Efeu - Die Kulturrundschau

Es ist ungeheuerlich

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17.04.2024. Auf der Biennale in Venedig bleibt der israelische Pavillon geschlossen. Ruth Patir, die dort ausstellen wollte, fordert die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand in Gaza. Boykott lehnt sie dennoch ab. Die Jungle World freut sich über ein satirisches Filmtableau, das die iranische Glaubensbürokratie aufs Korn nimmt. In Berlin wird DDR-Architektur abgerissen, die einst zur Hebung der Lebensfreude errichtet wurde, ärgert sich die SZ. Die FAZ freut sich: Am Hamburger Schauspielhaus wird endlich wieder in die Hände gespuckt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Ruth Patir, Keening, 2024, courtesy of the Artist and Braverman Gallery, Tel Aviv

Auf der diesjährigen Biennale in Venedig wird der israelische Pavillon aller Voraussicht nach nicht für das Publikum geöffnet werden. Ein Plakat am Fenster verkündet: "Die Künstlerin und die Kuratoren des Israelischen Pavillons werden die Ausstellung erst öffnen, wenn eine Vereinbarung über einen Waffenstillstand und eine Freilassung der Geiseln erreicht ist." Ist das ein Erfolg der "Art Not Genocide Alliance" die, vermittels eines vielfach unterzeichneten offenen Briefs, gefordert hatte (unser Resümee), Israel von der Schau auszuschließen? Nein, glaubt Marcus Woeller in der Welt: "Auf der Website der Künstlerin Ruth Patir, die hier ausstellen sollte, erfährt man, dass die Entscheidung nicht als Cancel Culture gegen sich selbst zu verstehen sei. Sie wolle sich aber solidarisch erklären mit den Geiseln und ihren Angehörigen."

Sebastian Frenzel analysiert in Monopol: "Ruth Patir und das kuratorische Team waren damit in einer aussichtslosen Lage: Im aufgeheizten Klima hätten sie vermutlich sogar einen Hamas-Propagandafilm zeigen können und wären niedergebrüllt worden. Auf den ersten Blick wirkt es nun, als hätte der Boykottaufruf indirekt Wirkung gezeigt. Doch mit der Schließung des Pavillons vermeidet das israelische Team gleichzeitig, den Aktivisten ein Podium zu bieten, denen ein bisschen medienwirksamer Radau gerade recht gekommen wäre. Zugleich sendet ihre Entscheidung eine Botschaft, die die aktuelle politische Situation zu den Möglichkeiten der Kunst in Beziehung setzt."

Und Ruth Patir selbst? Ulrike Knöfel trifft sie für Spiegel Online. Auch hier macht die Künstlerin deutlich, dass sie es ablehnt, als Israelin boykottiert zu werden. Dass Israel "von links und rechts gecancelt" wird, gefällt ihr keineswegs. Enttäuscht ist sie aber vor allem, dass nun ihre Arbeit mitsamt ihrem eigentlichen Anliegen unter den Tisch fällt: "Als Künstlerin", so Knöfel, "gelingt ihr etwas Außergewöhnliches, sie schafft Filme, die persönlich und dokumentarisch sind, aber surreal wirken. Von ihr selbst ausgehend, ihr Innerstes offenbarend, nähert sie sich großen gesellschaftlichen Themen, in diesem Fall der in Israel so selbstverständlichen, geradezu populären Reproduktionsmedizin. Venedig war ihre Chance, ein entsprechendes Projekt zu realisieren, an dem sie seit Jahren arbeitet. Und jetzt das: 'Ich wollte meine Arbeit zeigen, aber nicht um jeden Preis.'" Peter Richter fragt sich wiederum in der SZ: Wird jetzt statt gegen den israelischen gegen den deutschen Pavillon protestiert werden?

Eben diesen deutschen Pavillon nimmt Daniel Völzke für Monopol unter die Lupe. Unter anderem ist hier Yael Bartanas Videoarbeit "Light to the Nations" zu sehen, ein "Pre-enactment" (Bartana) einer kommenden kosmischen Migrationsbewegung: "Das nach einer Bibelstelle aus dem Buch Jesaja benannte Generationenschiff für Juden startet ins Ungewisse, weil die Erde durch eine ökologische Katastrophe zerstört ist, es basiert auf jüdischen mystischen Lehren und soll den Samen legen für neue Gesellschaftsformen jenseits territorialer, ethnischer, religiöser und staatlicher Festlegungen. Es soll die Menschheit zu 'Tikkun Olam' (wörtlich: 'die Reparatur der Welt') führen. Das Schiff sei so konzipiert, dass es eine große Gemeinschaft für Jahrtausende beherbergen und weit über unser Sonnensystem hinaus reisen kann." Laut Völzke liegt es nahe, die Arbeit auch auf die Gegenwart des Gazakriegs und des grassierenden Antisemitismus zu beziehen.

