Efeu - Die Kulturrundschau

Der Zeitgeist hängt eher zurück

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03.03.2023. Monopol betrachtet auf den Fotografien Hashem Shakeris das pasolineske Leben in den Satellitenstädten Teherans. Picasso ist fünfzig Jahre tot und das kommt dabei heraus, wenn Regierungschefs sich für einen Künstler interessieren: In Spanien wird er zum werbewirksamen Markenzeichen, in Frankreich zur Verkörperung der Gründungsprinzipien Europas. Mehr als fünfzig Schauen gibts immerhin auch. Die SZ erinnert sich an die existenzielle Erfahrung mit Pink Floyds "Dark Side of the Moon" im Kinderzimmer. Die Musikkritiker trauern um den Jazzsaxofonisten Wayne Shorter, die Kunstkritiker um Peter Weibel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.03.2023 finden Sie hier

Literatur

Oliver Jungen berichtet in der FAZ vom Auftakt der lit.Cologne, die sich ganz dem Aufstand im Iran widmete und damit den zunehmend politischen Charakter des Literaturfestivals unterstreicht. Die energischen Diskussionen legten auch die verhärteten Fronten innerhalb der iranischen Diaspora offen: "Weitgehend einig war man sich, dass die Neuorganisation Irans aus dem Land selbst kommen müsse, nicht aus dem Exil. Kontroverser wurde es hinsichtlich der Frage, was von hier aus zu tun sei. Die Aufmerksamkeit wachhalten, sagte Navid Kermani, und Iran müsse politisch 'auf allen Ebenen isoliert werden'. Die Revolutionsgarden gehörten auf die EU-Terrorliste - was zu viel Applaus führte. Hier widersprach die Politikberaterin Azadeh Zamirirad, die darin keinen 'Mehrwert' sah, aber das Problem, dass dann Tausende eingezogene Wehrpflichtige als Terroristen gälten. Ihr eigener Vorschlag klang dagegen etwas weltfremd: Mit Geld, das Exil-Iraner auf eigenen Kanälen ins Land pumpen könnten, solle der Zivilgesellschaft geholfen werden. Jetzt brach aus Kermani der Zorn hervor: Seit Jahren erklärten ihm Diplomaten und Politikberater, warum alle Vorschläge nicht umsetzbar seien, stattdessen müsste dies und das getan werden, 'was aber nie passiert'. Diese Analysten hätten allerdings das Entstehen der größten Widerstandsbewegung in Iran komplett übersehen."

Außerdem: Die Welt spricht mit dem Schriftsteller Joachim Meyerhoff, dessen Roman "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" gerade verfilmt wurde. Die Zeit dokumentiert (online leider nur verpaywallt) Rainald Goetz' Rede, mit der der Schriftsteller kürzlich sein Comeback in der Öffentlichkeit feierte (unser Resümee). In der FAZ gratuliert Daniela Strigl dem Schriftsteller Josef Winkler zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Clemens J. Setz' "Monde vor der Landung" (Zeit), Ottessa Moshfeghs "Lapvona" (ZeitOnline), Megan Abbotts Krimi "Aus der Balance" (FR) und die neue Ausgabe der Zeitschrift Schreibheft (SZ).
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Kunst

Hashem Shakeri, "Porträt von Dorna und Sevda, beide 12 Jahre alt, die am Wochenende durch die neugebaute Stadt Parand spazieren", 2016, aus der Serie "Cast Out Of Heaven". Foto: © Hashem Shakeri


In Berlin findet gerade das Festival European Month of Photography (EMOP) statt, mehr dazu in Peter Truschners Fotolot. "In diesem Jahr liegt der Fokus insbesondere auf der Berliner Szene", berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel. "Es soll aber auch gezeigt werden, wie reich die Stadt an Fotoarchiven und Ausbildungsstätten ist. Der Arbeit der jungen Generation ist eine Sonderschau in einem leerstehenden Bürogebäude in der Leipziger Straße gewidmet." Wie man ein Fotoarchiv im Exil sichert, davon kann  Sergiy Lebednyskyy, Direktor eines ukrainischen Fotomuseums, ein Lied singen: Büşra Delikaya stellt ihn vor, ebenfalls im Tagesspiegel. Ferial Nadja Karrasch macht uns bei monopol mit dem iranischen Fotografen Hashem Shakeri bekannt, der ebenfalls eine Ausstellung beim EMOP hat: Hashem Shakeri. Seine Serie "Cast out of Heaven" - aus dem Himmel geworfen - zeigt das Leben in Teherans Satellitenstädten Parand, Pardis und Hashtgerd mit sehr vertrauten Problemen: "Die riesigen Siedlungen wurden errichtet, um der rasant wachsenden Population der Hauptstadt zu begegnen. Menschen mit geringem Einkommen sollten hier ein neues, erschwingliches, ein komfortables Zuhause finden. Doch der Ort, der Heimat werden sollte, wurde für die hierhergezogenen Menschen zu einer Art Limbus: Fehlende Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, kaum Arbeitsplätze bei stetigem Bevölkerungszuwachs, schlechte medizinische Versorgung und das Gefühl, vom früher gelebten, 'wirklichen' Leben abgeschnitten zu sein. Die Folgen sind ein kollektives Gefühl der Hoffnungslosigkeit, Depression, Drogenmissbrauch. Eine hohe Suizidrate."

