Efeu - Die Kulturrundschau

SHHhhhhh-s-s-shhh-sh

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2024. Die Kritiker drehen weiter Runden auf der Biennale von Venedig. Die SZ lernt im Ukraine-Pavillon die Sprache von Tod und Vertreibung. Die taz findet das Motto "Foreigners everywhere" gut - nur warum muss man das Fremde denn noch fremder machen als es ist? Die FAS beklagt, dass man beim Deutschen Filmpreis eher auf Konsens denn auf Kunst setzt. Und alle hören Taylor Swifts neues Album - auf dessen Veröffentlichung gleich noch ein zweites folgte. Die Nachtkritik hat Depressionen selten schöner gesehen als bei Alexander Giesches Abschieds-Inszenierung in Zürich.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Jörg Häntzschel scheint in der SZ ganz angetan von der 60. Venedig-Biennale, anders als manche seiner Kollegen (Unsere Resümees) und teilt Eindrücke aus den verschiedenen Pavillons. Nicht alles ist spannend, räumt der Kritiker ein, dafür geht manches so richtig unter die Haut: "Das ukrainische Kollektiv Open Group gibt dort unter dem Titel 'Repeat After Me' Videounterricht in der Sprache des Kriegs. Die Abfolge der Videos immer dieselbe: Kriegsflüchtlinge schauen emotionslos in die Kamera, sagen ihren Namen und ihren Herkunftsort. Dann ahmt jede und jeder von ihnen das Geräusch einer russischen Waffe nach: den T-80-Panzer, den Kampfbomber Su 34, die AK 47. Sie machen 'Wuuuhuuu-Buhh', 'SHHhhhhh-s-s-shhh-sh' oder 'TDDDDZDZHZZZHHHZZZHHH'. Zweimal heulen, rattern, zischen sie die Geräusche in die Kamera, dann sind die Schüler dran, das Gelernte mithilfe der phonetischen Umschreibung und der stummen Lippenbewegungen zu wiederholen. Niemand wagt es, nach vorn zu treten. Die Ukrainer bleiben allein mit den grotesken Tonfolgen."

Sophie Jung ist in der taz nicht so ganz glücklich damit, wie hier Kunst aus dem "Globalen Süden" präsentiert wird. Das Motto "Foreigners everywhere" findet sie toll, "doch das gewitzte Sprachspiel von Claire Fontaine, das eigentlich alle zu Fremden macht, wird von Pedrosa in dieser Ausstellung wieder zurückgedreht. Adriano Pedrosa... will den Fokus auf diejenigen legen, die über Dekaden von der westlichen Kunstwelt nicht beachtet wurden. Das ist ein gutes Anliegen. Doch Pedrosa muss die von der Kunstgeschichte Marginalisierten erst einmal identifizieren, sie vielleicht mehr zu Fremden machen, als sie es sind... Dabei scheint Pedrosa sich mit der Identität als künstlerischer Kategorie keinen Gefallen getan zu haben, visuell schön angeordnet, hängt die Kunst hier häufig in einem luftleeren Raum. Hätte Pedrosa die Übersehenen der jüngeren Kunstgeschichte nicht ganz selbstverständlich als Teil einer globalen Kunst positionieren können, ohne diese soziogeografische Trennlinien ziehen zu müssen?"

Auch Boris Pofalla und Marcus Woeller machen in der Welt einen Rundgang durch die Pavillons. Im Tagesspiegel berichtet Birgit Rieger.

Für die taz besuchen Waltraud Schwab und Jens Gyarmati die Fotografin Gundula Schulze Eldowy, die mit ihren Fotos aus dem Ost-Berlin der Siebziger und Achtziger Jahre berühmt wurde "die die Menschen mit schonungsloser Offenheit zeigen. Sie waren den DDR-Oberen nicht genehm. Direktheit strahlen die Leute auf den Schwarz-Weiß-Fotos aus. Und in der Direktheit liegt Unangepasstheit. Da ist keine sozialistische Propaganda, sind keine Potemkinschen Dörfer, stattdessen das unsanierte Berlin von damals, mit Einschusslöchern noch in den Häuserwänden. Heute ist ihre Wohnung vor allem Archiv, denn Schulze Eldowy lebt, wenn sie nicht in Berlin ist und sich um ihr Œuvre kümmert, oft länger in Peru, am Fuße des Cerro Bianco, des Weißen Berges.