Besprochen werden die Ausstellung "Rodin. Eine moderne Renaissance" im BAM Mons (FAZ), die der Malerin Tamuna Sirbiladze gewidmete Schau "Not Cool but Compelling" im Wiener Belvedere (Standard), die Schau "Alfred Ehrhardt & Rolf Tietgens: Hamburger Hafen und Norddeutsche Küste" in der Alfred Ehrhardt Stiftung, Berlin (Tagesspiegel) und die Doppelausstellung "Naturstreit - Erzählungen im Antropozän" / "Zeit Falten" in der Berliner Galerie Tammen (taz).
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Literatur

Claudius Prößer gibt in der taz eine Wasserstandsmeldung zur Lage am Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg, das von der Schließung bedroht ist. Im Standard gratuliert Michael Wurmitzer dem Zsolnay Verlag (hier seine Bücher in unseren Rezensionsnotizen) zum 100-jährigen Bestehen.

Besprochen werden unter anderem Salman Rushdies "Knife" (NZZ, taz), Szczepan Twardochs "Kälte" (online nachgereicht von der Welt), Thomas Medicus' Klaus-Mann-Biografie (FR), Nora Krugs Comic "Im Krieg" (SZ) und Rocko Schamonis autobiografischer Roman "Pudels Kern" (Zeit). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film

Ein trauriges Gespenst: "Irdische Verse"

Alireza Khatamis und Ali Asgaris "satirischer Episodenfilm 'Irdische Verse' erzählt in neun Tableaus von den Auswirkungen der Sharia auf das Leben der Iranerinnen und Iraner im Gottesstaat", schreibt Heike Karen Runge in der Jungle World. Dabei geht es vor allem um "den ganz alltäglichen Irrsinn einer bizarren Glaubensbürokratie". Die Episode, in der eine Mutter für ihre Tochter in einem Bekleidungsladen ein Schleierset kaufen will und sich im Off des Bildes ein Dialog zwischen Mutter und Verkäuferin in den Details der bizarren Vorschriften verliert, zählt für Runge zu den Höhepunkten: "Unterdessen performt die Tochter im Stil von Tanzvideos eine Choreographie vor der Kamera und stellt der Mutter selbstbewusste Fragen - warum trägt sie das Gewand denn nicht, wenn sie es doch so schön findet? Wie sich das fröhliche Mädchen unter den Stoffmassen für einen Moment in ein trauriges Gespenst verwandelt, bevor es den Hijab abnimmt, die pinken Kopfhörer wieder aufzieht und unbeeindruckt weitertanzt, ist nicht nur umwerfend inszeniert, sondern fragt implizit auch danach, welche Kräfte sich in Zukunft in der Gesellschaft durchsetzen werden."

Barbara Schweizerhof unternimmt für die taz einen Streifzug durch die Geschichte der Midlife-Crisis im Kino, von Fellini über das US-Unterhaltungskino bis in die jüngere Arthouse-Gegenwart: Dabei zeigt sich ihr nicht nur, dass 90s-Mainstream wie "City Slickers" heute "weit altmodischer und angestaubter scheint als noch die katholische Existenzialisten-Künstlichkeit von Fellini" und dass es gute Gründe dafür gibt, dass einst als Instant Classics gehandelte Filme wie "American Beauty" zu Klassikern dann doch nicht wurden. Männer stehen allerdings überall im Mittelpunkt, mit Ausnahmen: "Einen der schönsten und bis heute kaum übertroffenen Filme über eine Frau in der Midlife-Krise stammt aus dem Jahr 1978 und von einem Mann: Paul Mazurskys 'Eine entheiratete Frau'. Jill Clayburgh spielt die Frau, die von ihrem Mann für eine Jüngere verlassen wird und sich selbst neu finden muss. Nicht nur der 70er-Jahre-Realismus macht den Film besonders, sondern auch die Tatsache, dass es am Ende doch nicht einfach ein neuer Mann (Alan Bates) ist, der ihr neues Glück beschert, sondern im Gegenteil, ihr Bestehen auf Selbstständigkeit. Jüngere Filme wie 'Unter der Sonne der Toskana' (2003) oder 'Eat Pray Love' (2010) folgen da immer noch dem alten Klischee."

Besprochen werden Carla Gutiérrez' Dokumentarfilm über Frida Kahlo (NZZ), Christopher Zallas Schuldrama "Radical" (Standard), neue deutsche Thriller von Marvin Kren und Lars Becker (Welt), die Apple-Serie "Franklin" mit Michael Douglas (SZ, in Online-Auslieferung vom TA), die Amazon-Serie "Fallout" (Presse) und das ZDF-Porträt "Mensch Merz - der Herausforderer" (Zeit Online).
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Bühne

ANTHROPOLIS I: Prolog/Dionysos © Monika Rittershaus, 2023

Das "bedeutendste Theaterereignis der Saison" will FAZ-Autor Simon Strauß am Hamburger Schauspielhaus erlebt haben. Zur Aufführung kam Karin Beiers Antiken-Penthalogie, ein Kraftakt des Erzähltheaters, gegen den, findet Strauß, die diskurs- und moralseelige Konkurrenz aus Zürich, München und Berlin alt ausschaut. Hier hingegen, wird wieder in die Hände gespuckt: "Die Aufführungen beginnen stets mit körperlicher Arbeit. Im Regen schaufeln die Bewohner Thebens Mulch auf einen Haufen. Verausgaben sich, um eine erste Ordnung zu schaffen. (...) Ein bisschen wirken diese schweißtreibenden Arbeitseinsätze zu Beginn jeder Aufführung aber auch wie autogene Trainingseinheiten, um die Gewichte der Gegenwart abzutragen. Sich durch die physische Anstrengung von allzu leichtfertigen Transformationsgedanken zu entledigen, es sich ein bisschen schwerer zu machen mit dem Verhältnis von Mythos und Moderne."