Vor fünfzig Jahren starb Pablo Picasso. Zum großen Gedenkjahr sind in Frankreich und Spanien mehr als fünfzig Schauen geplant, berichtet Hans-Christian Rößler in der FAZ. Um den Künstler geht es dabei nur zum Teil, "Picasso wird zu einem werbewirksamen kulturellen Markenzeichen aufgebaut", lässt sich Rößler vom Direktor des Picasso-Museums im spanischen Málaga erklären. Der ist leicht verschnupft, dass Picasso oft als französischer Maler gesehen wird. In den oberen Etagen gibt man sich einiger: "Macron und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez erklärten das Picasso-Jahr schon auf ihrem vorletzten Gipfeltreffen zur Chefsache und setzten eine bilaterale Regierungskommission ein. Die Kunstbürokraten gaben die Parole aus, Picasso zu würdigen 'als universellen Künstler, der die Gründungsprinzipien Europas verkörpert, das sich aus demokratischen Staaten, Verteidigern der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit zusammensetzt'. Heraus kam dabei ein weltweiter Marathon mit mehr als 50 Ausstellungen, mit 16 die meisten in Spanien. Dazu zwölf in Frankreich, sieben in den Vereinigten Staaten, zwei in Deutschland, zwei in der Schweiz und einige mehr. Ohne die Großzügigkeit französischer Museen wäre Spanien nicht weit gekommen."

Weitere Artikel: Monopol meldet den Tod der Künstlerin Mary Bauermeister. Vier Artikel in der NZZ befassen sich mit der Aufarbeitung der Sammlung des Waffenhändlers Bührle im Kunsthaus Zürich: Thomas Ribi leitet ein, Benedict Neff erzählt, wie sich allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Herkunft der Sammlung nicht ignoriert werden kann. Thomas Zaugg berichtet über den Stand der Provenienzforschung zur Sammlung, und Thomas Ribi unterhält sich dazu kurz mit Provenienzforscher Raphael Gross. Zum Tod des Kurators, Medientheoretikers und Karlsruher Museumsdirektors Peter Weibel schreiben Ingeborg Ruthe in der FR, Sebastian Strenger im Tagesspiegel, Ursula Scheer in der FAZ, Till Briegleb in der SZ und Wolfgang Ullrich auf Zeit online.

Besprochen werden außerdem eine Installation mit drei Riesenfratzen der Künstlerin Monster Chetwynd in der Rotunde der Frankfurter Schirn (FR), eine Ausstellung des afroamerikanischen Videopioniers Ulysses Jenkins in der Julia Stoschek Foundation in Berlin (monopol), die große Miriam-Cahn-Ausstellung "Ma pensée sérielle", die jetzt im Pariser Palais de Tokyo zu sehen ist (monopol) und die Schau "Neues Licht aus Pompeji" in Münchens Antikensammlung (FAZ).
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Film

Fährt Richtung Zukunft durch die Nacht: "Knight Rider"

Frankfurter Allgemeine Quarterly spricht mit Jan Oliver Schwarz, der als Professor im Bayerischen Foresight-Institute erforscht, wie Filme die Zukunft prägen. Denn als die 80s-Trashserie "Knight Rider" ein verbal kommunizierendes Auto zeigte, das in der Lage war, eigenständig zu fahren, wirkte dies damals wie eine Vision aus Wolkenkuckucksheim - und ist heute ein Ausblick auf die unmittelbar bevorstehende Zukunft: "Ich schaue Sci-Fi-Filme oder Literatur immer mit der Frage an: Was ist da Neues drin? Filme formen das Denken vor." Sie "schauen voraus, aber der Zeitgeist hängt eher zurück. Nachhaltigkeit und Digitalisierung gelten als aktuelle Themen, sind aber eigentlich rund 50 Jahre alt." Was er daraus gelernt hat: "Erstens, die Zukunft kann ganz anders werden, als wir es uns vorstellen. Zweitens, wir können viel Inspiration aus diesen Filmen ziehen. Ich habe keine Zukunftsangst mehr. Wenn ich all die Horrorszenarien höre, was bald alles kaputtgehen soll, frage ich immer zweifelnd nach. Das hat die Science-Fiction mich gelehrt: Es gibt immer Alternativen, es könnte immer auch anders kommen. Und wir können die Zukunft mitgestalten."

