Efeu - Die Kulturrundschau

Fröhlich hüpfen Geigen und Hörner

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2014. In der NYRB lernt der Historiker Robert J.W. Evans aus zahlreichen Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg: Alle waren schuld. Im Freitag fragt Klaus Walter vom Autoren-Radiosender Byte.FM: Warum bekommen die Öffentlich-Rechtlichen das ganze Geld, wenn er das bessere Programm macht? Die NZZ besucht das neue Bukarester Museum für Gegenwartskunst. Die Welt trauert um das Filmkorn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.01.2014 finden Sie hier

Musik

In der SZ entnimmt Reinhard J. Brembeck einer neuen Studie, dass das Interesse der Jugend an klassischer Musik immer mehr abnimmt. Das Publikum ist daran selber schuld, meint er: "Hier findet sich das gehobene Bürgertum mit seinem einfallslosen Dresscode ein, das verschnupft auf Außenseiter reagiert und mit den immer gleichen Ritualen den immer gleichen Stücken in hagiografischer Andacht folgt. Im Vergleich damit geht es in einem Altenheim wie auf einer Partymeile zu."

Der Musikjournalist und Radiomacher Klaus Walter ärgert sich - jetzt auch online - im Freitag, dass der von ihm und anderen Moderatoren per Selbstausbeutung gemeinschaftlich betriebene Autoren-Radiosender Byte.FM überall für sein kuratiertes Programm gepriesen wird, während der öffentlich-rechtliche Rundfunk anspruchsvolle Musiksendungen kaum zulässt: "Immer wieder hören wir, dass das werbefreie, komplett unterfinanzierte Programm ByteFM leistet, was die Öffentlich-Rechtlichen qua Auftrag leisten müssten - aber kaum noch tun. Wem gebührt das Geld?"

In der Berliner Zeitung empfiehlt Jens Balzer Konzerte beim Berliner CTM-Festival for Adventurous Music and Art, einem der "wichtigsten popkulturellen Großereignisse des Berliner Winters". Insbesondere auf die Extremklang-Avantgardisten Stephen O'Malley und Peter Rehberg im Berghain freut er sich. Hier ein früherer Auftritt:



Weitere Artikel: In der taz hält es Tim Caspar Boehme unterdessen für keine gute Idee, dass sich das artverwandte Berliner Ultraschall-Festival nun auch im Club Berghain einquartiert hat. Frédéric Schwilden feiert in der Welt das neue Album von Boy George als Wiedergeburt des zuletzt arg in Exzessen und Justizproblemen verschütteten Musikers: In seinem neuen Video ist er kaum wiederzuerkennen ... Im Tagesspiegel sichtet Ulrich Amling nach Claudio Abbados Tod (mehr dazu gestern) die Abbado-Editionslage. Und Nerdcore bringt viele neue Musikvideos von Damon Albarn, Moderat, Bombay Bicycle Club, Disclosure, Elbow, Childish Gambino.
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Kunst

In der NZZ erzählt Markus Bauer die Gründungsgeschichte des 2004 eröffneten Bukarester Muzeul National de Arta Contemporana, dem Museum für Gegenwartskunst, das direkt an dem monströsen Ceaușescu-Bau "Haus des Volkes" klebt: "Während das Künstlerehepaar Elena und Dan Perjovschi, mittlerweile weltweit aktiv und zu den bekanntesten Künstlern aus Rumänien gehörend, konsequent gegen die unheimliche Nachbarschaft des Museums mit dem Parlament argumentierte, da sie darin eine Versöhnung mit den durch den Bau verursachten urbanen Zerstörungen sahen, hofften andere gerade durch die Etablierung des MNAC eine Art von Exorzierung der fatalen Vergangenheit durch provozierende Auseinandersetzung in Gang zu setzen. Andere sahen in der Umgebung von entstehender orthodoxer Kathedrale und Parlamentsgebäude eher eine ungewollte Zugehörigkeit zu einem Postkommunismus, der seiner Herkunft nicht entfliehen kann."