Perlentaucher Peter Truschner, der einige Verdienste für die Wiederentdeckung Schulze Eldowys hat, weist im "Fotolot" im übrigen noch auf eine Berliner Ausstellung mit ihren Aktbildern hin - Bilder, die so noch nie gezeigt oder veröffentlicht worden sind - die Bilder werden nächstes Wochenende nur für drei Tage gezeigt.

Ebenfalls in der taz schreibt Benno Schirrmeister über den Raub von kostbarer chinesischer Keramik aus gleich drei deutschen Museen. Der Handel mit gestohlener Kunst boomt, weiß Schirrmeister: "Allein in Europa sind 2020 laut Interpol 567.465 gestohlene Kunstobjekte durch die Polizei eingezogen worden. In Deutschland liegt die Aufklärungsquote bei Kunstdiebstahl bei rund 30 Prozent. Die Zahlen machen die Einschätzung des Deutschen Museumsbundes plausibel, laut der 'das finanzielle Volumen des illegalen Kunsthandels international an dritter Stelle hinter dem Drogen- und dem illegalen Waffenhandel' rangiert. Das Forschungsinstitut der Vereinten Nationen für Kriminalität und Rechtspflege (Unicri) geht davon aus, dass er vor allem die diffuse Bedrohung finanziert, die Sicherheitsfachleute 'internationalen Terrorismus' nennen."

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet mit dpa eine besonders eindeutige Kunstaktion der Aktivistinnen-Gruppe Pussy Riot: Bei einer Performance in der Pinakothek der Moderne in München urinierten die Frauen auf ein Bild von Wladimir Putin. Anne Diekhoff trauert in der taz um die Alte Börse in Kopenhagen - ein kleiner Trost sind ihr die Videos, die Passanten dabei zeigen, wie sie Kunstwerke aus dem Innenraum retten, bevor das Gebäude endgültig in Flammen aufging. die  Die FAS stellt ihre "Vier Fragen" dieses Mal der Direktorin des Gropius-Bau, Jenny Schlenzka. Max Florian Kühlem war für die SZ in drei Ausstellungen, in denen man Kunst nicht nur anschauen, sondern auch anfassen darf: "SHAPE! Körper + Form" im Lehmbruckmuseum Duisburg, "Tony Cragg. Please touch!" im Kunstpalast Düsseldorf und "Kopfüber in die Kunst" im Dortmunder U. Besprochen wird ansonsten die Ausstellung "Poetics of Encryption" im HKW Berlin (FAS).
Archiv: Kunst

Musik



Die Musikkritik kennt heute nur ein Thema: "The Tortured Poets Department", das neue Album von Taylor Swift, dem zum Verdruss mancher ganz, ganz eiliger Rezensenten wenige Stunden nach Veröffentlichung gleich noch ein zweites Album hintendran gehängt wurde. "Dass viele, die das erste Album auf Swifts regelmäßige Werbung hin bereits vorbestellt und bezahlt haben, nun auch noch das zweite mit allen 31 Tracks kaufen werden, ist lukrativ", schreibt Nadine A. Brügger in der NZZ. "Veräppelt kommen die Fans sich davon aber bis jetzt nicht vor; sie fühlen sich beschenkt. Swift sagte einst zu Recht: 'Mit meinen Fans habe ich die Lotterie gewonnen.'"

Für SZ-Kritiker Joachim Hentschel ist dabei gar nicht so entscheidend, dass Swift mit diesem Zweistunden-Paket womöglich neu definiert, was ein Album ist, sondern "dass sie - schlicht und tatsächlich - wahnsinnig viel zu sagen hat. Dass Swift ... ihr Publikum nur selten (ab und zu allerdings schon) mit leeren, selbstreferenziellen Gesten und Affiliate-Links füttert. Sondern es zur Hauptsendezeit mit echten Geschichten, Intertextualitäten, Abschweifungen und weiten Spannungsbögen unterhält. Als raumgreifende Erzählerin, die das Handwerk auf fast schon wieder altmodische Art praktiziert." So ist dieses Album "nicht weniger als ein weithin gültiges Eichmeter dafür ..., was zeitgenössisches Pop-Songwriting überhaupt leisten kann", selbst wenn Swift und ihr Produzententeam "vor allem das in der Vergangenheit erreichte musikalische Plateau verteidigen".