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Till Kadritzke die Berliner Filmreihe "Cinema of Relocation" mit in Deutschland entstandenen Filmen von Einwanderern, darunter die in den Siebzigern entstandenen Kreuzberg-Porträts des späteren Schriftstellers Aras Ören. Besprochen werden David Wnendts "Sonne und Beton" (Perlentaucher, taz, mehr dazu hier), Todd Fields "Tár" (Welt, Standard, mehr dazu hier), Michael B. Jordans "Creed 3" (Presse) und die Amazon-Serie "Luden - Könige der Reeperbahn" (taz). Außerdem wirft der Standard Schlaglichter auf die Filme der Woche.
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Musik



Der Jazzsaxofonist Wayne Shorter ist tot. Mit seinen Alben - das bekannteste ist wohl "Speak no Evil" - prägte er den Hard und Post Bop und öffnete den Jazz in Richtung Rockmusik. Er spielte mit allen Größen, schreibt Andrian Kreye in der SZ: Von Miles Davis über Herbie Hancock zu Joni Mitchell, Carlos Santana und den Stones. Sie alle engagierten ihn "nicht nur weil sie ihn für einen der Größten halten, sondern weil jede Zusammenarbeit mit Shorter wie ein Schlüssel zu seinem Kosmos war, den man behalten durfte." Für Davis' zweites Quintett wurde Shorter für lange Zeit zum wichtigsten Komponisten - eine Entscheidung, die sich am Stück "Footprints" bestens nachvollziehen lässt: "Als Hobbymusiker hat man das Stück technisch schnell gelernt. Aber dann. Der Blues und der Groove sind nur das Rohmaterial. Die Freiräume, die diese Schlichtheit lässt, ist mindestens eine so große Herausforderung, wie eine dieser Be-Bop-Halsbrechernummern. 'Footprints' ist der Beweis, dass man Technik im Jazz selbstverständlich beherrscht, sie aber nicht ausspielt. Weil sehr viel mehr dazugehört als Fingerfertigkeit und Akkordfestigkeit, um ein Stück wie dieses zum Lodern zu bringen."



Bei Davis trat Shorter die Nachfolge von John Coltrane an, schreibt Ueli Bernays in der NZZ. Doch "Coltranes Weg führte aus traditionellen Harmonien über den modalen Jazz in den ekstatischen Free Jazz - und 1967 viel zu früh auch in den Tod. Wayne Shorter hingegen entdeckte Schritt für Schritt sein eigenes ästhetisches Prinzip: eine zeitlose Ästhetik, die mehr von organischen Prozessen der Natur oder von zyklischen Regeln des Universums inspiriert war als von der Idee eines unbedingten Fortschritts." Sie "definiert zwischen Gestern und Morgen eine zeitlose Zwischenzone. Hier herrscht ein permanenter Frühling, in dem die Jazzimprovisation Frische und Lebendigkeit demonstrieren kann." Unter den Großen stach Wayne Shorter heraus, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: "Ein Ton genügte, einer dieser lang gezogenen, jeden Klangnebel zerteilenden und dann wieder in die Unendlichkeit davonschwebenden Töne seines Sopransaxofons, und man wusste: Dieser Sirenengesang kann nur von einem Musiker stammen. Wayne Shorters oboenhafte Schärfe tauchte jede Umgebung in ein intensiveres Licht." Und "gegen Ende der 1960er Jahre erreichte er einen Gipfel eines kraftvoll nervösen, hochenergetischen Abstraktionswillens, der doch immer kurz vor der totalen Formzerstörung haltmacht." Weitere Nachrufe in Welt und Standard.

Auf zwei Seiten in der SZ erzählt der Schriftsteller Lutz Seiler wie Pink Floyds vor 50 Jahren erschienenes Meisterwerk "Dark Side of the Moon" in sein Leben in der DDR getreten ist. Eine existenzielle Erfahrung im Kinder-Jugendzimmer, schreibt er: große weite Welt im denkbar kleinsten Format. "Die Musik auf meiner mit den sauberen Großbuchstaben THE DARK SIDE beschrifteten Kassette von ORWO aus dem VEB Chemiefaserwerk 'Friedrich Engels' in Premnitz (60 min Spielzeit, jede Seite 30 min) war ein vier, fünf oder sieben Mal überspielter Mitschnitt, wie ein Kassiber weitergegeben von Kassette zu Kassette. 'Kannst du mir das überspielen?' zählte zu den zentralen Fragen meiner frühen Jugend, Freundschaften entschieden sich in diesem Moment, und oft war es noch etwas mehr: Der Akt des Kopierens konstituierte den Bund, man wurde Teil einer Verschwörung und zählte zu denen, die Bescheid wussten, jene, die vom Geheimnis wussten namens: PINK FLOYD."

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Tabea Köbler den Technoproduzenten Gunnar Wendel alias Kassem Mosse, der gerade sein neues Album "workshop 32" veröffentlicht hat. Auf dem verquer zwischen Publikums- und Jury-Votum changierenden Vorentscheid des Eurovision Song Contest liegt kein Segen, findet Konstantin Nowotny im Freitag. Im Standard freut sich Karl Fluch, dass der Satiriker Weird Al Yankovic erstmals für eine Tour nach Österreich kommt.

Besprochen werden Ryuichi Sakamotos neues Album "12" (FR, mehr dazu hier), ein von Kent Nagano dirigiertes Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich (NZZ), ein Konzert des Ensembles Quatuor Ébène in Berlin (Tsp) sowie das neue Album "Chef" von Yung Kafa und Kücük Efendi (ZeitOnline).
Archiv: Musik