Weitere Artikel: Sabine Weier stellt in der taz Clémentine Deliss und ihr post-ethnografisches Weltkulturenmuseum in Frankfurt vor. In der FAZ führt auf einer ganzen Seite der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler durch die Neupräsentation der Sammlung "Wien 1900" im Wiener Museum für angewandte Kunst.

Besprochen werden in der taz die Ausstellung "Against the Idea of Growth, Towards Poetry" in Aarhus und im Tagesspiegel eine Ausstellung mit Fotografien von Käthe Augstein im Verborgenen Museum in Berlin.
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Literatur

Der Historiker Robert J.W. Evans stellt in der New York Review of Books eine Reihe von englischsprachigen Neuerscheinungen über den Ersten Weltkrieg vor und notiert, dass sich Fritz Fischer mit seiner These von der deutschen Hauptschuld schlechter gehalten hat als Luigi Albertini, der alle für gleichermaßen mitschuldig hielt. "Albertini hat triumphiert. Und zwar so sehr, dass - mit einer teilweisen Ausnahme - die Texte bemerkenswert frei von Polemiken sind." Sie haben sogar viel gemeinsam, findet er. Zum Beispiel "Anmut und Eloquenz der Darstellung, als wollten sie die Eleganz und Höflichkeit einer Vorkriegswelt abbilden, die nur zu bald in der Obszönität und Barbarei der Schützengräben verloren gehen sollte. Sie machen viele Anleihen bei den literarischen Chroniken dieser Zeit, den Memoiren Stefan Zweigs oder Harry Kesslers. Und über all dem erzählen sie Geschichten von Individuen: Herrschern, Diplomaten, Politikern, Generälen. Sie lassen keinen Zweifel daran - jedenfalls nicht bei unserer Generation - dass es das Spiel der Persönlichkeiten ist (vor allem der Persönlichkeiten in hohen Ämtern), das hauptsächlich den Countdown in den Jahren und Monaten vor Armaggedon einleitete."

Die Lyrikzeitung hat bei Youtube ein Video gefunden mit Gherasim Luca, dem rumänischen Dichter, über dessen Stottergedichte Valeria Luiselli in ihrem Essayband "Falsche Papiere" (Leseprobe) schreibt: "Passionément"



Weitere Artikel: Wolfram Schütte stellt im Culturmag ein paar Überlegungen zu Arno Schmidt an. Anlässlich der am 24. Januar in Frankfurt beginnenden "Mittelamerika Literaturtage" veröffentlicht das Culturmag außerdem das Vorwort des nicaraguanischen Autors Sergio Ramírez zu einer Anthologie mittelamerikanischer Erzählungen.

Besprochen werden Bücher, darunter in der taz der Roman "Timira" des anonymen Autorenkollektivs Wu Ming 2 und Antar Mohammed und in der NZZ drei filmphilosophische Neuerscheinungen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).
Archiv: Literatur

Film

Nach der Meldung, dass Paramount als erstes Studio in den USA künftig völlig auf Kinokopien verzichtet, trauert Hanns-Georg Rodek in der Welt um das Filmkorn: "Die Filmanmutung ist verloren, jenes Korn, das immer leicht in Bewegung war ... Das Korn mit seinen Fehlern hat uns unterschwellig stets erinnert, dass wir es mit einem Abbild zu tun haben, nicht mit der Wirklichkeit. Die Perfektion des digitalen Bildes hingegen suggeriert die absolute Realität, obwohl die häufig gar nicht das Ziel des Regisseurs ist."

Außerdem: In der FAZ stellt Swantje Karich Marco Wilms' Dokumentarfilm "Art War" vor, der Künstler des arabischen Frühlings begleitet.

