Efeu - Die Kulturrundschau

Raum für das Nichts

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18.04.2023. Die Welt liest an der Geschichte des Berliner Tacheles-Areals ab, wie eine Stadt scheiterte. Die taz stellt Yasmeen Lari vor, die von der Architektur der großen Geste zum Bauen mit Bambus, Lehm und Kalk konvertierte. FAZ und Tagesspiegel bejubeln die Wiederentdeckung von Ambroise Thomas' Hamlet-Oper. Die SZ möchte zum Thema rassistische Sprache noch etwas klarstellen. Und die Jazzkritiker trauern um den Pianisten Ahmad Jamal.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2023 finden Sie hier

Architektur

Do it yourself mit Bambus, Lehm und Kalk. Foto: Yasmeen Lari

Als eine Architektin der Zukunft lernt taz-Kritikerin Diana Artus die Pakistanerin Yasmeen Lari im Architekturzentrum Wien kennen, die einst dem Brutalismus huldigte und heute auf einem eigenen YouTube-Kanal Tutorials für eine "Soziale Barfußarchitektur" aus Bambus, Lehm oder Kalk: "'Le Corbusier war unser Gott', erzählt sie über ihre Studienzeit in Europa. 'In England wurden wir darauf trainiert, ein aufgeblasenes Ego zu haben und möglichst spektakuläre Bauten zu entwerfen.' Das tat Yasmeen Lari mehrere Jahrzehnte lang. In Split-Leveln, mit abgestuften Terrassen baute auch sie in ihrer Heimat gemäß dem damaligen State of the Art. Ihr eigenes Haus, 1973 in Karatschi aus Beton und Ziegeln errichtet, gilt als wichtiges Beispiel des Brutalismus in Pakistan. Die unkonventionelle Stadtvilla mit dramatischer Geometrie in Form eines Polygons, aus dem bis zu 6 Meter lange Balkone ragen, schaffte es gar unter die 750 Architekturikonen des 'Phaidon Atlas of 20th Century World Architecture'. Doch diese Architektur der großen Gesten trägt gegenwärtig massiv zur Klimakrise bei, Yasmeen Lari zufolge ist sie nicht mehr zeitgemäß."

In der Welt empfiehlt Jakob Hayner dringend das Buch "Zeugin und Täter", in dem eine Tacheles-Mitbegründerin unter dem Pseudonym Su Tiqqun beschreibt, wie aus dem Zentrum des Ost-Undergrounds eine abstoßend protziges Investoren-Blase werden konnte. Und ein Symbol für das Scheitern einer Stadt: "Erst kommen die Künstler, dann die Touristen und am Ende die Investoren. Alle leben sie vom Image des Wilden und Unkontrollierbaren, alle beerdigen sie es auf ihre Weise. Es bleiben verödete Stadtlandschaften: Orte für Hochglanzprospekte, die mit Lifestyle-Phrasen hausieren gehen. Noch etwas ist beispielhaft: Für die drei Millionen Mark, die es damals für die Stadt Berlin gab, bekommt man heute ungefähr ein mittleres Apartment auf dem Areal."
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Literatur

"Eine Korrigier- und Entschuldigungsmanie ist ausgebrochen, es ist alles dabei, von woke bis superdoof", zürnt Willi Winkler in der SZ angesichts jüngster Debatten um rassistische Sprache in historischen Romanen, die Verlage mal nachträglich begradigen oder für die sie sich in vorangestellten Warnungen entschuldigen, bis hin zu eifernden Frömmlern, die in den USA gerade Schulbibliotheken bereinigen. "Die Literatur muss dafür dran glauben, sie wird strammgezogen. Figurenrede, Rollenprosa, Sprechweisen, das ganze Grundkurs-Germanistik-Zeug ist vergessen." Große Aufregung auch um "das N-Wort. Es ist mühsam, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es nicht nur die weiße Mehrheitsbevölkerung war, die von 'negro' sprach, sondern dass sich auch die Schwarzen vor der Black-Power-Bewegung so bezeichnet haben. Deshalb wurde das Wort bis Anfang der 1970er korrekt mit 'Neger' übersetzt. Der schwarze Schriftsteller James Baldwin hat sich als 'negro' verstanden, wie man in einem Aufsatz von 1961 nachlesen kann, selbstverständlich hat auch Martin Luther King von 'negro' gesprochen. All dies zu verschweigen, hilft aber beim Skandalisieren ungemein."

