Efeu - Die Kulturrundschau

Die Pest der Konsenskultur

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15.02.2014. Die FAZ empfiehlt künftigen Berlinalen: Weniger ist mehr. Im Tagesspiegel sucht Ken Loach das europäische Kino. In der taz fordert Dominik Graf mehr schmutziges Kino. Die Berliner Zeitung feiert das Michael Wollny Trio. Die Lyrikzeitung erstellt über Facebook eine Anthologie gemeinfreier Gedichte. In der Welt ruft Klaus Ungerer: Wo ist die Gegenwart in der deutschen Gegenwartsliteratur? Die FR gruselt sich mit Odile Redon
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2014 finden Sie hier

Film

Die Berlinale steht kurz vor ihrem Abschluss, heute Abend werden die Bären bekannt gegeben. Die Kritiker sammeln letzte Kräfte und es gibt schon erste Resümees: In der FAZ lobt Andreas Kilb die Berlinale im Feuilleton als "skandalfrei" (er meint das wirklich als Lob). In der Kommentarspalte empfiehlt er, mit Blick auf das adipöse Programm: "Weniger ist mehr." In der Welt notiert Cosima Lutz: "Poesie, Humor und Schönheit entfaltet die Berlinale jedenfalls am stärksten dort, wo sie radikal weglässt." Hanns-Georg Rodek sucht nach einem "unique selling point" für die Berlinale und empfiehlt mehr Geschichten aus und über Deutschland.

Ken Loach, den die Berlinale in diesem Jahr für sein Lebenswerk ehrt (mehr), plädiert im Interview mit der taz für weniger Facebook und mehr "agitieren, bilden, organisieren" der Revolution. Und das europäische Kino sei auch nicht mehr, was es mal war: "Die nordamerikanische Dominanz hat sich nicht verändert. Sie ist unverändert aggressiv, für die anderen Kulturen ist es schwierig, sich zu behaupten. Als ich begann, war das italienische Kino großartig und kraftvoll. Es gab sehr spezielle osteuropäische Filmkulturen, Skandinavien war stark. Heute sind solche Kulturen zumeist auf ein, zwei Namen reduziert. Es gibt also wenn, dann eher Veränderungen zum Schlechteren, und die europäische Antwort fällt schwach aus."

Für Deutschland würde Dominik Graf ihm wohl Recht geben. Im Interview mit dem Tagesspiegel sagt Graf: "Das Schreckliche am deutschen Themenfilm ist ja, dass alles immer auserzählt werden muss wie in einer Talkshow. Die ewige Präsenz des gewichtigen Themas verkleinert das Filmische am Film." Heute, so Graf weiter, "kommen Politiker zu staatstragenden Premieren und verleihen den Filmen damit eine außerfilmische, antifilmische Bedeutung. An der Subventionskultur können wir nichts ändern, wir sind finanziell abhängig, denn im TV- und Internetzeitalter spielen Filme nun mal erheblich weniger ein als früher. Ich bin dankbar für die Filmförderung. Aber die Pest der Konsenskultur gewinnt immer mehr Einfluss. Die Radikalität, das schmutzige andere Kino wird in der protestantischen Berliner Republik zu einer bedrohten Spezies."

Außerdem: Andrea Hünniger denkt in der Welt nach einer Podiumsdiskussion mit James Shamus, Greta Gerwig und Michel Gondry über gute Anfänge im Film nach. Mit gleich zwei neuen Filmen ist Volker Schlöndorff auf dem Festival vertreten: Die Berliner Zeitung hat sich mit dem Regisseur unterhalten. Claus Löser sichtet für die Berliner Zeitung neue Filme aus Tschechien und Rumänien. Susanne Lenz besucht für die Berliner Zeitung eine Seminarsitzung der Berlinale Talents zum Thema "Visuelle Effekte". In der NZZ resümiert Jörg Becker Forumsfilme, die sich mit heutigen Arbeitswelten auseinandersetzen.

