Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Weghauchen der letzten Silben

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11.11.2022. Während auf ukrainische Museen Bomben fallen, werden in russischen Museen Soldaten für den Krieg rekrutiert, erzählt in der NZZ Julia Waganova, Direktorin des Chanenko-Kunstmuseums in Kiew. Der Filmdienst begutachtet die Zombies in Claudia Müllers Porträtfilm über Elfriede Jelinek. Die Welt bewundert die phänotypische Vielgestaltigkeit der österreichischen Schriftstellerin. Die FR staunt über die fitte und gut gelaunte Mutter Wen Huis, die in deren Choreografie in "I am 60" tanzt. In der FAZ erklärt der ukrainische Dirigent Volodymyr Sirenko die zentrale Bedeutung der sinfonischen Ballade "Grażyna" von Borys Ljatoschynskyj für den ukrainischen Freiheitskampf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Judith Leister unterhält sich für die NZZ mit Julia Waganowa, der Direktorin des durch russische Bomben schwer beschädigten Chanenko-Kunstmuseums in Kiew. Die Kunstwerke, erzählt sie, sind inzwischen "an einem geheimen Ort. Aber Sie können sich vorstellen, dass man nicht alle Objekte außer Landes bringen kann. Da die Russen gerade unsere Energieversorgung zerstören, kann es Sekundärschäden geben, wenn der Strom ausfällt und die Werke der Feuchte und bestimmten Temperaturen ausgesetzt sind. Zudem besteht unser Museum aus zwei denkmalgeschützten Gebäuden. Im ehemaligen Wohnhaus der Familie Chanenko aus der Zeit des Eklektizismus ist fast jeder Raum individuell gestaltet." Während also ukrainische Museen beschossen werden, zeigt das Siegesmuseum in Moskau gerade die Ausstellung "Gewöhnlicher NATOzismus", "in Anspielung auf den Nationalsozialismus", so Waganowa. "Darin wird die übliche russische Propaganda über die Ukraine wiederholt und - in aggressiver Verdrehung der Fakten - der angebliche 'Nazismus' Europas und der USA präsentiert. Manche Kulturstätten wurden zu Rekrutierungsbüros, so das Museum der Stadt Moskau, das Staatliche Darwin-Museum, das Museum der russischen und Sowjethelden und das Roman-Witjuk-Theater. Das sagt viel über die Funktion und den Stellenwert der Kultur in Russland aus."

Fritz Erler: Schwarzer Pierrot, 1908. Akademie der Künste, Berlin. Foto: Oliver Ziebe


"Wo immer man hinschaut in den Ausstellungssälen, stößt man auf Geschichten von Verlust, Raub, Beschlagnahme, Vergessen und Wiederkehr", schreibt ein nachdenklicher Andreas Kilb in der FAZ über die Ausstellung "Spurensicherung", mit der die Akademie der Künste in Berlin ihre Provenienzforschungen der letzten zwanzig Jahre dokumentiert. "Vor vier Jahren wurden in einem Berliner Auktionshaus zwei Ölskizzen von Carl Blechen mit dem Eigentümerstempel der Akademie der Künste eingeliefert. Die Bilder waren 1945 aus einem Auslagerungsraum in der Neuen Reichsmünze gestohlen worden; jetzt hängen sie wieder in der Akademie. Eine Munitionskiste mit Lebenszeugnissen der jüdischen Pianistin Ella Jonas-Stockhausen, die ihr Überleben im 'Dritten Reich' der Übereignung ihrer Kunstsammlung an Hermann Göring verdankte, wurde auf einer Papiermülldeponie gefunden; ein Bild des als 'entartet' verfemten Malers Max Kaus überlebte nach seiner Entfernung aus der Münchner Pinakothek im Privatbesitz. Alfred Kerrs Bibliothek wurde bei seiner Flucht vor den Nazis in alle Winde zerstreut; heute verwahrt die Akademie achtundachtzig von ehemals gut fünftausend Bänden."

Museen in Europa und den USA haben die Klimaaktivisten aufgefordert, die Kunst zu respektieren, meldet unter anderen monopol: Die für die Festklebeaktionen "'verantwortlichen Aktivisten unterschätzen die Fragilität dieser unersetzlichen Arbeiten, die es als Weltkulturerbe zu bewahren gilt', hieß es am Mittwoch in einer Erklärung des Icom Deutschland, dem deutschen Nationalkomitee des Internationalen Museumsrats. Museen seien Orte, an denen Menschen unterschiedlichster Hintergründe in einen Dialog treten könnten und die gesellschaftliche Diskurse ermöglichten, betonten Museumsdirektorinnen und -direktoren von rund 90 Häusern."

