Efeu - Die Kulturrundschau

Es braucht des Erbarmens

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18.04.2024. Erste ernüchterte Eindrücke von der Biennale in Venedig, die vor allem Kunst aus dem Globalen Süden zeigt: Was ist das denn nun, fragt die Welt und die Zeit stellt fest: Auch queere oder indigene Künstler können sehr altbacken sein. Immerhin der deutsche Pavillon ist überwältigend, meint die SZ, die von Ersan Mondtag lernt: Türkische Gastarbeiter und DDR-Bürger teilen ein Schicksal. Die Filmkritiker erfahren mit Alex Garland und Kirsten Dunst, wie man das Leid in einem amerikanischen Bürgerkrieg betrachtet. Und in der Zeit ekelt sich Feridun Zaimoglu vor zeitgenössischem Theater.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Am Samstag eröffnet die Kunstbiennale in Venedig, die sich, kuratiert von Adriano Pedrosa, unter dem Titel "Foreigners Everywhere" auf queere und indigene Volkskünstler aus dem Globalen Süden konzentriert. Die KunstkritikerInnen waren schon da und sind ernüchtert. "Selten sah man eine Biennale, die so wohlsortiert und museal aufbereitet war. Selten wurde so eifrig gemalt und gezeichnet, gewebt, gestrickt, gehäkelt", seufzt in der Zeit Hanno Rauterberg, der auf dieser "Biennale des guten Gewissens" lauter hochbetagte, teils tote Künstler aus dem Globalen Süden sieht und feststellt: Hier zählt offenbar vor allem Herkunft. "Fast könnte man meinen, Pedrosa habe seine Ausstellung vor der Erfindung des Internets konzipiert. (...) Das zirkuläre Denken, wie Pedrosa es favorisiert, scheint eine gewisse Gediegenheit zu begünstigen, und nicht immer ist sie frei von Kitsch und Klischee. (...) Noch die schlimmste Ethnofolklore gilt als gerechtfertigt und gut, solange sie von indigener Hand gefertigt wurde. Und egal wie altbacken ein Stillleben mit Blumenstrauß auch sein mag, solange es von einem schwulen Maler stammt, hat es seine Berechtigung und wird auf der Biennale präsentiert."

Was ist sie denn nun, die Kunst des "Globalen Südens", fragt sich auch Marcus Woeller (Welt), der statt der Einordnung in Kategorien wie "fremd", "migrantisch" oder "queer" gern einen Austausch mit europäischen oder amerikanischen Werken gesehen hätte. Denn Überschneidungspunkte gibt es durchaus: "So gab es Varianten der geometrischen Abstraktion und Hard-Edge-Malerei auch etwa im Irak mit Mahmoud Sabri, Mohamed Melehi in Marokko oder Judith Lauand in Brasilien." Ohne Kontext bleiben sie aber "seltsam fremd", meint er: "Mit einem derart kuratorisch verengten Blickwinkel stellt man Werke in einen Kontext, der andere Zusammenhänge überlagert bis negiert. Gleichzeitig fehlt die Sensibilität für aktuelle weltpolitische Themen, die den 'Globalen Süden' und den 'Globalen Norden' eher stärker polarisieren."

Unpolitisch geht es auf der Biennale allerdings keineswegs zu: Vor dem israelischen Pavillon verteilten ein paar Dutzend Personen Flugblätter mit der Aufschrift "no death in Venice, no genocide pavillon"  und schrien später vor dem deutschen Pavillon "Shame on Germany", wie Niklas Maak in der FAZ berichtet. Der Krieg in der Ukraine wiederum ist im vom ukrainischen Kollektiv Open Group bespielten polnischen Pavillon zu hören, wo der Klang der Angriffe nachgeahmt wird, berichtet Tobias Timm in der Zeit. Und im österreichischen Pavillon lässt die in Russland geborene Konzeptkünstlerin Anna Jermolaewa die ukrainische Balletttänzerin Oksana Serheieva dreimal täglich zu Schwanensee tanzen, wie Stefan Weiss im Standard mitteilt: "Jermolaewa will daran erinnern, dass in der Sowjetunion im Staatsfernsehen immer dann Schwanensee in Endlosschleife gesendet wurde, wenn es gerade einen Regimewechsel oder politische Unruhe im Land gab. Aus der Propaganda-Beruhigungspille wurde so über die Jahrzehnte ein Signal der politischen Bewegtheit, das Jermolaewa nun freilich in Richtung Putin umdeuten will. Der Diktator muss weg, sagt die Künstlerin ganz offen."