(Via The Verge) Quentin Tarantino ist deprimiert, meldet Deadline: Das Drehbuch seines geplanten Western "The Hateful Eight" wurde geleakt. Nun hat er es ins Regal gelegt und dreht zunächst einen anderen Film.
Archiv: Film

Bühne


(Foto: Matthias Creutziger / Semperoper Dresden)


Sehr beglückt kommt SZ-Rezensent Helmut Mauró aus Barbara Freys Dresdner "Elektra"-Inszenierung, die auch das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss. Von Christian Thielemann am Pult ganz zu schweigen: "Die Musik hat echte Freude in sich, fröhlich hüpfen Geigen und Hörner, immer mehr Instrumente kommen hinzu, und auf einmal verselbständigt sich das Ganze zu einem bedrohlichen Strudel, die Trompeten bringen gefährliche Schärfe herein, Bassklarinetten verheißen unabwendbares Unheil, dreimal erklingt das große Fragemotiv. Dann ist Gewissheit. Und Dunkelheit." Besprechungen dazu gab es außerdem in der Welt, Musik in Dresden und in der FAZ.

Wie alle anderen ist auch taz-Rezensent Nikolai Hablützel absolut hingerissen von der Sängerin Svetlana Sozdateleva, die an der Komischen Oper in Sergei Prokofjews Oper "Der feurige Engel" einige Hürden zu meistern hat: "ein Text, der nur aus der Zeit seiner Entstehung heraus zu verstehen ist, und eine Musik, die sich bis heute jeder Einordnung in gängige Kategorien widersetzt. Svetlana Sozdateleva überwindet sie alle. Nein, nicht spielerisch leicht, sondern leidend, mit einer körperlichen Hingabe, die bei allen Extremen dennoch niemals nach voyeuristischem Beifall schielt, sondern ausschließlich der Sache dient."

Weitere Artikel: In der Welt berichtet Karin Cerny über ein riesiges Millionendefizit, fehlendes Krisenmanagement und forensische Untersuchungen am Wiener Burgtheater. Jetzt online ist Eleonore Bünings Bericht aus der letzten FAS über ihre Reise durch das aktuelle Repertoireprogramm des Opernbetriebs.

Besprochen werden in der SZ eine Bühnenadaption von Thomas Bernhards Roman "Holzfällen" in Graz ("Thomas Bernhard als schmachtender Liebender, als sexuelles Wesen - hier betritt die Inszenierung nun wirklich Neuland", lobt Wolfgang Kralicek, mehr zur Inszenierung in Nachtkritik und Standard).
Archiv: Bühne

Design

In Mailand und Paris sind gerade die Pret-a-Porter-Schauen für Männer zu Ende gegangen (alle Kollektionen findet man hier). In der FAZ bemerkt Markus Ebner: "Sicher ist, dass sich die Männer- immer stärker an der Frauenmode orientiert. Das bedeutet: Männer kleiden sich von sofort an auch in Couture-Stoffen, ziehen sich Pelzstolen um den Hals, lassen ihre Schuhe mit Schmuck hochpolieren, tragen Halsketten und Handtaschen. Dieser Trend lässt sich schon seit Jahren absehen. Vor allem Vorreiter wie das Haus Lanvin benutzen schon lange Stoffe wie Seidenchiffon für ihre Männer." (Links im Bild: Lanvin)

Auf Seite Drei der SZ begleitet Laura Weissmüller Kripo-Beamte auf die Kölner Möbelmesse, wo diese in den weniger attraktiven Ausstellungsräumen zahlreiche Plagiate von Designermöbeln beschlagnahmen. An manchen Ständen trifft man dabei auf besonders kecke Händler: "27 Dollar soll der weiße Plastikstuhl kosten, dessen Sitzschale exakt die Wellenform des Eames Plastic Armchair nachahmt. Man dürfe gerne ein Foto davon machen, schiebt die Verkäuferin ungefragt hinterher, denn: 'Dieses Modell ist nicht geschützt, wir haben die Beine verändert.' In der Tat wirken die Beine wie Stumpen im Gegensatz zum filigranen Gestell des Originals. Der Stuhl darf bleiben."
Archiv: Design