Efeu - Die Kulturrundschau

Ich als Ganzes war nichts mehr

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30.05.2023. Die Fimfestspiele in Cannes haben nicht die  versprochenen Entdeckungen gebracht, aber immerhin das Kino wiederhergestellt, bilanziert der Tagesspiegel. Die Goldene Palme für Justine Triets Gerichtsdrama "Anatomie eines Falls" reißt die Kritiker nicht vom Hocker: Die Welt sieht darin ein Zeichen gegen den politisierten Zeitgeist, ZeitOnline hätte aber lieber Sandra Hüller ausgezeichnet gesehen. Außerdem: Bei den Wiener Festwochen lassen sich die Nachtkritik und Standard widerstandlos in die Rätselwelten der Susanne Kennedy entführen. Die SZ nimmt erleichtert auf, dass sich das Berliner Theatertreffen von seiner verrätselten Konzeptkunst-Hermetik verabschiedet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2023 finden Sie hier

Film

Trägt gleich beide Siegerfilme in Cannes: Sandra Hüller, hier in "Anatomy of a Fall"

Mit einer Goldenen Palme für Justine Triets Gerichtsdrama "Anatomie eines Falls" (unser Resümee) und dem Großen Jurypreis für Jonathan Glazers Holocaustdrama "The Zone of Interest" (unser Resümee) ist das Filmfestival in Cannes zu Ende gegangen. In beiden spielte Sandra Hüller, die damit - trotz Favoritenstatus - keine Palme gewinnen konnte: Pro Film nur eine Palme, lautet eine Regel an der Croisette. Triet ist überhaupt erst die dritte Frau in der Geschichte des Festivals, die mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet wird: Vielleicht ja "ein Zeichen, dass in Cannes tatsächlich eine neue Ära angebrochen ist und sich der Wandel, gegen alle Widerstände, möchte man fast sagen, verstetigt", mutmaßt Andreas Busche im Tagesspiegel, nachdem auch vor zwei Jahren der Preis an eine Frau ging. In anderer Hinsicht bleibt Busche skeptisch: "Ein 'Festival der Entdeckungen' hatte Frémaux angekündigt, dieses Versprechen konnte Cannes 2023 nicht erfüllen. Es war ein großartiger, stellenweise aber noch zu restaurativer Jahrgang - was sich perspektivisch, im Anbetracht eines schwindenden Arthouse-Publikums, als gewagte Strategie erweisen könnte." Dem kann Maria Wiesner in der FAZ nur beipflichten: Diese "Ausgabe des Filmfestivals fühlt sich wie ein kleiner Abschied von alten Legenden an", es "braucht Nachwuchs".

Die Entscheidung für Triets Film hält Hanns-Georg Rodek in der Welt zumindest "auf den ersten Blick" für eine "erstaunliche Wahl, denn 'Anatomie' hat nichts von dem Zeitgeist, der seit Jahren aus den Siegern großer Festivals spricht: Im Cannes der Vorjahre gewannen etwa 'Triangle of Sadness' (Reich versus Arm), 'Titane' (Gender), 'Parasite' (Klassenkampf), 'Shoplifters' (neue Familienformen), 'The Square' (soziale Medien), 'Ich, Daniel Blake' (das unmenschliche Sozialsystem)." Rüdiger Suchsland von Artechock will sich über die Auszeichnung von Triets Film nicht ärgern, er fand ihn einfach nur belanglos: "Vorläufig bleibt hier einfach mal Achselzucken". Anke Leweke ärgert sich auf ZeitOnline nicht nur darüber, dass Jonathan Glazers Film lediglich der Zweitplatzierte ist, sondern auch, dass Sandra Hüller nun auch, wie damals bei "Toni Erdmann", an der Croisette nicht ausgezeichnet wurde: Sie "Hüller spielt Frauen, an denen wir uns abarbeiten - und die wir deshalb nicht mehr loswerden". Und trotzdem, dies war Hüllers Festival, schreibt Tobias Kniebe in der SZ: Die internationale Presse feierte die deutsche Schauspielerin. Und sie "trägt beide Filme - glorreicher kann man als Schauspielerin kaum gewürdigt werden. Entsprechend königlich war ihr Strahlen auf der Bühne: Kein Hauch von Bedauern darüber, dass sie nicht zusätzlich auch noch zur 'Besten Darstellerin' ausgerufen wurde."

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte erlebte einen "außergewöhnlichen Festivaljahrgang, der alle Spielarten des Kinos mit einer Leidenschaft umarmte, die Direktor Thierry Frémaux geradezu archetypisch verkörpert". Es war ein hoffnungsvoller Jahrgang für die Filmkunst, findet Tim Caspar Boehme in der taz: "Eine Krise des Erzählens, von der in Zusammenhang mit der Berlinale im Frühjahr viel die Rede war, ließ sich in Cannes allenfalls als Randerscheinung wahrnehmen."