Ersan Mondtag: "Monument eines unbekannten Menschen". Foto: Andrea Rossetti

Kein Pavillon ist so überwältigend wie der deutsche, jubelt Jörg Häntzschel derweil in der SZ. Bespielt wird er von Yael Bartana (Unsere Resümees) und dem Theaterregisseur Ersan Mondtag, der ein dreistöckiges Gebäude geschaffen hat, in dem er das Leben seines Großvaters, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, mit fünf SchauspielerInnen als "klaustrophobische begehbare Biografie" inszeniert: "Mondtag hat hier nicht nur den türkischen Gastarbeitern ein Denkmal gesetzt, sondern auch den Deutschen, die in der DDR geboren wurden, und deren Erfahrung, so sagt er am Eröffnungstag, denen der BRD-Einwanderer viel näher sei, als beide Seiten wahrhaben wollen. 'Auch sie haben ihre Heimat verloren, auch sie wurden schlecht behandelt.'" In der Welt ist Boris Pofalla nicht ganz so enthusiastisch, meint aber: "Den Vergleich mit der Konkurrenz muss der deutsche Beitrag dieses Jahr nicht scheuen."

Besprochen werden die Caspar David Friedrich-Ausstellung "Unendliche Landschaften" in der Alten Nationalgalerie, die das Werk des Malers "über seine Rezeption durch die Nachwelt erschließt" und auch die Kriegsverluste der Berliner Sammlung mit Fotografien und Kopien dokumentiert, wie Andreas Kilb in der FAZ schreibt, die Ausstellung "Mind the Memory Gap" im Kindl - Zentrum für Zeitgenössische Kunst in Berlin, in der der Künstler Franz Wanner den Zusammenhang von Plexiglas und Zwangsarbeit untersucht (taz) und die Ausstellung "Michael Wesely. Berlin 1860-2023" im Museum für Fotografie (Blz).
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Literatur

Die Schriftstellerin Andrea Grill fiel aus allen Wolken, als sie hörte, dass ihr Aufenthaltsstipendium in New York es ihr auch ermöglicht, ihr Kind mit in die Staaten zu nehmen, erzählt sie auf Zeit Online. Ursprünglich sind solche Stipendien "eine Tradition aus einer Zeit, als das Reisen mehr Privileg war als Verpflichtung, und hat auch damit zu tun, dass Künstler*innen oft im romantischen Sinn wahrgenommen werden - als unstete Naturen, die schwer an einem Ort bleiben, umherstreifen wie einst Lord Byron oder John Keats." Doch "anders als Keats oder Byron sind die meisten Schriftsteller*innen nämlich keine alleinstehenden Jünglinge Mitte zwanzig, sondern Menschen wie du und ich, mit Familie, pflegebedürftigen Eltern und, ja, oft auch Kindern. Trotzdem gibt es fast keine Stipendien, die explizit darauf ausgerichtet wären, Angehörige und vor allem Kinder mitzubringen. Mir ist in Deutschland nur eins bekannt, auf dem Künstlerhof Annemirl-Bauer-Haus in Brandenburg."

Weiteres: Dieter Borchmeyer erinnert in der NZZ an den vor 200 Jahren geborenen Lord Byron. Besprochen werden eine Ausstellung über Friederike Mayröcker im Literaturmuseum in Wien (Standard), Margrit Schribers "Die Stickerin" (NZZ), Pedro Almodóvars Erzählband "Der letzte Traum" (FR), Teju Coles "Tremor" (online nachgereicht von der NZZ), Thomas Röthlisbergers "Mitten im Wind" (online nachgereicht von der NZZ) sowie René Chars und Peter Handkes "'Gute Nachbarn'. Gedichte, Briefe, Texte und Bilder." (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Ubiquitäre Untergangsfantasien: Kirsten Dunst in Alex Garlands "Civil War"

Science-Fiction-Auteur Alex Garland malt sich in "Civil War" einen amerikanischen Bürgerkrieg in naher Zukunft aus, vermittelt durch die Perspektive der Kriegsfotografin Lee (Kirsten Dunst), die durch mehrere US-Staaten reist. Es ist entsprechend "kein Film über das Leid, das der Krieg bringt, sondern ein Film über das Betrachten des Leids", schreibt Perlentaucher Karsten Munt, den Garlands medienkritischer Gestus allerdings ziemlich frustriert: "Der Road-Trip, zu dem Lee und ihre Wegbegleiterinnen aufbrechen, weist mitunter durchaus das Potenzial auf, an sujet-verwandte Genreklassiker und ihre Schnörkellosigkeit anzuknüpfen. ... Garland aber möchte seinen Film sichtbar als thinking man's Genrestück verstanden wissen. 'Civil War' positioniert sich jedoch nicht zur politischen Realität 'am Boden', sondern wirft vom Treppenabsatz aus Fragen ein - rhetorische Fragen, versteht sich. Der Vibe des Films ist der eines passiv-aggressiven Tweets: provozierend genug, um Resonanz zu fordern; ungebunden genug, um direkt für den nächsten ausgetauscht zu werden."