Hier gehe es mal wieder um die "Kernkompetenz Taylor Swifts", grantelt Christian Schachinger im Standard, nämlich "das Leiden einer jungen Frau an der Welt und vor allem an der Liebe. Im Wesentlichen handelt es sich bei dem Album "zwei Stunden lang um das von den deutschen Lausejungen Deichkind geborgte Motto 'Auch im Bentley wird geweint'. ... Musikalisch lässt sich über das neue Album nicht viel Aufregendes berichten. Textlich Mater Dolorosa, Gesang eher Madonna. Ein wenig glatter Indiepop von der Stange, ein wenig seichte Country-Wurzelpflege, ein wenig pflegeleichter Synthiepop aus den 1980er-Jahren." Schachinger rät: "auf Durchzug schalten. Es fällt nicht schwer."

FAZ-Kritiker Edo Reents packt das Gähnen: Texte gut, aber Musik oh weh. Er hört auf dieser Platte "keinen einzigen Laut", den er im letzten Vierteljahrhundert nicht schon woanders, etwa bei Beyoncé gehört hätte, und ärgert sich über den "absolut unintensiven Gesang, der nicht nur nie zum Äußersten, sondern noch nicht einmal bis zur Mitte geht. ... In dieser stimmlichen Arbeitsverweigerung, kommen auch die, wir sagten es schon, sehr guten, angenehm pubertären, dabei sarkastisch-abgeklärten Texte rund um erotische Anziehung, Abstoßung und Genervtsein, die zum Glück erst gar keine gute Laune aufkommen lassen und zwischen Western-Mythologie und der Puppenwelt um Barbie und Ken hin und her wechseln, nicht recht zur Geltung." Weitere Kritiken in Welt und Presse, sowie verpaywallt bei allen anderen.

In der taz erzählt Detlef Diederichsen die seit einigen Wochen kursierende Geschichte vom schwedischen Komponsiten Johan Röhr, der mit unter zahlreichen Pseudonymen veröffentlichtem Klangkleister für Mood-Playlists auf Spotify mehr Streams ergattert als Michael Jackson: "Offensichtlich hat der Mann Spotify richtig verstanden. ... Die von ihm gelieferten Tracks unter Quatschpseudonymen bereiten den Boden für KI-generierte Musik, mit der sich Spotify endlich und endgültig von lästigen Labels, nörgelnden Verwertungsgesellschaften und aufsässigen Künstleregos abkoppeln kann. Sogar das Kuratieren der Listen wird immer mehr den Algorithmen übertragen" und "die bisher dafür zuständigen Mitarbeiter*innen in Scharen gefeuert."

Außerdem: Der legendäre Londoner Plattenladen Rough Trade hat in Berlin eine Dependance eröffnet, berichtet Jens Uthoff in der taz. Katrin Nussmayr hat für die Presse einen Klassik-Rave mit Opernarien besucht.
Archiv: Musik

Bühne

Szene aus "Moise" am Schauspielhaus Zürich © Eike Walkenhorst

"Seltener war Depression schöner anzuschauen" als bei Alexander Giesches Abschieds-Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus, findet Valeria Heintges auf Nachtkritik. Mit einer Adaption von Tennessee Williams' Roman "Moise und die Welt der Vernunft" bringt der Regisseur einen letzten seiner "Visual Poems" auf die Bühne. Schöne Dekors darf man hier nicht erwarten, so Heintges, aber das war bei Giesche ja schon immer so: "Giesche nutzt Bausteine, Motive aus Williams' Roman, um sie in Bilder, Töne, Atmosphäre zu übersetzen. Immer wieder etwa taucht Moises Philosophie der Farbe auf: viel Grau, viel Schwarz, die sie auf ihren Bildern 'mit kaum wahrnehmbaren Punkten in Blau hier und dort' begleitet. Auch Giesche malt in Schwarz und Grau, mit wenig Licht, dunklen Stimmungen, einer Schwarz-Weiß-Animation und viel Nebel, in der der Satz 'Theatre kills' kurz aufscheint."