Besprochen werden Laura Poitras' Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" über die Künstlerin Nan Goldin (Jungle World, unsere Kritik hier), die Westernserie "1923" mit Helen Mirren und Harrison Ford (FAZ), die Robert-de-Niro-Komödie "Und dann kam Dad" (Standard), der neue Pixar-Film "Elemental" (Welt) und die Netflix-Serie "Fubar" mit Arnold Schwarzenegger (Welt).
Archiv: Film

Bühne

Susanne Kennedys "Angela" bei den Wiener Festwochen. Foto: Julian Roeder

Bei den Wiener Festwochen wurde Susanne Kennedys neue, wieder hyperartifizielle und verstörende Produktion "Angela (a strange loop") gezeigt. Nachtkritiker Martin Thomas Pesl nimmt immerhin einen schauerlichen Albtraum mit nach Hause und erkennt in Kennedy den David Lynch des Theaters: "Sie will, dass wir ihr weiter und weiter in absonderliche Abgründe folgen, weil wir meinen, noch nicht ganz verstanden zu haben. Bis wir merken, dass es nichts mehr zu verstehen gibt, ist es zu spät." Worum es geht, kann SZ-Kritiker Egbert Tholl auch nicht unbedingt sagen, aber er fand das nur am Anfang nervig: "Doch dann wird's toll. Angela (Ixchel Mendoza Hernández) hat eine mysteriöse Krankheit, vielleicht Long Covid, vielleicht eine Art Internet-Autoimmunitätsstörung, auf jeden Fall ist ihr, influenced, die Realität abhanden gekommen. Die Wohnung hermetisch, die Einrichtung einschließlich Einbauküche digital, die Besucher - Freund, Freundin, Mama - somnambule Worthülsenträger. Ein digitales Plüschtier weiß im Bildschirm mehr als alle anderen, eine seltsame Besucherin (Diamanda La Berge Dramm) kommt, bleibt und macht auf ihrer Elektrogeige Musik, sie singt auch sehr schön." Verstörend schön findet Ronald Pohl im Standard die ontologische Rätsel, die ihm Kennedy mitgibt. 

Außerdem bilanzieren die Kritiker das Berliner Theatertreffen, das mit Mateja Koležniks Bochumer Gorki-Inszenierung "Kinder der Sonne" zu Ende gegangen ist. Die Inszenierung hat Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung umgehauen: "Wir hocken im Theater und hoffen auf gesellschaftliche Relevanz, doch hier schlägt uns eine Inszenierung genau diese selbstgefällige, rein akademische Hoffnung demonstrativ um die Ohren. Ein kalter Hieb." Auch für SZ-Kritiker Peter Laudenbach war das Stück ein Highlight, das ihn über Tiefpunkte wie Stefanie Dvoraks Wiener Nazi-Katholizismus-Folklore "Die Eingeborenen von Maria Blut" und die Performance "Bus nach Dachau" hinwegtrösten musste. Sein Fazit: "Von solch unerfreulichen Ausnahmen abgesehen scheint die verrätselte Konzeptkunst-Hermetik, die das Festival im vergangenen Jahr über weite Strecken zu einer Trendstreber- und Insider-Angelegenheit gemacht hatte, für's Erste abgehakt. Nimmt man diese Theatertreffen-Ausgabe als Gradmesser, zielen die Bühnen mit großen Geschichten und kraftvollem Schauspieler-Theater energisch auf ein breiteres Publikum - wohl auch, um nach dem Pandemie-Einbruch ihre Zuschauer von Netflix zu entwöhnen und für das Theater zurückzugewinnen." Im Tagesspiegel teilt Rüdiger Schaper ordentlich aus und bezeichnet das Gesamtbild als "alarmierend trostlos": "Das Theatertreffen lahmt bedenklich. Dieser Eindruck wurde durch das Extraprogramm "10 Treffen" nur verstärkt. Hier ging es in seltsamen Performances um die ganz großen Probleme der Welt. Fatal: So spricht das immer noch beliebte Festival seiner eigenen Auswahl das Misstrauen aus."