Weiteres: Bernhard Schulz berichtet im Tagesspiegel von der Messe "Paris Photo". Besprochen werden eine Ausstellung im Lütticher Museum La Boverie über neun Frauen aus dem französischen Zweig der Rothschilds, die sich als Spenderinnen, Mäzeninnen und Sammlerinnen hervorgetan haben (monopol), die Ausstellung zum 25-jährigen Jubiläum der Fondation Beyeler mit dem amerikanischen Pop-Art-Künstlers Duane Hanson als special guest (NZZ) und die Schau "Das Fahrrad: Kultobjekt - Designobjekt" in der Münchner Pinakothek der Moderne (SZ).
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Film

Phänotypische Vielgestaltigkeit: Elfriede Jelinek in jungen Jahren (Farbfilm Verleih)

Mit ihrem Porträtfilm "Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen" collagiert sich Claudia Müller durch das Leben der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin und überlässt dieser dabei "ganz das Wort", schreibt Esther Buss im Filmdienst. "Die Sprache steht im Zentrum des Films, sie bekommt ihren Raum, wird ausgestellt und in Bilder hineingestellt, die sich weniger illustrativ als atmosphärisch mit dem Gesprochenen verbinden: Familienfotos, 8-mm-Aufnahmen aus den 1950er- und 1960er-Jahren, die in Filmclub-Archiven in der Steiermark gefunden wurden, aber auch historisches und neu gedrehtes Bildmaterial zu den schockierenden Ereignissen, die Eingang in Jelineks Texte fanden. ... Immer wieder sieht man auch Naturbilder, touristische Szenen, schneebedeckte Wälder, blühende Wiesen. Die Zombies sind bei Jelinek auch all die Leichenberge, die unter der Erde der österreichischen Landschaft vergraben sind."

Diese "überzeugende Collage" hat Welt-Kritiker Marc Reichwein "von der ersten Minute an verzaubert. Das liegt zum einen an der Akustik: Schauspielerstimmen von Sophie Rois über Sandra Hüller bis Martin Wuttke lassen Jelinek-Texte aus dem Off erklingen - eine kongeniale Umsetzung der Vielstimmigkeit, die Jelineks Werk so markant wie kaum ein zweites charakterisiert. Zum anderen ist da die phänotypische Vielgestaltigkeit von Jelinek selbst, aus allen Lebensphasen: Jelinek als modische Jungkommunistin; als Kurzhaarpunk; als Hoodie-Demonstrantin mit Trillerpfeife im Mund." Und "womöglich, denkt man bei den sprachgewaltigen Szenen aus ihren Dramen, die von Regie-Legenden wie Claus Peymann und Einar Schleef auf die Bühne gebracht wurden, womöglich hat niemand außer Jelinek aus Traumatisierungen, individuellen wie kollektiven, eine diskursiv so musikalische, im Sinne von Vielstimmigkeit erklingende Literatur gemacht."

Das Große und Ganze der existenziellen Geworfenheit: "Il Buco"

Dunja Bialas von Artechock verschlägt es schier den Atem, wenn sie mit Michelangelo Frammartinos Film "Il Buco" hinab in die Höhle von Abisso del Bifurto hinabsteigt, die mit fast 700 Metern tiefste Höhle Europas. Der Film stellt die erste historische Erkundung der Höhle in den Sechzigern nach, verliert dabei aber nahezu kein Wort. "Damit siedelt sich 'Il Buco' an der aufregenden Unbestimmtheitsstelle zwischen dem Dokumentarischen und der Fiktion an, bleibt historisch dem Ereignis treu und kann dennoch Imaginäres in das Faktische hineinlassen. ... Das Entdecken teilt sich so als eine Art Lumière-Höhlenmalerei mit, lässt den Gedanken an Platon aufkommen und an sein Höhlengleichnis (so auch der deutsche Verleihtitel) als Uridee von Projektion und Kino. Nur zögerlich offenbart sich das Gesteinsrelief in seinen sinnlich-geologischen Dimensionen." Und "in einer Parallelmontage, in der ein alter Hirte den Lauf der Natur akzeptiert, wird allein durch behutsame Gesten das Große und Ganze der existentiellen Geworfenheit aufgezeigt. Keine Frage: 'Il Buco' ist ein filmisches Ereignis, das einen die Demut lehrt." Für die Welt bespricht Elmar Krekeler den Film.

