Efeu - Die Kulturrundschau

Fleiß. Respekt. Anstand. Toleranz.

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02.09.2014. Die taz bewundert in einer Bonner Austellung die Meister der Elfenbeinküste. Die Welt lässt sich von Ost-Rapper Hagen Stoll bei einem Paar Mozzarella-Stäbchen proletarische Werte vermitteln. Die NZZ beobachtet, wie die neuen Bürgerbühnen die Wirklichkeit ins Stadttheater schmuggeln. In der Huffpo.fr spricht Dan Franck über seine Netflix-Serie "Marseille" und die soziale Architektur der Stadt. Die FAZ besucht das finnische Lummerland. Außerdem freuen sich alle auf das heute beginnende Berliner Musikfest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.09.2014 finden Sie hier

Kunst

Restlos begeistert verlässt Brigitte Werneburg in der taz die Ausstellung "Afrikanische Meister" in der Bundeskunsthalle in Bonn: "Die Ahnenfiguren, Tanz- und Repräsentationsmasken genauso wie die Masken zur Kommunikation mit Wahrsagern und Geistern, die Zeremoniallöffel und Webrollenhalter, überraschen mit so viel Stil, Eleganz und Detailfreude bei einem meist doch minimalen, abstrakten Grundansatz, mit so viel Erfindungsreichtum und Fantasie, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt." (Bild: Meister von Essankro: Maske mit geteilter Frisur, Côte d"Ivoire, Baule-Region, um 1880)

In ihren drei aktuellen Ausstellungen betont die Kunsthalle Wien den Wert einer effektiven Inszenierung von Kunstausstellungen, was Catrin Lorch von der SZ schon deshalb freut, weil dem nur mehr an Zahlen und Fakten orientierten Gigantismus des Kunstmarkts damit ästhetisch Widerstand geleistet wird. Eine Ausstellung in Aarau bietet Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen dem Maler Karl Ballmer und dem NS-Kunsthändler Hildebrandt Gurlitt, berichtet Julia Voss in der FAZ. Ingeborg Ruthe gratuliert in der FR, Georg Imdahl in der SZ und Andreas Rossman in der FAZ der Fotografin Hilla Becher zum 80. Geburtstag.
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Literatur

Florian Kessler bereist für die FAZ das literarische Finnland, wo es recht behaglich zugeht: "Die Kleinheit des Marktes schützt eben nicht bloß noch vor potenziellen Markteroberern wie Amazon, sie erzeugt auch eine Art lummerlandartiges Binnenklima: In der durch die langen Jahre der Einheitsschule und die minimale Einwanderung flach wie eine Pfanne strukturierten, homogenen Gesellschaft kann fast jeder sich auf die paar Dutzend öffentliche Autorenfiguren einigen."

Außerdem: In der FAZ ulkt der Longlist-Nominierte Michael Ziegelwagner über die Buchpreis-Debatte und empfiehlt: Einfach das am Ende vergebene Gesamt-Preisgeld in eine Topf werfen, solidarisch auf alle 20 Longlist-Nominierten verteilen und auf dem Weg bis zur Preisvergabe gemeinsam alle Buchpreis-Veranstaltungen schwänzen.

Sacha Verna porträtiert im Tagesspiegel die britische Schriftstellerin und Man-Booker-Preisträgerin Lydia Davis. In China sind die auf 35.000 Seiten gesammelten Lektüre-Exzerpte des Schriftstellers Qian Zhongshu als Faksimile-Ausgabe erschienen, freut sich Mark Siemons in der FAZ. Mit großer Begeisterung liest Oliver Grimm in der Presse den Comic "A Most Imperfect Union", in dem Kulturwissenschaftler Ilan Stavans und Zeichner Lalo Alcaraz die Geschichte der USA aus Sicht ihrer Minderheiten erzählen ("Meisterwerk").