"Die Geschichte macht sich die emotionale Kälte ihrer Figuren zu eigen, die nichts mehr zu schocken scheint", hält Philipp Rhensius in der taz fest. Aber "darf ein Film, der indirekt stets auf die Situation der gespaltenen US-Gesellschaft schielt, ohne Lehren auskommen?" Vielleicht schon, meint er: "So ließe sich Brechts Aphorismus für 2024 updaten. Stell dir vor, es läuft ein Kriegsfilm und niemand weiß, um was es geht, aber wie. Vielleicht hat derart immersive Action in einer Zeit, in der vor allem mit Gefühlen und nicht Argumenten Politik gemacht wird, mehr Abschreckungspotenzial." Chris Schinke blickt in der Jungle World eher mit Sorge auf den Film, dessen Regisseur sich der diffusen Untergangs- und Bürgerkriegslust der radikalisierten amerikanischen Rechten (sowie der Popkultur) vielleicht nicht andienen wolle, dieser aber trotzdem in die Hände spiele: "'Civil War' gerät durch den Flirt mit der totalen Revolte in den unheimlichen Bann der seltsam ubiquitären Untergangsfantasie." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte entdeckt in dieser "fast surrealen Alptraumreise" auch "ein Roadmovie, das an das New Hollywood der Sechziger und Siebziger erinnert". Valerie Dirk porträtiert im Standard Kirsten Dunst.


Weitere Artikel: "Evil Does Not Exist", den neuen Film des japanischen Oscarpreisträgers Ryûsuke Hamaguchi, will offenbar niemand besprechen, aber alle wollen mit seinem Macher sprechen: Interviews gibt es in FR, Tagesanzeiger, Freitag und SZ. Andreas Scheiner erzählt in der NZZ von seinem Treffen mit dem Filmemacher John Wilson. Carmen Paddock rankt für VAN die besten Opernhausszenen im Film. Besprochen werden eine DVD-Ausgabe von Hou Hsioa-hsiens "Millennium Mambo" (taz), die HBO-Serie "The Sympathizer" nach dem gleichnamigen Roman von Viet Thanh Nguyen (Welt, Presse, mehr dazu hier) sowie Rachel Ramsays und James Erskines beim Internationalen Frauen Film Fest Dortmund+Köln gezeigter Dokumentarfilm "Copa '71" über die Frauen-WM 1971 in Mexiko (SZ). Außerdem verrät das Filmteam der SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Hier alle Kritiken des Filmdiensts zur aktuellen Kinowoche.
Archiv: Film

Bühne

Nach einer "Romeo und Julia" und einer "Hamlet"-Inszenierung an nicht näher benannten deutschen Schauspielhäusern, ist Feridun Zaimoglu so wütend, dass er am liebsten in den Fundus einbrechen und die Kostüme zerschlitzen würde, wie er in einer schäumenden Suada in der Zeit bekennt: "…das alte Theater ist alt, das neue Theater ist tot, wie wird es weitergehen, mich ekelt vor dem Immergleichen, vor den immergleichen Geschichten der jungen Bourgeoisen ohne Eigenschaften, kein Geist, keine Seele, nur ein blödes Zeugs, kleines Glück, blöde Grimassen, keine Gefühlsregung wirklich echt gespielt, …", ruft er und fordert: "Es braucht der Strenge. Es braucht des Erbarmens. Wir wollen die Avantgardekunst der Heutigen verabschieden, weil sie zum Hinterteil der Kultur geworden ist: Die Kultur sitzt gern auf diesem warmen Arsch. Die Geläufigkeit der Spieler beim Spielen und der Zuschauer beim Schauen muss abnehmen. Wir müssen auf unseren Sitzen abnehmen. Es muss möglich sein, die deutschen Geschichten unserer Zeit zu spielen, die Geschichte von Frauen und Männern mit guten Gesichtern."