Besprochen werden Cecilia Bartolis Salzburger Pfingstfestspiele, bei denen die Operndiva als Orpheus in Glucks Oper "Orfeo ed Euridice" und als Eurydike in Haydns "L'anima del filosofo" betört, wie Jan Brachmann in der FAZ jubelt, Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" an der Wiener Staatsoper (Standard), Franz Schuberts "Schöne Müllerin" an der Berliner Staatsoper in einer "experimentellen Zurichtung" der Musicbanda Franui aus Osttirol (taz), Milo Raus "Antigone im Amazonas" bei den Wiener Festwochen (taz), Thomas Manns "Zauberberg" im Wuppertaler Theater am Engelgarten (FAZ), André-Ernest-Modeste Grétrys Oper "Zemira e Azor" in Schwetzingen (FR), und Axel Ranischs Inszenierung von Händels "Saul" an der Komischen Oper (BlZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Für den Standard spricht Mia Eidlhuber mit der Schriftstellerin Renate Welsh, die in ihrem neuen Buch "Ich ohne Worte" ihren Schlaganfall vor zwei Jahren verarbeitet: "Meine Neurologin sagte, gerade eine wie ich, die von der Sprache kommt, sei doch geradezu beauftragt, diese Sprachlosigkeit zu schildern. Dazu kommt: Ich hatte mein Leben lang versucht, Sprachlosen eine Sprache zu geben, musste mir aber jetzt eingestehen, dass ich mir etwas vorgemacht hatte. Zwischen Verstehenwollen, sich selbst als Stellvertreterin zu sehen, und dem Eingesperrtsein in einen Käfig absoluter Sprachlosigkeit ist ein himmelweiter Unterschied. Es hat mein Verständnis von mir selbst ins Wanken gebracht. ... Zuerst war ich wirklich niemand. Es ist nichts geblieben. Da war nicht nur dieses Bein, das nicht mir gehörte, das ich fortschmeißen wollte. Ich als Ganzes war nichts mehr."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die Schriftstellerin Theresia Enzensberger erzählt (online nachgereicht) in der NZZ, wie die Bankenkrise 2008 ihr politisches Denken geprägt hat. Alex Rühle erinnert sich in der SZ an ein Treffen mit dem Schriftsteller Georgi Gospodinov, der eben für seinen Roman "Zeitzuflucht" den Internationalen Booker-Prize erhalten hat. Die Schriftstellerin Franziska Hauser denkt in der FAS über das brandenburgische Beeskow nach, wo sie derzeit als Burgschreiberin tätig ist. Der Tagesspiegel dokumentiert einen Teil der Rede, mit der die Schriftstellerin Ulrike Draesner das Berliner Literaturforum eröffnet hat. Andrea Pollmeier (FR) und Florian Balke (FAZ) resümieren die Lyriktage Frankfurt. Ute Buesing porträtiert im Tagesspiegel den Drehbuchautor Carter Bays, der mit "Freunde von Freunden" nun sein Romandebüt veröffentlicht hat. Ulrich Seidler gratuliert in der Berliner Zeitung dem Schriftsteller Hermann Beyer zum 80. Geburtstag. In der Welt erinnert Wieland Freund an den Schriftsteller und früheren Kampfpiloten James Salter, der seine Kampferfahrungen in seinem Roman "Jäger" verarbeitet hat.

Besprochen werden unter anderem Diane Seuss' Lyrikband "Frank" (SZ), Manuele Fiors Comic "Hypericum" (Tsp), David Schalkos "Was der Tag bringt" (taz), Carl Nixons "Kerbholz" (FR) sowie Sasha Filipenkos "Kremulator" und Viktor Martinowitschs "Nacht" (NZZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Detlev Schöttker über Gottfried Benns "An Ernst Jünger":

"Wir sind von außen oft verbunden,
wir sind von innen meist getrennt ..."
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Kunst

Im Tagesspiegel schreibt Bernhard Schulz zum Tod Ilya Kabakovs, der zusammen mit seiner Frau Emilia zu den bedeutendsten Künstlern der Sowjetunion zählte, in der Berliner Zeitung würdigt ihn Harry Nutt als Pionier der Konzeptkunst.
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Musik

Ulrich Gutmair trauert in der taz um den Musiker, Popkritiker und Drehbuchautor Xão Seffcheque, den "Renaissancemensch der Neuen Welle. ... Er machte Musik, allein und mit anderen, er schrieb journalistische Texte für die Reihe Rock-Session und für Sounds, wo er 1980 über das erste Neue-Welle-Festival in Polen berichtete." Und "hatte er die Gitarre umgehängt, wurde aus Xão ein Rocker, der auf der Bühne abging und auch vor Schweinegitarrensolos nicht zurückschreckte. Hauptsache, es knallte. Verfremdung, Parodie, Aneignung, Ironie waren die Mittel dieses Popkünstlers, trotzdem hatte alles, was er machte, Herz. Mit Genialem-Dilletantentum hatte das nichts zu tun. Die Produkte von Xão Seffcheque sahen sehr gut aus, sie klangen sehr gut, waren mit Liebe zum Detail hergestellt." Mit Peter Hein spielte Seffcheque in der Soul-Punk-Band Family*5:



Weitere Artikel: In der FR erinnert Arno Widmann daran, wie Johann Sebastian Bach am 30. Mai 1723 seine Arbeit als Thomaskantor in Leipzig antrat. Christoph Schlüren erinnert in der NMZ an den US-Symphoniker Peter Mennin, der vor 100 Jahren geboren wurde. Lotte Thaler gratuliert in der FAZ dem Kirchenmusiker Helmuth Rilling zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Arlo Parks' "My Soft Machine" (ZeitOnline), Peter Gabriels Konzert in Berlin (Tsp, SZ, FAZ), Roger Waters' Auftritt in Frankfurt (FR), Taste Tribes' Album "Nischen" (Jungle World), ein Konzert der Wiener Philharmoniker mit der Geigerin Lisa Batiashvili (Standard), ein Konzert der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker (Tsp), ein Auftritt der Hair-Metal-Legenden Mötely Crue in Mönchengladbach (Welt), das Pfingstkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Lahav Shani (Tsp), das Comeback von Peter Fox (FAZ) und neue Musikveröffentlichungen, darunter der Auftakt einer Haydn-CD-Reihe der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi (FAZ).
Archiv: Musik