Weitere Artikel: Pola Beck spricht im Filmdienst über ihre Verfilmung von Olga Grjasnowas Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt". Dunja Bialas widmet sich bei Artechock dem Programm des Rumänischen Filmfestivals in München.

Besprochen werden David Cronenbergs "Crimes of the Future" (Zeit, Filmdienst, online nachgereicht von der FAZ, Artechock, unsere Kritik hier), Hong Sangsoos "Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall" (critic.de, Tsp, Filmdienst, Artechock, unsere Kritik), Christian Bäuckers Dokumentarfilm "Heimatkunde" über das Bildungssystem der DDR (Artechock), Kilian Riedhofs "Meinen Hass bekommt ihr nicht" über den Anschlag aufs Bataclan (critic.de), Ryan Cooglers neuer Marvel-Superheldenfilm "Black Panther: Wakanda Forever" (Standard, FAZ) und neue Fußball-Serien (ZeitOnline).

Und die Schweizer "Sternstunde Philosophie" gönnt sich eine Stunde Deep Talk mit Werner Herzog.

Archiv: Film

Literatur

Die FR dokumentiert Artur Beckers Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Kakehashi-Preis: "Aus einem Land zu kommen, in dem alles ständig verschwindet, die Grenzen andauernd verschoben werden und dessen Bewohner austauschbar sind, bringt mit sich - ist man Dichter - gewisse Aufgaben und sogar Verantwortung. Wie geht man poetisch, historisch, politisch, philosophisch und metaphysisch mit so einer Zerbrechlichkeit um", fragt sich der in den Masuren geborene Autor.  "Alle Schicksale sind wichtig und ihre Spuren und individuellen 'Codes' müssen irgendwo im Weltall wie auf einer Festplatte eine Ruhestätte haben, so dass man alle Daten jederzeit wieder abrufen kann. Niemand darf mit seiner Geschichte verloren gehen, denn meine schriftstellerische Aufgabe habe ich stets als die angesehen, uns alle zu retten". Dieser Wunsch "resultiert daraus, dass ich nicht verstehe, wie man Geschichten dem Vergessen preisgeben kann. Mir scheint es auch, dass wir Schatten unserer wahren Geschichten sind, Schatten unserer wahren Beweggründe und unserer wahren Tode und Leben."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Christian Thomas würdigt in der FR Claudia Dathe, die für ihre Übersetzungen aus dem Ukrainischen heute den Wilhelm-Merton-Preis erhält. Besprochen werden unter anderem der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch (FAZ), Sophie Sumburanes "Tote Winkel" (Freitag), Ulla Hahns "Tage in Vitopia" (online nachgereicht von der FAZ), Julian Barnes' "Elizabeth Finch" (Welt), Gertrud Leuteneggers "Partita" (NZZ), Ute Cohens Psychothriller "Falscher Garten" (Freitag) und John Burnsides "So etwas wie Glück" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Wen Hui, I am 60


"Schön und aufrecht, Haltung bewahrend" und durch und durch feministisch - so sah FR-Kritikerin Sylvia Staude die Choreografin Wen Hui mit ihrer "offensichtlich fitten und gut gelaunten Mutter" tanzend beim Tanzfestival Rhein-Main: "Die ältere Frau führt, denn das konnte sie schon immer richtig gut, sagt sie, ihr Mann dagegen nicht. Er ist auf einem Familienbild zu sehen, das zur Hochzeit entstand, aber Männer spielen in 'I am 60', das stark mit Projektionen, auch mit Ausschnitten aus alten chinesischen Filmen arbeitet, keine Rolle - außer, dass Frauen ihre Gewalt zu ertragen haben."

FAZ-Kritiker Simon Strauß hat immer noch die Stimme von Oskar Werner im Ohr, der Max Ophüls' Bearbeitung von Goethes "Novelle" liest, "diesen feinfühligen, zwischen Vergeblichkeit und Stolz changierenden Singsang" des vor hundert Jahren geborenen österreichischen Schauspielers. "Auf Youtube gibt es einen dreiminütigen Ausschnitt aus diesem legendären Hörspiel, das der Filmregisseur Ophüls 1954 als musikalisch unterlegte Anschauung einer Welt inszenierte, die ihre Beherrschung verloren hat. Vor sechs Jahren hat es der Westdeutsche Rundfunk noch einmal ausgestrahlt, der Hörverlag hält dieses einzigartige Tonkunststück lieferbar. Und so kann man heute also noch einmal hören, wie dieser Erzähler mit seiner Stimme das fromme Lied vom Kind anklingen lässt, als wäre es wirklich ein 'himmlischer Gesang'. ... Wo bei anderen ein gerolltes 'r' nur nach Aufmerksamkeit heischt, wo ein Weghauchen der letzten Silben manieriert und künstlich wirkt - hier, in Werners bewegender Vertonung von Goethes letztem Prosastück, hat all das seine Berechtigung. Wird Kunst durch Kunst groß gemacht."