Besprochen werden außerdem der Wettbewerbsfilm "Macondo" (Berliner Zeitung), Tsai Ming-Liangs Langsamkeitsfilm "Xi You" (Berliner Zeitung/taz), die Hongkong-Filme "That Demon Within" von Dante Lam und "The Midnight After" von Fruit Chan (taz, Berliner Zeitung), der ägyptische Dokumentarfilm "Al Midan" (taz), der Dokumentarfilm "Souvenir" (taz) und der Dokumentarfilm"Through A Lens Darkly", der sich mit afroamerikanischer Fotogeschichte befasst (taz/Perlentaucher/Tagesspiegel), die 3D-Doku "Kathedralen der Kultur" (Welt).
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Musik

Mit großem Interesse bespricht Hans-Jürgen Linke für die Berliner Zeitung das Debütalbum des Michael Wollny Trios, das vom Jazz her die Musik der Romantik perspektiviert: "Es gibt nicht die jazzüblichen Verfahren von verfremdender Reharmonisierung, von Tempoänderungen und Stimmungsvariationen. Es gibt eher etwas wie einen tiefen Respekt vor der rezipierten Musik und eine routinelose Durcharbeitung. Wollny, Schaefer und Lefèbvre widerstehen jeder Versuchung, etwas Simplifizierendes über das Material zu stülpen. Es gibt in diesem Trio eine hohe Kultur des Ernstnehmens und Wirkenlassens." (Jan Wieles schöne Besprechung in der FAZ ist jetzt auch online). Und hier nochmal das Wollny Trio:



Nach der Jungle World (hier) gesteht heute auch Jens Uthoff in der taz seine Liebe zum Werk der Weilheimer Experimental-Indieband The Notwist. Für ihn ist es ein Wiedersehen: "Wo man im Pop doch sonst nur das Lässige, Ironische, das Kommunizieren über Codes kennt, wirken The Notwist da eben anders. Soll man sagen: Sie wirken wie auf der Suche nach Bodenständigkeit und Tiefe? Auch das ist etwas, was vom 80er-Jahre-Indie der Langhaarzauseln geblieben ist."

Außerdem: Für die taz besichtigt Thomas Winkler die Wohnung von Desiree Klaeukens, durch die die Musikerin in ihrem aktuellen Video führt. Besprochen werden ein Berliner Haydn-Konzert mit Simon Rattle (Berliner Zeitung/Tagesspiegel), Bushidos neues Album ("an Rohheit kaum zu überbieten", findet FAZ-Rezensent Jan Wiele) und Verdis Requiem mit Christian Thielemann in Dresden (Welt).
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Kunst



Für die FR streift Peter Iden durch eine Schweizer Ausstellung von Bildern des Malers Odilon Redon. Dabei gruselt sich der Kunstkritiker ganz außerordentlich: Er erblickt "aus Träumen bewahrte Figuren, Dinge und situative Konstellationen. Auch ihre Arrangements im Bild sind traumverhaftet. Aber es sind Albträume, aus denen sie stammen, Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier, bedrohliche Insekten, die sich wie in heutigen Horrorfilmen auswachsen zu Monstern, fragmentarisierte Körper, abgetrennte Köpfe, schwarze Sonnen schaffen eine Atmosphäre des Unheimlichen."

Außerdem: In der NZZ denkt Tom Schoper von der TU Dresden über den Wert des Neuen in der Architektur nach. Und Ursula Seibold-Bultmann denkt über den Wert einer erzählenden Architektur nach. Im Tagesspiegel empfiehlt Rolf Brockschmidt eine Fotoausstellung der Marokkanischen Botschaft in der Berlin zum jüdischen Leben in Marokko: "großformatige Aufnahmen von starker Intensität". Der Guardian bringt Jonathan Meades" A bis Z des Brutalismus. Für die Berliner Zeitung porträtiert Ingeborg Ruthe den Kunstsammler Egidio Marzona, der die Berliner Museen mit reich bestückten Sammlungen beschenkt. Die Zeit bringt das World Press Photo des Jahres (mehr dazu hier).
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Literatur