Besprochen werden unter anderem Wladimir Aichelburgs mit über 3.000 Seiten jeden Rezensenten erschlagende Lebenschronik Franz Ferdinands (FR), Anne von Canals "Am Grund" (SZ), Walter Grasskamps Studie "André Malraux und das imaginäre Museum" (NZZ), Carsten Ottes Buch über das Kochen als Leidenschaft "Der gastrosexuelle Mann" (Welt), Larissa Boehnings "Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr" (Zeit) und Peter Hammerschmidts "Deckname Adler" (FAZ).
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Musik

Heute beginnt das Musikfest Berlin, das sich schwerpunktmäßig mit dem Horn befasst. Dabei handelt es sich um "ein merkwürdig ambivalentes Instrument", meint Tim Caspar Boehme in der taz: "Das Horn gilt als eines der schwierigsten Blasinstrumente und ist daher bei Publikum und Musikern gleichermaßen gefürchtet." In der Berliner Zeitung reibt sich Peter Uehling schon freudig die Hände vor Vorfreude: Dass die Werke "ein Geflecht bilden, ein Gespräch der Komponisten über die Zeiten hinweg, dass es um Kunst geht, die zu Kultur heranwächst, das verdeutlicht das Musikfest Berlin Jahr für Jahr anschaulicher und geistreicher als jede Musikgeschichte." Für den Tagesspiegel spricht Frederik Hanssen mit Musikfest-Leiter Winrich Hopp.

Hier Schuberts "Auf dem Strom" mit dem Tenor Richard Lewis, dem großen Hornisten Dennis Brain und Ernest Lush am Piano.



Michael Pilz porträtiert in der Welt den Ost-Rapper und Haudegen Hagen Stoll aus Marzahn ("Einmal um den Ostblokk") als "preußischstes Gemüt" unter den Berliner Musikern: "Wer ihn am Helene-Weigel-Platz, seiner natürlichen Umgebung, wo er mit den Sprühern, Punks und Russen in den Neunzigern die Nazis wieder einmal aus der Stadt vertrieben hatte, wer ihn dort zum Imbiss trifft, bei Maracujasaft und Mozarella-Stäbchen, kann ihn von seinem Berlin erzählen hören, von den Proletariern und ihren Werten: "Fleiß. Respekt. Anstand. Toleranz.""

Weiteres: Geht Popstar Beyoncé tatsächlich als Feministin durch, wie sie bei ihrem Auftritt bei den MTV Awards behauptet hat? Durchaus, meint Meredith Haaf in der SZ, denn Beyoncé schaffe es, sich "als vollständige Frau" selbst zu inszenieren. Ueli Bernays berichtet in der NZZ vom Jazzfestival Willisau. Das neue Album der Electroclash-Pioniere Zoot Woman plätschert zwar, doch dies auf hohem Niveau, meint Jan Freitag auf ZeitOnline: "Da verkantet nichts, da fusioniert wenig, da wird einfach nur gediegen zur Entspannung animiert." Für die Jungle World hat Sarah Pines das Radiokollektiv Dublab besucht, das sich der Förderung grenzensprengender Musik verschrieben hat.

Besprochen werden das das Debüt-Soloalbum von Karen O. (FAZ) und  ein Aufritt von Anna Netrebko mit Richard Strauss" "vier letzten Liedern" (FAZ).
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Bühne


Mareike Hein als Hannelore Kohl. Foto: Thilo Beu

Bernhard Mikeskas
und Lothar Kittsteins Stück "Schatten::Frau" am Theater Bonn konfrontiert am Beispiel der Hannelore Kohl den abgeklärten, tendenziell polyamoren Menschen von heute mit einem aufopferungsvollerem Begriff von Romantik, berichtet Hanna Schmeller in der taz: "Hat der Zuschauer, dieser mit allen Beziehungsformen der modernen Zeit vertraute Besucher aus der Gegenwart die Wahl, sich dieser längst vergangenen Romantik zu entziehen? Sich gegen Hannelores Verführung, Generve und Verzweiflung abzugrenzen? Manchem wird das Leben wohl beigebracht haben, genau das zu tun - durch Spott, Ironie, Gelächter oder Verachtung. Den Darstellern gelingt es aber auch oft genug, eine große Sprachlosigkeit zu vermitteln."