Sabina Paries versenkt sich für die FAZ in die Welt von Bookstagram: Hier wird das Lesen auch visuell zelebriert und mitunter "zum öffentlich opulenten Happening" und das "ganz zur Freude der Verlage in Umkehrung des Postulats, ein Buch nie nach seinem Cover zu beurteilen". In der Branche umhegt man die teils enorme Reichenweiten erzielenden Accounts daher sehr sorgsam. "Ein erster Impuls mag es tatsächlich sein, die Einträge mit den hübsch ummantelten, fein fotografierten Buchdeckeln nicht für voll zu nehmen. ... Bookporn eben. Und doch ist es falsch, diese Szene als oberflächlich abzutun, die Trivialisierung von Literatur zu fürchten. Im besten Fall bietet sich hier eher ein Versuch von Hochkultur für die Massen. Die Guten unter den Gutwilligen schaffen es, die Sinnlichkeit eines Buchladens ins Internet zu überführen. Sie bewerben das Buch, also das sperrige Ding, nicht eine digitalisierte Bildschirmversion. Sie tragen Lesestoff, ob simple Romanze oder Literatur, vom heimischen Bücherschemel in die Welt hinaus, begeben sich mit ihnen wortwörtlich auf Wanderung."

Besprochen werden unter anderem Alexander Kluges "Kriegsfibel 2023" (NZZ), Lukas Bärfuss' "Die Krume Brot" (NZZ), Christoph Heins "Unterm Staub der Zeit" (FR), Megan Abbotts Krimi "Aus der Balance" (Freitag), die erste deutsche Ausgabe von Kenneth Fearings New-York-Thriller "Die Große Uhr" aus dem Jahr 1946 (Freitag), Georg Kleins Erzählungsband "Im Bienenlicht" (BLZ), Nico Bleutges Gedichtband "schlafbaum-variationen" (SZ) und Iwan Schmeljows "Der Toten Sonne" (FAZ).
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Bühne

Powertöne: Huw Montague Rendall in "Hamlet". Foto: Monika Rittershaus / Komische Oper

Regisseurin Nadja Loschky und Dirigentin Marie Jaquot haben für die Komische Oper Berlin Ambroise Thomas' selten gespielte Oper "Hamlet" entdeckt, in der FAZ geht Clemens Haustein in die Knie: "Nur zu Beginn, wenn das Orchester unheilschwanger bis zum Brüllen aufbraust, und am Ende in der Dramatik des Schlusses fährt Thomas die ganze Klanggewalt des Orchesters auf. Dazwischen, in all den Episoden innerer Ausweglosigkeit, nähert sich der Komponist einer nahezu skizzenhaften Schreibweise an. Die gesungene Linie dominiert, die Begleitung dazu setzt sich aus zart hingetupften Instrumentalfarben zusammen: Flöten, Klarinetten, Harfen und hin und wieder ein Solo in der Oboe oder im Horn. Marie Jaquot am Pult des Orchesters der Komischen Oper versetzt Thomas' Klangtupfer in ein ganz natürliches Schwingen."

Im Tagesspiegel jubelt auch Frederik Hanssen über das grandiose Sängerpaar von Liv Redpath als Ophélie und Huw Montague Rendall als Hamlet: "Liv Redpaths Koloraturen sind glockenhell, mühelos, verführerisch, wirken jedoch nie als akustischer Zierrat, sondern sind ehrlicher Ausdruck von innerer Zerrissenheit. Huw Montague Rendall hat tolle Powertöne für das trotzig geschmetterte Trinklied, attackiert kraftvoll König Claudius und seine mörderische Mutter, gebietet aber auch über tausend faszinierende Facetten für die verschatteten Seelen-Seiten Hamlets."

Besprochen werden Leonie Böhms Anti-Sophokles-Inszenierung der "Antigone" im Gorki-Theater ("Knapp zwei Stunden Nabelschau, Nacktbaden, Wortgeklimper" gibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel zu Protokoll, auch in der taz fragt Verena Harzer: "Warum, um Gottes willen, sollte alles gut sein, wenn sich nur mal alle genüsslich im Schlamm respektive ihrer eigenen Scheiße wälzen?"), Erich Korngolds Oper "Die tote Stadt" in der Oper am Rhein in Düsseldorf (FR), Alexander Nerlichs Inszenierung von Anna Gschnitzers Stück "Wasser" am Stadttheater Ingolstadt (SZ) und Wagners "Fliegenden Holländer" an der Volksoper in Wien (Standard).
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Film

Wahre Schönheit kommt von innen: Brandon Cronenbergs "Infinity Pool"

Es liegt ja in der Familie: Auch Brandon Cronenberg, Sohn von Körperdichter David Cronenberg, zeigt in seinen Filmen fiesen Bodyhorror, der tief vordringt ins Gewebe von Körper und Geist. Jetzt kommt sein dritter Film "Infinity Pool" ins Kino und handelt von einem Luxus-Resort in einem Entwicklungsland, wo die Dekadenz der Gäste irgendwann seltsame Blüten treibt, als sie darauf stoßen, dass man hier seinen eigenen Körper klonen und damit allerlei Unsinn anstellen kann. "Cronenberg tippt etliche Gedanken mit philosophischem Potential an, um dann zügig den nächsten 'What the fuck?'-Moment draufzusetzen", schreibt Simon Rayß im Tagesspiegel. "Zu den bizarren Höhepunkten gehören unter anderem ein Wrestling-Kampf mit einem nackten Alter Ego sowie eine Orgie im Drogenrausch mit albtraumhaft mutierenden Geschlechtsteilen." Mit dem Kameramann Karim Hussain findet Cronenberg "faszinierend-obszöne Bilder: ein Kaleidoskop aus Farben, Formen, Überblendungen und Strobo-Geflacker, um der zunehmenden Enthemmung eine visuelle Form zu geben. Man muss sich auf diesen Bilderrausch schon einlassen wollen, die philosophischen Fragen allein tragen die Handlung nicht."

