf ZeitOnline erzählt Annekathrin Kohout die beeindruckende Erfolgsgeschichte von K-Pop, der ohne die Fans und deren insbesondere auf Social Media ausgelebter Leidenschaft nicht zu haben gewesen wäre - die Fans himmeln nicht nur an, sondern machen rege mit und kopieren ihre Idole. "Das ist es, was die koreanische Welle über die sozialen Medien weltweit erfolgreich gemacht hat: Sie verlagert die Einzigartigkeit und Autonomie einzelner Künstler auf eine Vielzahl kreativer Rezipienten."

Weiteres: In Berlin sprachen Depeche Mode über ihre Zukunftspläne, berichten Michael Pilz (Welt) und Nadine Lange (Tsp). Marco Frei ist in der NZZ gespannt auf Cristian Măcelarus Debüt als Dirigent beim Tonhalle-Orchester. Isabelle Braun stimmt in der NZZ auf einen Auftritt des Rappers Apache 207 ein. Youtube hat den Kanal der Rapper K.I.Z. gesperrt, weil deren aktuelles Video "Oktoberfest" aus einer Zusammenstellung von Ekel-Exzessen aus Wiesn-Aufnahmen ist, meldet Joshua Beer in der SZ. Darüber kann der Rapper Blokkmonsta, mit dem die Welt spricht, nur lächeln: 27 Alben von ihm stehen auf dem Index der Bundesprüfstelle. Auf Twitter liefert Axel Brüggemann eine Chronik des (Nicht-)Umgangs des Klassikbetriebs mit Teodor Currentzis in der Russlandfrage.

Besprochen werden Sampa The Greats "As Above, So Below" (FR), ein vom Nachwuchsdirigent Tarmo Peltokoski dirigiertes Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters (Tsp), ein neues Schlager-Album von Felix Kummer (Standard) und das Comeback-Album von den Yeah Yeah Yeahs (ZeitOnline-Rezensent Torsten Groß vermisst den "früheren Furor, das Desperate, Zerschossene, Aufbegehrende" und "halbgar" findet es Standard-Kritiker Karl Fluch).



Außerdem bringt das Logbuch Suhrkamp eine neue Folge aus Thomas Meineckes "Clip/Schule ohne Worte":

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