Weiteres: Fortunato Ortombina wird der neue Intendant der Mailänder Scala, meldet Karen Krüger in der FAZ. Der Tagesspiegel meldet mit dpa, dass der frühere Balletdirektor Marco Goecke, der nach der "Hundekot"-Attacke auf eine Kritikerin gehen musste, nun als Choreograf wieder an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrt.
Archiv: Bühne

Literatur

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"Was dich nicht umbringt, macht dich stärker", so ganz will Salman Rushdie diesen Spruch nicht glauben, sagt er im WamS-Gespräch gegenüber Martin Scholz anlässlich seines neuen Buchs "Knife". Körperlich fühlt er sich nach dem Anschlag auf sein Leben schwächer denn je. "Andererseits hat es dieser Mann, als er versuchte, mich umzubringen, nicht geschafft, meine Stimme verstummen zu lassen.  ... Die große Aufmerksamkeit, die mein neues Buch hervorgerufen hat, zeigt mir, dass er meine Stimme noch stärker gemacht hat. ... Ein Attentäter hat immer eine große Macht über sein Opfer. Dieses Buch zu schreiben, war meine Art zurückzuschlagen. Das Buch heißt nicht nur deshalb 'Knife', weil es offensichtlich von einer Messerattacke handelt, sondern auch, weil das Buch selbst ein Messer ist."

Außerdem: Im "Buch Zwei" der SZ erzählt Cathrin Kahlweit von ihrer Reise quer durch Europa auf den Spuren von Elias Canetti. Der Schriftsteller Klaus Modick legt in "Bilder und Zeiten" der FAZ dar, wie Lion Feuchtwanger ihn zum Schriftsteller machte. Fürs "Literarische Leben" der FAZ spricht Hannes Hintermeier mit dem deutschen Schriftsteller und Fernsehmoderator Dirk Stermann, der in seiner Wahlheimat Österreich bekannter ist als zuhause. Noemi Schneider erinnert hier in der FAZ und dort im Literatur-Feature von Dlf Kultur an Lord Byrons Jahre in Venedig.

Besprochen werden unter anderem Frank-Walter Steinmeiers Essay "Wir" (taz), Olena Sachartschenkos "Kämpferinnen" (taz), Alem Grabovacs "Die Gemeinheit der Dieb" (taz), Anaïs Barbeau-Lavalettes "Sie und der Wald" (Freitag), Thomas Kunsts Lyrikband "WÜ" (Presse) und Florian Wackers "Zebras im Schnee" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

"Ziemlich peinlich" findet es Peter Körte in der FAS, dass Angela Schanelecs "Music" (unsere Kritik) für keinen Deutschen Filmpreis nominiert wurde. "Da verhält sich die internationale Anerkennung für Schanelecs Arbeit umgekehrt proportional zur Ignoranz in Deutschland. ... Am schlechten Einspielergebnis von 'Music' liegt es nicht" da die meisten der bereits angelaufenen nominierten Filme Zuschauerzahlen im unteren bis mittleren fünfstelligen Bereich aufweisen oder gar nur im vierstelligen Bereich wie auch Schanelecs Film. "Nur 'Ein ganzes Leben' von Hans Steinbichler, die Lebensgeschichte eines Hilfsarbeiters in den Alpen, brachte es auf rund 200.000 Zuschauer. Klar, Zahlen sind nicht alles, aber etwas zu erzählen haben sie auch. Verschämt wird beim Filmpreis seit 2014 zusätzlich der besucherstärkste Film geehrt, der praktisch nie unter den Nominierten auftaucht."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht für die taz mit Elene Naveriani über deren Film "Amsel im Brombeerstrauch", der von einer Frau in Georgien erzählt, die in ihren Mitt-Vierzigern lustvoll ihren Körper entdeckt. Besprochen werden Alex Garlands "Civil War" (NZZ, mehr dazu bereits hier), Ryûsuke Hamaguchis "Evil does not exist" (Standard, mehr dazu bereits hier), Jochen Hicks Dokumentarfilm "Queer Exile Berlin" (online nachgereicht von der FAZ) und Matt Bettinelli-Olpins und Tyler Gilletts Horrorfilm "Abigail" (Standard).
Archiv: Film