Dagrun Hintze beobachtet in der NZZ, wie sich die neuen Bürgerbühnen das Stadttheater erobern und will sich nicht mit dem Mitmachtheater früherer Tage verwechselt sehen: "Dass nichtprofessionelle Darsteller dem Theater eine Menge zu geben haben, weiß man nicht erst, seit Rimini Protokoll sie "Experten des Alltags" nennt. Ihre Lebenserfahrung und ihr Fachwissen, über das kaum ein Regisseur oder Schauspieler verfügt, lässt sie im besten Fall mehr Wirklichkeit auf die Bühne bringen, als es der Repertoirebetrieb der Stadt- und Staatstheater häufig vermag. So konfrontiert Miriam Tscholls Inszenierung "Ich armer Tor" zum Beispiel Goethes "Faust" mit Erzählungen von sieben Dresdner Männern, die allesamt in einer veritablen Midlife-Crisis stecken."

Im Tagesspiegel berichtet Sandra Luzina von der Tanznacht Berlin. Von der Idee charmant, in der Umsetzung aber enttäuschend findet Bernhard Doppler im Standard Lily Sykes Stück "Your Lover Forever", für das vierzehn Schriftsteller Goethes Liebesbriefe an Charlotte von Stein beantworteten. Besprochen werden Robert Wilsons in Linz aufgeführtes Stück "1914" (SZ) und Domenico Scarlattis in Innsbruck aufgeführte Oper "Narciso" (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Halbzeit bei den Filmfestspielen in Venedig. Ganz königlich amüsiert sich Susan Vahabzadeh von der SZ mit Peter Bogdanovichs offenbar bis zum Rand mit zündenden Gags gefüllten Comeback-Film "She"s Funny That Way": "Wer diesen Film nicht komisch findet, hat Depressionen." Und ausgerechnet die ebenfalls am Lido gezeigte HBO-Miniserie "Olive Kitteridge" von Lisa Cholodenko lässt Cristina Nord von der taz den Glauben an das Festival zurückgewinnen: "Während viele Filme im Wettbewerb eher hinken als beflügeln, bereitet die außer Konkurrenz gezeigte Serie großes Vergnügen. Nach jeder der vier Episoden reibe ich mir verdutzt die Augen, weil ich gar nicht glauben mag, wie rasend schnell sie vergangen ist."

Endlich mal keine Schwermut mehr, atmet Sophie Charlotte Rieger auf kino-zeit.de nach dem offenbar sehr liebenswerten Stopmotion-Animationsfilm "The Boxtrolls" auf und kürt zudem noch mit Saverio Costanzos "Hungry Hearts" ihren bisherigen Festivalfavoriten, über den sie in ihrem Blog ausführlicher schreibt. Julia Dettke von ZeitOnline beobachtet in Venedig einen entspannten Fatih Akin, in dessen Film "The Cut" (hier dazu mehr) sie "einen Kriegsfilm" sieht, "in dem noch nicht alle Hoffnung verloren ist". Ein "süffiges Epos mit allen Vor- und Nachteilen", meint Rüdiger Suchsland zu Akins Film in seinen Notizen vom Lido auf Negativ Film.

Dan Franck, Autor des großartigen Films "Carlos", wird der erste französische Autor sein, der für Netflix arbeitet. Seine Serie "Marseille" wird in fünfzig Ländern laufen, in denen Netflix präsent ist. Im Interview mit Grégory Raymond von der französischen Huffpo spricht er über die Zusammenarbeit mit dem neuen Akteur und über Marseille: "Es ist eine unglaublich dichte Stadt. Nehmen Sie den Hafen, einen Ort des Austauschs, der Einwanderung, der Abreisen... Der Hafen wird der Auslöser der Geschichte sein. Aber auch das Velodrom wird ein wichtiger Ort sein. Was die Probemviertel angeht, so liegen sie in Marseille, anders als in Paris, im Zentrum. Da schafft eine sehr besondere und faszinierende soziale Archiektur."

Online nachgereicht von der FAZ: Eleonor Benítez" Artikel über die Frauen im Jungen Deutschen Film. Und Marco Koch hat im Filmforum Bremen wieder aktuelle Postings aus der deutschen Filmblogosphäre verlinkt.
Archiv: Film