Besprochen wird außerdem "Ariadne auf Naxos" an der Wiener Staatsoper, mit Camilly Nylund, die gerade mit dem Lotte-Lehmann-Gedächtnisring ausgezeichnet wurde, in der Titelrolle (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Kerstin Holm spricht für die FAZ mit Volodymyr Sirenko, dem Chefdirigenten des Ukrainischen Nationalorchesters, das gerade in Wiesbaden gastiert. Er präsentierte Musik, die "unverbrüchlicher Teil des ukrainischen Freiheitskampfes" sei, erklärt er. "In der Energie, der Präzision, der Koordination, mit welcher die Instrumentalisten das Publikum tatsächlich bezwingen werden, solle sich auch spiegeln, was die ukrainischen Streitkräfte bei ihrem Abwehrgefecht gegen die russischen Invasoren leisten. Von zentraler Bedeutung sei daher die Symphonische Ballade 'Grażyna' von Borys Ljatoschynskyj, der als Vater der musikalischen Moderne in der Ukraine gilt. ... Dem Stück, entstanden 1955 nach Stalins Tod, liegt das Versepos des polnischen Romantikers Adam Mickiewicz zugrunde, es beschwört mit einer noblen Kantilene im Englischhorn eine mythische litauische Häuptlingstochter, die im Kampf gegen den Deutschritterorden, der sich zu spektakulären Bläsertutti steigert, ihr Volk anspornt, umkommt und in majestätischen Streicherflächen verklärt wird. In der Aufführung von 'Grażyna', einem Favoriten ukrainischer Orchester, liege heute eine direkte Projektion, sagt Sirenko; an die Stelle der litauischen Heldin setze man die Ukraine, Russland nehme den Platz der Deutschen ein. Allerdings hoffe er, merkt der Dirigent an, auf ein optimistischeres Finale des derzeitigen Dramas."

Für die taz greift Benjamin Moldenhauer beherzt in die pophistorischen Archive, die sich ihm in einer Box mit den ersten drei Alben der Krautrock-Legende Neu und im fünften und wohl auch letzten Teil der Miscellanea-Reihe mit Raritäten und bislang Unveröffentlichtem aus dem Fundus der britischen Band Stereolab bietet, welche sich in ihrem 30-jährigen Bestehen von Neu dann obendrein auch noch immer wieder inspieren ließ. Sie schöpft "aus einem Ozean an Sounds, Instrumenten, Traditionssträngen und Genres: brasilianischer 70er Pop, ein bisschen Punk, La Monte Youngs Theatre of Eternal Music, minimalistischer Rock ohne Ornamente, Minimalismus generell, viel Krautrock und vor allem Spaß an prototypischen Analog-Synthesizern; überhaupt alles, was blubbert, repetitives Schlagzeug, Chanson, aber auch britische Experimentalmusik." Auf diese für die Neunziger typische "Retro-Ästhetik" blicke man auch heute schon wieder nostalgisch zurück. "Ein hübscher Widerspruch dann aber, dass" das Album mit "zwei Stücken beginnt, die wirken wie aus jeder Zeit gefallen. ... Eine halbe Stunde lang fließen Sounds, Gitarreneffekte, Samples und durch viele Prozessoren gejagte Stimmen über einem reduzierten Beat zusammen und wieder auseinander. Es hallt, zerrt und ist alles maximal verpilzt."



Weitere Artikel: Harry Nutt schreibt in der FR zum Tod des Nazareth-Sängers Dan McCafferty. Nachrufe auf die brasilianische Sängerin Gal Costa schreiben Detlef Diederichsen (taz) und Adrian Schräder (NZZ). Besprochen werden der Berliner Auftritt von Lil Nas X (Tsp), ein neues Album des österreichischen Rappers Kid Pex (Standard), M.I.A.s neues Album "Mata" (taz), Peter Astors neues Album "Time on Earth" (Standard) und Bruce Springsteens neues Album "Only the Strong Survive" mit Coverversionen alter Soulsongs (FR).

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