Warum hat es so lange gedauert, bis Leoš Janáceks Opern als die Meisterwerke anerkannt wurden, die sie sind? Judith von Sternburg kann sich das in der FR nicht erklären, schon gar nicht angesichts einer grandiosen, von Tatjana Gürbaca verantworteten Aufführung seiner "Jenufa" am Theater Duisburg. Ein Abend, an dem "die Emotionen so hochschwappen, dass Rosie Aldridge in einigen Momenten das Singen sein lässt und brüllt. Es ist ungeheuerlich. Aldridge kommt der übergroßen Partie der Küsterin mit ebensolcher Wucht bei wie die Titelheldin, Jacquelin Wagner, zwei Sängerinnen mit Kraftreserven und dem Mut, alles reinzuwerfen in eine solche Unternehmung. Die Küsterin muss und darf sich vielleicht immer noch etwas mehr die Seele aus dem Leib singen, und Aldridges Mezzo leistet das überbordend, ist Jenufas Stiefmutter doch das tragische Zentrum des Geschehens."

Besprochen werden das Solo-Stück "The Importance of Being Erna" am Staatstheater Darmstadt (FR), Raphael Bardutzkys "Das Licht der Welt" am Wiender Burgtheater (Standard), Pedro Calderón de la Barcas "Das Leben ein Traum" am Hamburger Thalia-Theater (taz Nord) und eine Doppelaufführung von Arnold Schönbergs "Erwartung" und Ethel Smyth' "Der Wald" an der Oper Wuppertal (van).
Archiv: Bühne

Architektur

Das SEZ im Jahr 1987. © Gerd Danigel, Lizenz: CC BY-SA 4.0 Deed

Bitte nicht noch ein zentrales Zeugnis der DDR-Baukunst abreißen! So stöhnt Peter Richter in der SZ. Diesmal soll es das Berliner Sport- und Erholungszentrum (SEZ) erwischen, mit dem viele Ostberliner nicht nur Bade-, sondern auch amouröse Erinnerungen verbinden - schließlich waren die Terrassen im Garten eine zentrale Dating location. Auch architektonisch macht das Gebäude einiges her: "Dieses SEZ war aber auch ein Gebilde, das vielleicht tatsächlich nur auf dieser merkwürdigen Kante zwischen West und Ost entstehen konnte. Stilistisch und technologisch müsste man es wohl unter die Hightech-Architekturen der Siebzigerjahre einordnen, es hat mehr mit dem Pariser Centre Pompidou und dem Charlottenburger ICC zu tun als mit den standardisierten Typenschwimmhallen in den Plattenbauvierteln der DDR. Aber denkbar war es trotzdem nur dort, wo trotz Kargheit und Mangels an allen Ecken und Enden an dieser Stelle kurzerhand verschwenderische Fülle zur Hebung der Lebensfreude befohlen worden war."

Außerdem: Mit NZZ-Autor Paul Jandl hat Joe Chialos Plan, die Galeries Lafayette zur öffentlichen Bibliothek umzurüsten (siehe auch hier), einen weiteren Fürsprecher gewonnen.
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Musik

Jan Feddersen erzählt in der taz die Geschichte von ABBA (und macht Vorfreude auf James Rogans offenbar ganz exzellente ABBA-Doku, die allerdings erst ab 2. Mai in der ARD-Mediathek zu sehen ist). Torsten Groß hat sich für die SZ zum großen Gespräch mit Eddie Vedder von Pearl Jam getroffen. Andreas Hartmann freut sich im Tagesspiegel aufs Berliner Konzert von JJ Weihl. In der SZ gratuliert Wolfgang Schreiber Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra zum 25-jährigen Bestehen. Im "Und dann kam Punk"-Podcast spricht Bernd Begemann annährend drei Stunden so kurzweilig wie idiosynkratisch über Leben, Werk und politische Dilemmas der Linken. Andrian Kreye porträtiert in der SZ die für gleich zwei Deutsche Jazzpreise nominierte Pianistin Shuteen Erdenebaatar. Hier ein vom Bayerischen Rundfunk online gestelltes Konzert ihres Quintetts:



Besprochen werden das Solo-Album "Rooting For Love" der Stereolab-Musikerin Lætitia Sadier (FR), ein Konzert des Symphonieorchester Vorarlbergs mit der Wiener Singakademie unter Heinz Ferlesch Mendelssohn (Standard) und das neue Album "Haus" von Nichtseattle (Standard, mehr dazu bereits hier).

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