Efeu - Die Kulturrundschau

Aus den Sound-Bibliotheken handelsüblicher Audiosoftware

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16.06.2014. Geraten die Großfestivals à la Wien, Avignon und Co. in eine tiefe Krise? Sie sind verrostet, meint Frie Leysen im Standard. Und Avignon und Aix könnten ganz ausfallen - und zwar 2014, 15 und 16, warnt Olivier Py in Le Monde. Überwältigt steht die FAZ vor Kara Walkers "Marvelous Sugar Baby" in New York. Die Jungle World führt uns in die Subtilitäten des Sinogrime ein. Es ist noch Neues und Erstaunliches möglich in der Modefotografie staunt die taz, nachdem sie eine Viviane-Sassen-Ausstellung besucht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.06.2014 finden Sie hier

Kunst



In New York ist derzeit Kara Walkers riesige, aus Zucker gefertigte Skulptur "Marvelous Sugar Baby" zu sehen, die klischierte Attribute einer schwarzen Mammy mit der Ikonografie der ägyptischen Sphinx vereint. In der FAZ gerät Jordan Mejias angesichts dieses Anblicks in weitschweifendes Assoziieren: Diese "kolossale Skulptur ist ein Gedankengenerator, der keine versteckten Algorithmen braucht, um sich die Welt in abenteuerlichen Verknüpfungen, Vergleichen und Zusammenstößen zu erschließen. ... Provokation und Heiligsprechung sind die Ansatzpunkte einer Debatte, die im historischen Miasma der Sklaverei auf den Zuckerrohrfeldern beginnt und in einem Amerika, das sich zum Präsidenten einen Mann mit schwarzer Hautfarbe gewählt hat, alle Phantasien und Lügen von einer postrassistischen Reife sogleich der Lächerlichkeit preisgibt." Hier einige Eindrücke von der in der Tat überwältigenden Skulptur und deren Fertigungsprozess. (Das Foto von Matt, Marie, Luke and Finn steht unter CC-Lizenz bei Flickr.)

Für die NZZ besucht Paul Andreas die sechste Architekturbiennale in Rotterdam, die sich den Problemen und Lösungsansätzen globaler Urbanisierung widmet. "Angesichts der gravierenden Auswirkungen des Klimawandels und der globalen Urbanisierungslawine, die auf die Welt in den kommenden Dekaden zurollen dürfte, wird es keine Rückkehr zu einer Balance der Natur mehr geben können. Stattdessen müssen die Bedingungen des Anthropozäns...auch für die Stadt-, Raum- und Landschaftsplanung berücksichtigt werden."

Simone Reber und Christiane Meixner haben für den Tagesspiegel die beiden aktuellen Gerold-Miller-Ausstellungen in Berlin (im Mies-van-der-Rohe-Haus und in der Galerie Chouakri) besucht und mit Gewinn verlassen: "Die glückliche Fügung der beiden Ausstellungen schickt den Blick durch die Stufen modernen Sehens. Sie schärfen das Auge, bis es unterscheiden kann zwischen Realität und Illusion."

Außerdem: Cristina Nord fasst in der taz Elisabeth Bronfens in Berlin gehaltenen Vortrag über die Kriegsfotografinnen zusammen. In der Berliner Zeitung schreibt Sabine Vogel, im Tagesspiegel Christiane Mexiner den Nachruf auf den Fotografen Robert Lebeck.

Besprochen werden die Kokoschka-Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg (Elke Linda Buchholz vom Tagesspiegel freut sich vor allem über die Tierbilder) und die Ausstellung zum Berliner Art Prize im Kühlhaus Berlin (taz).
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Musik

Anhand neuer Veröffentlichungen von Fatima Al Qadiri ("Asiatisch" - hier einige Hörproben, weitere Besprechungen in Spex und bei Pitchfork) und Copeland ("Because I"m Worth It") stellt Christian Werthschulte in der Jungle World das elektronische Subgenre Sinogrime vor, an dessen Blütezeiten insbesondere Al Qadiris Album erinnert: Hier vermengt sich die "Faszination für die Oberflächenwelt des Spätkapitalismus" mit der "Hypermoderne Chinas". Zu hören ist da ein "Simulacrum aus akustischen Klischees (...): fabrikfertige Chorsounds aus gängigen Synthesizern, generische Bambusflöten aus den Sound-Bibliotheken handelsüblicher Audiosoftware, eine Vocoder-Stimme, die von ihrem Drachentattoo erzählt und dann "Speak Chinese, speak with me" fordert." Einen ausführlichen Essay über Grime und dessen Spielarten veröffentlichte Adam Harper bereits 2013 in Dummy.

Außerdem: Im Tagesspiegel jubelt Sybill Mahlke über Gustavo Dudamels Einstieg als Dirigent bei den Berliner Philharmonikern: "Für diese Mahler-Aufführung gebührt ihm ein Kranz. Daniel Zylbersztajn besucht für die taz den Londoner Gothic-Club Slimelight.