Auf Facebook wird gerade eine Anthologie gemeinfreier Gedichte erstellt, erzählt die Lyrikzeitung, die das Projekt offenbar initiiert hat. Das funktioniert so: "Ausgehend von einem Gedicht Kurt Tucholskys entwickelte sich in kurzer Zeit eine umfangreiche, schier exponentiell wachsende Anthologie nach folgendem Verfahren: Wer bei einem bereits vorhandenen Gedicht auf "Gefällt mir" klickt, erhält von der Person, die das Gedicht vorgeschlagen hat, einen Autor benannt, von dem er/sie wiederum ein Gedicht auswählen muß." Auf eine Leserfrage, warum das über Facebook laufen muss, antwortet die Lyrikzeitung: "weil ich dort mit über 300 autoren vernetzt bin. wie könnte ich das sonst?"

Deutsche Gegenwartsliteratur? Hat alles, nur keine Gegenwart, und die Leser wollen das auch so, behauptet Klaus Ungerer in der Literarischen Welt und stellt einige "Geschäftsmodelle" deutscher Autoren vor. Hier Nummer 7: "Ich bin authentisch! Ich habe Tattoos und einen geilen Body, und ich schreibe über das harte Leben auf Baustellen und in Rotlichtvierteln, und die Feuilletonisten bewundern die ganze Echtheit, denn genau so haben sie sich das Leben auf Baustellen und in Rotlichtvierteln immer vorgestellt. Komm mit, ich zeige Dir meine Welt, sie ist genau so angenehm sepiafarben wie Rosamunde Pilcher - nur eben, dass ich den geileren Body habe!"

Penguin India ist eingeknickt: Nach jahrelangen Protesten der der hindunationalistischen BJP hat der Verlag Wendy Donigers "alternative Geschichte" der Hindus vom Markt genommen, berichtet in der Welt Wieland Freund, den Arundhati Roys Protest im Independent auf die Geschichte aufmerksam gemacht hat: "Tatsächlich forderte das [fundamentalistischen Shiksha Bachao Andolan] Komitee schon 2010 das weltweite Verbot von Donigers Buch, weil es die religiösen Gefühle frommer Hindus beleidige."

Außerdem: Auf Zeit online unterhält sich die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf mit Wiebke Porombka über ihren neuen Roman "April" (Leseprobe). Cynthia Haven unterhält sich in der Welt mit Philip Roth. Außerdem druckt die Welt eine Erzählung von George Saunders: "Mein Ritterfiasko". Nach Protesten gegen Dirk Kurbjuweits Novelle "Zweier ohne" als Prüfungsstoff für Schüler (zu viel Sex) hat der Kulturminister Baden-Württembergs dem Buch Max Frischs "Andorra" als Alternative beigesellt. In der NZZ findet Joachim Güntner das okay: "Eine Niederlage des Säkularismus, die Kurbjuweit an die Wand malt, sähe anders aus."

Besprochen werden u.a. Felix Philipp Ingolds Roman "Noch ein Leben für John Potocki" (NZZ) und der autobiografisch grundierte Roman "Flut und Boden" des Historikers Per Leo (SZ). Mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr.

In der Frankfurter Anthologie erscheint heute der letzte Marcel Reich-Ranicki-Reprint. Rachel Salamander erklärt in der Leitglosse zur Zukunft der berühmten Rubrik: Künftig sollen Autoren auch über eigene Gedichte schreiben dürfen. Außerdem soll es um Lieblingsgedichte von Autoren geben, anders als bisher, so Salamander, kann es dabei zu Doppelungen kommen.

MRR beschäftigt sich heute mit Goethes Gedicht "An vollen Büschelzweigen":

"An vollen Büschelzweigen,
Geliebte, sieh nur hin!
Laß dir die Früchte zeigen,
Umschalet stachlig grün.
..."
Archiv: Literatur