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Claudia Lenssen dem Berliner Publikum die auf mehrere Kinos verteilte Retrospektive Claudia von Alemann der Deutschen Kinemathek: Wiederzuentdecken sind Filme, "die für ihr lebenslanges Interesse an den ungelösten Fragen weiblicher Emanzipation stehen und Claudia von Alemann zu einer der bedeutendsten Regisseurinnen des feministischen Films machen". Michael Ranze verneigt sich im Filmdienst vor Lindsay Anderson, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre.
 
Besprochen werden Sam Mendes' "Empire of Light" über die Thatcher-Ära (Zeit), die Netflix-Serie "Beef" (NZZ) und die zweite Staffel der Serie "Para - Wir sind King" über coole junge Frauen aus dem Berliner Wedding (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Besprochen werden die sehr sehenswerte Ausstellung "Alle Wege sind offen" zu Fotografinnen auf Reisen, die leider die letzte im Bielefelder Kunstforum Hermann Stenner sein wird (wie Bettina Brosowsky in der taz bedauert) und die Schau "1920er! Kaleidoskop der Moderne" in der Bonner Bundeskunsthalle (die sich Tsp-Kritiker Bernhard Schulz zufolge jenseits aller Politik ganz auf "das Neue" in der Weimarer Republik konzentriert).
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Musik

Die Jazzkritiker traueren um den Pianisten Ahmad Jamal, der im gesegneten Alter von 92 Jahren gestorben ist - wiewohl sich deren Zunft oft schwer taten mit ihm: "Wer perkussiven Minimalismus mit Eleganz paart, macht sich leicht angreifbar: Viele Jazzkollegen witterten in den Sechzigern in Jamal zuallererst einen Barpianisten", erinnert Peter Kemper in der FAZ. Dennoch: Von Miles Davis über Herbie Hancock und Keith Jarrett bis zum Hip-Hop reicht die lange Liste alljener, die sich von ihm beeinflusst zeigten, schreibt Andrian Kreye in der SZ: "Zu einer Zeit, in der die Pianisten die Energie der Großstädte mit ihrer Aufbruchsstimmung ins Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre in Kaskaden aus Rhythmuswechseln und Schnellfeuersoli verwandelten, ließ Jamal auf seinem Instrument einfach mal Raum für das Nichts, das so viel lauter sein kann als jeder Akkord und jede Note. Mit dieser Zurückhaltung erzeugte er einen Schub, der seine Musik aus den späten Vierzigerjahren bis in die Gegenwart katapultierte." So war er auch einer der "Ersten, die Jazz nicht so, sondern 'amerikanische Klassik' nannten."

Auch Claus Lochbihler von der NZZ lobt Jamals zurückhaltende Ästhetik. Seine Musik "klang luftiger, kammermusikalischer, weniger notenreich und dichter" als etwa der wilde Bebop. "Die musikalische Substanz entfaltete sich dramaturgisch in weiten, rhythmisch spannungsreichen Bögen." Erst später "wurde sie mit der Zeit eruptiver, sie kam seit den sechziger Jahren weniger sanft daher als früher. Es sind vor allem Aufnahmen aus dieser Zeit (zum Beispiel 'The Awakening', 1970), die später von Beat-Bastlern des Hip-Hops wie J Dilla oder DJ Premier aufgegriffen und verarbeitet wurden." Er hatte "nichts gegen Sampling. Es zeige, wie gut die 'master musicians' einst gewesen seien: so gut, ließ er sinngemäss verlauten, dass man aus kleinsten Schnipseln ihrer Aufnahmen neue Hits basteln könne."



Außerdem: Lady Gaga wird künftig dem erstmals seit 2017 wieder formierten Kulturrat des Weißen Hauses vorsitzen, berichtet Aurelie von Blazekovic in der SZ. Besprochen werden das Debüt der Band Boygenius, die in ihren Texten laut Standard-Kritiker Karl Fluch auch mal Leonard Cohen für dessen "horny poetry" anrüffeln, selber aber auch nur "Stangenware" liefern, das neue Album von Feist (Tsp), neue Popveröffentlichungen, darunter Petite Noirs "MotherFather" (Standard) und das Album "Carry Them With Us" von Brìghde Chaimbeul, deren Dudelsackspiel tazler Christian Werthschulte in rauschartige Zustände versetzt: "Ihrer Musik zuzuhören, ist ein Trip, eine Erfahrung: ein Blasinstrument als psychotrope Substanz." Wir hören rein:



Und eine kleine Sensation: Die seit 1969 bestehende, französische ProgJazz-Formation Magma hat vor wenigen Tagen ihr allererstes Musikvideo veröffentlicht.

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