Besprochen werden das Album "Beauty & Ruin" von Bob Mould (Jan Freitag von der Zeit ist begeistert von "altmodischer Musik mit fortschrittlicher Kraft"), das neue Album von Lana Del Rey (FAZ, Pitchfork) und eine CD mit Mozart-Aufnahmen der Pianisten Tal & Groethuvsen (SZ).
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Literatur

Besprochen werden Reto Hännys "Blooms Schatten" (FR), Christoph Peters' "Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln" (Zeit), Colson Whiteheads Zombie-Roman "Zone One" (Tagesspiegel), Stefan Müller-Doohms Habermas-Biografie (SZ), Jan Bauers Comic "Der salzige Fluss" (Jungle World) und diverse neue Biografien in Comicform (Tagesspiegel).

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Design

Hortense Pisano hat sich für die taz im Forum Frankfurt eine Ausstellung mit Modefotografien von Viviane Sassen angesehen. Insbesondere Sassens "Kunst der Verfremdung und des Verbergens" wussten der Kritikerin zu gefallen: "Gerade weil Sassens frühe Magazinarbeiten nicht die Perfektion ihrer neueren Modefotografien erreichen, verdeutlicht "In and out of Fashion", dass sie von Beginn an eine an den Effekten der modernen Avantgarde geschulte und dabei ganz eigene, zeitgemäße Bildsprache anstrebte. Eine Bildsprache, die sich wohltuend von den puppenhaften Schönheitsidealen abhebt, wie sie nach wie vor das Bild der Frau in den bekannten Modemagazinen prägen. ... Oft bleiben die Gesichter ihrer Models in der Dunkelheit eines Schattens verborgen, werden von drapierten Stoffbahnen umhüllt oder verschwinden hinter einem Bausch bunter Kleider." (Viviane Sassens Foto "In bloom", ursprünglich für das Magazin Dazed & Confused entnehmen wir der Website der Ausstellung.)
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Bühne

Sehr klare Worte zum internationalen Spitzen-Kulturbetrieb findet im Standard die Wiener Festwochen-Schauspielchefin Frie Leysen, die nach nur einem Jahr gleich wieder abtreten wird und darum offenbar keine Rücksichten nehmen muss: "Alle Festivals, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, Avignon, Holland Festival, Edinburgh, auch Wien, sind 70 Jahre alt - und verrostet. Ich glaube nicht, dass sie zu retten sind - es sei denn, man hat den Mut, Tabula rasa zu machen und radikal neu zu denken."

Dazu passt ein Interview mit Olivier Py vom Festival in Avignon in Le Monde. In Frankreich drohen die "Intermittents du Spectacle" mit Streik - also jene Kunst- und Theaterleute, die nur Werkverträge haben und zwischendrin vom Arbeitsamt getragen werden. Dieser Status wird in Frankreich bei vergeblichen Reformkonvulsionen von Zeit zu Zeit in Frage gestellt. Py sagt zu Le Monde, dass er mit Kulturministerin Aurélie Filippetti gesprochen hat. "Wir haben ihr gesagt, dass auch die Festivals in Avignon und Aix-en-Provence von 2015 und 16 gefährdet sind, falls die Festivals von 2014 annulliert werden. Und das heißt, dass die Festivals als Institutionen in Frage stehen."


("Kafkas Prozess". Bild: Lucie Jansch)

Claus Peymanns Inszenierung von Jutta Ferbers Bühnenadaption von "Kafkas Prozess" am Berliner Ensemble lässt die Kritiker seufzen - wenngleich nicht gerade vor Glück. Bei der Nachtkritik schickt Christian Rakow deshalb gleich warnend und alte Erfahrungen bekräftigend voraus, dass auch hier wieder Peymanns Hang zu "szenischen Doppelungen des Textes, Verstärkungen und Vereindeutigungen, (...) für die [das Berliner Ensemble unter Peymann] wahlweise geliebt oder gelitten wird," zum Tragen kommt. "Das BE hat sich - mit durchaus diebischer Freude am eigenen Anachronismus - als Theatermuseum eingerichtet."

In der SZ will sich Lothar Müller solchen Warnungen zum Trotz nicht mit dem Gebotenen anfreunden, auch wenn etwa die schauspielerischen Leistungen ihm im Einzelnen durchaus imponieren. Doch "warum wirkt, was sie im Einzelnen so gekonnt spielen, so harmlos im Ganzen, bei allem Bemühen um Moritat und Groteske so verzagt?" Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung gewinnt bei aller Zermürbung immerhin einige Erkenntnisse: "Diese forcierte Misskunstvorführung hat man am BE wohl eher nicht extra für Kafka erfunden, aber sie passt doch diesmal und hilft beim Mitdenken." Auch Christine Wahl vom Tagesspiegel ist nach der Aufführung äußerst überschaubar begeistert.

Weitere Artikel: Christoph Nix, Intendant am Theater Konstanz, berichtet in der taz von einer Reise nach Burundi. Besprochen werden Amélie Niermeyers Inszenierung der "Gefährlichen Liebschaften" am Schauspiel Frankfurt (FR) und Salvatore Sciarrinos an der Staatsoper Berlin gezeigter "Lohengrin" (taz).
Archiv: Bühne