Sowohl das Berliner Arbeits- als auch das Landesarbeitsgericht hatten die Kündigungen der beiden geschassten Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin Ralf Stabel und Gregor Seyffert für unwirksam erklärt. Beiden war von Eltern der Schüler unter anderem Gefährdung des Kindeswohls und Diskriminierung vorgeworfen worden (Unsere Resümees). Nach dem Scheitern der Senatsverwaltung vor Gericht sind auch die von zwei Expertengremien angefertigten Gutachten von der Webseite der Senatsverwaltung verschwunden, bemerkt Dorion Weickmann in der SZ und fragt, "wer die Missstände zu verantworten hat, die Expertenkommission und Clearingstelle 2020 dokumentiert haben. Festgehalten wurden in den Berichten Fälle von Bodyshaming, Mobbing, Gesundheitsschädigung, Verletzung der Fürsorge- und Aufsichtspflicht. Was bedeutet es, dass die Berichte aus dem Verkehr gezogen wurden? Soll die Frage der Verantwortung stillschweigend begraben werden? (…) Dafür kursiert in Berlin das Gerücht, eine West-Verschwörung wolle die traditionsreiche Ost-Ausbildungsstätte niedermachen. Was vollkommen irrwitzig ist und einzig dazu dient, die Zerrissenheit der Schule zwischen methodischer Vorwärtsbewegung und Stillstand zu übertünchen."

Besprochen werden die Performance "Titanic II" des Kollektivs Markus & Markus in der Bremer Schwankhalle (taz).
Archiv: Bühne

Musik

Unbehaglich findet Thulasi Seshan den Totenkult und Heiligenverehrung in der Klassik: Wo bleibt da das Lebendige der Gegenwart? "Ich möchte nicht, dass ein talentierter Pianist den Klang seines Steinways einschränkt, weil dem, was wir für die Träume eines toten Mannes halten, andere Grenzen gesetzt waren. Ich möchte, dass dieser Musiker mir seine ganze Begabung, seine ganze Liebe zeigt. Wenn der Musiker sich selbst aus der Aufführung streicht, bin ich um ihn betrogen. ... Es ist die Illusion der Unfehlbarkeit, die wir aufgeben müssen. Selbst die großen Religionen haben nie gewollt, dass die Heiligen als solche behandelt werden. ... Der Musik dienen wir nicht, indem wir Komponisten heilig sprechen und sie als ideale Schöpfer hochhalten. Der Musik dienen wir, indem wir sie lebendig halten: indem wir die Musik in ihrem gemeinschaftlichen Entstehen im Hier und Jetzt lieben. Heilig ist nicht der Komponist, sondern das Leben, das wir seinem Werk geben."

Arno Lücker vergleicht für VAN diverse Interpretationen von Beethovens Neunter. Als "Geheimtipp" legt er die von Ferenc Fricsay dirigierte Einspielung aus den späten Fünfzigern ans Herz, insbesondere auch, da Fricsay nur wenig später von Karajan aus der Musikgeschichte "verdrängt" wurde: "Bei Ferenc Fricsay und den Berliner Philharmonikern erklingt die Horn-Quinte ganz zu Beginn ziemlich rabulistisch, irgendwie ganz schön. Aber die Gesamtsituation wirkt stimmungsmäßig ganz toll auf mich ein, 'mitnehmend', das Anschwellen kompakt und ergreifend, das erste große Tutti tragisch groß. Die Unterschiede zwischen Forte und Piano: exquisit und nicht übertrieben. Die blockhaften Ablösungen von Bläsern und Streichern nach einigen Momenten: radikal. So wird der Revolutionär Beethoven erfahrbar, spürbar, greifbar. Völlig gechillt leuchten Piano-Stimmen hier und dort komplett abgekapselt aus der Partitur-Landschaft heraus, als merkwürdige Kontrapunkte, die so und auch eben ganz anders tönen könnten. Beethoven, der Freiheitliche: von Fricsay grandios erfühlt und erfüllt."



Außerdem: Anna Van Dine spricht für VAN mit dem Komponisten Janvier Murenzi anlässlich des 30. Jahrestags des Genozids in Ruanda über dessen 2019 entstandene Komposition "Mata y' amaraso", das an die damaligen Taten erinnnern soll. Tazlerin Beate Scheder beobachtet den Siegeszug des Chicagoer Footwork-Sounds in die Hochkultur. Joachim Hentschel porträtiert in der SZ die Berliner Sängerin Paula Hartmann: "Eltern kennen sie nicht, aber für die Kinder ist sie ein Star, eine Influencerin, ein Idol." Karl Fluch stimmt im Standard auf den Record Store Day am kommenden Samstag ein.

Besprochen werden ein Berliner Auftritt des US-Jazzpianisten Jason Moran mit dem Bassisten Christian McBride (taz), das neue Album von Pearl Jam (Standard), ein Konzert von Bushido in Wien (Standard) und Anja Huwes Comeback-Album "Codes" (ihre "ohrenbetäubende Sirenenstimme ist todtraurig geworden - besungen wird im Sounddesign von Mona Mur das Unterkriechen im Wald", schreibt Ronald Pohl im Standard).

Archiv: Musik