Efeu - Die Kulturrundschau

Es mangelt am richtigen Boing

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2014. Ein wenig müde schauen die Feuilletons der Vergabe der Löwen in Venedig entgegen: "Pasolini" fällt weiterhin durch, einzig taz und Negativ Film machen sehenswerte Entdeckungen. Der Tagesspiegel ärgert sich über den Umgang der FAZ mit Judith Hermann: Erst zum Covergirl machen, dann zerfleischen. Pfui. Die Welt macht Mut für den Roman der digitalen Zukunft. Der Freitag sorgt sich hingegen um die Zukunft der Stadttheater. Und die Art spricht mit Sheikha Hood Al Quasimi über schwindende Unterschiede zwischen arabischer und westlicher Kunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.09.2014 finden Sie hier

Literatur

Nach einer Intervention in der Zeit (mehr) ärgert sich nun auch Gerrit Bartels im Tagesspiegel über Edo Reents" Rezension von Judith Hermanns Roman "Aller Liebe Anfang" in der FAZ. Allerdings weniger wegen der Kleinlichkeiten, deretwegen Reents sich Hermann zur Brust nimmt, sondern weil die FAZ noch wenige Wochen vor der Veröffentlichung gegenüber der Autorin in einem großen Interview artig Liebkind gemacht hat, um die Berichterstattung über die Veröffentlichung für sich öffentlichkeitswirksam einzuleiten. Dann "aber vier Wochen später den "Star der deutschen Literatur" vom Sockel zu holen und sich eben auch über Hermanns Position hierzulande zu mokieren und zu hinterfragen, wie Reents es tut, das zeugt, bei allem wünschenswerten Meinungspluralismus, von einer ekligen Doppelmoral: Kann nicht schreiben die Frau, aber als Covergirl brauchen wir sie doch!"

Die Welt blickt in verschiedenen Artikeln in die digitale Zukunft: Der Schriftsteller Ernst Wilhelm Händler sieht keinen Anlass zur Sorge, vielmehr begrüßt er den technischen Fortschritt in der Literatur, den er in einer wachsenden Vernetzung, aber auch in einem größeren Bewusstseinsinput sieht. Auch dem Roman macht er Hoffnung: "In der nächsten Zukunft wird der Roman wohl eine eher geschlossene Form beibehalten. Die Ränder werden nicht zu sehr ausfransen. Das Kräfteverhältnis zwischen Verfasser und Leser wird sich nicht prinzipiell ändern. Aus dem einfachen Grund: Es gibt Formate mit erzählerischen Features in anderen Medien, die eine intensivere und komplexere Interaktion zwischen Designer und User ermöglichen. Dagegen erscheint es einfach kindisch, Romanbausteine zu liefern, die der Leser kombinieren kann, oder ihn aufzufordern, an bestimmten Scharnieren die Handlung selbst weiterzuschreiben. Auch Hybride zwischen den verschiedenen Formaten, die Romanbestandteile enthalten würden, scheinen am Horizont nicht auf."

Marc Reichwein spricht in der Welt mit drei Branchenkennern über die Zukunft, Vor- und Nachteile des Ebooks. Der Literaturwissenschaftler Roland Reuß etwa glaubt an die Zukunft des gedruckten Buches: "Werke, die nicht als Referenz im Sinne eines Nachschlagwerks dienen, sondern integral studiert werden müssen, werden wahrscheinlich auch zukünftig in klassischer Buchform ihre letzt-gültige Ausprägung finden. Man kann sich nicht vorstellen, dass jemand die "Phänomenologie des Geistes" oder "Sein und Zeit" am Computer liest." Auch die technologiefremde Krimilandschaft wird sich, beispielsweise durch den Kampf gegen Drohnen, verändern, glaubt Tom Hillebrand im Welt-Gespräch mit Elmar Krekeler.

Zum 120. Geburtstag von Joseph Roth besucht Philipp Sawallisch für die taz die Joseph-Roth-Diele in Berlin. Thomas David spricht in der NZZ mit dem Schriftsteller John Burnside über seinen neuen Roman "Haus der Stummen". Besprochen werden Edward St. Aubyns "Der beste Roman des Jahres" (taz), Marcel Reich-Ranickis "Meine Geschichte der deutschen Literatur" (FAZ), Mia Coutos "Das Geständnis der Löwin" (Jungle World), Michael Hampes "Die Lehren der Philosophie - eine Kritik" (ZeitOnline) und Lutz Seilers "Kruso" (SZ, hier unsere Leseprobe).
Archiv: Literatur

Bühne

Auch wenn die internationale Theaterkritik von der deutschen Theaterlandschaft schwärmt wie von keiner zweiten, offenbart sich beim genaueren Blick doch eine enorme Schieflage zwischen Metropolen und Provinz, meint Thomas Irmler im Freitag: Das Theater in Deutschland "besteht (...) aus glänzenden Hauptstädten, Dauerkrisenregionen, unterversorgtem Normalbetrieb und dem stetigen Ringen um den Erhalt des Stadttheaters, wie es aus den kulturellen Bedingungen und Bestrebungen des 19. Jahrhunderts entstanden ist."

Das drei Jahre lang von Kulturschaffenden besetzte Teatro Valle in Rom wurde von den Besetzern nach Signalen aus der Politik, sich des Hauses anzunehmen, geräumt, berichtet Catrin Dingler in der Jungle World. Das Varieté in den Berliner Hackeschen Höfen hat sich in den vergangenen zehn Jahren enorm verändert, stellt Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung fest. Die österreichischen Feuilletons verkünden den überraschenden Rücktritt des Generalmusikdirektors der Wiener Staatsoper, Franz Welser-Möst. (DiePresse, Kurier)

Besprochen wird die Uraufführung von Durs Grünbeins und Johannes Maria Stauds neuer Oper "Die Antilope" beim Lucerne Festival (NZZ, FAZ) und Büchners "Leonce und Lena" in Patrick Wengenroths Inszenierung an der Berliner Schaubühne (es mangelt am "richtigen Boing", meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung).

Archiv: Bühne

Film

Heute werden in Venedig die Löwen vergeben. Viel Enthusiasmus macht sich bei den Kritikerinnen nicht gerade breit. Abel Ferraras Wettbewerbsfilm "Pasolini" etwa (siehe auch unsere gestrige Kulturrundschau) findet weiterhin kaum Anklang. In der SZ muss sich Susan Vahabzadeh nach der Sichtung sehr am Kopf kratzen: Dieser Film bietet "zu wenig, um als Biopic durchzugehen, [und ist] zu schlicht, um Pasolini zu erklären - und viel zu wirr, um richtig bewegend zu sein." Sophie Charlotte Rieger bekundet auf kino-zeit.de, viel zu sehr "damit beschäftigt [zu sein], aus den Bildern einen Sinn zu generieren, sie zu kategorisieren und zu interpretieren", als dass sie sich wirklich auf den Film einlassen hätte können. Dietmar Dath wählt in der FAZ unterdessen seine drei Favoriten: Roy Anderssons "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence", Ramin Bahranis "99 Homes" und Aleskeij Tryapitsyns "The Postman"s White Nights", wobei ihm letzterer als Sieger am liebsten wäre, da er sich bei "diesem zutiefst freundlichen, aber nirgends aufgesetzt bieder menschelnden Film manchmal die Augen reibt über die unglaublichen Tischdecken, unwirklichen Katzen, nahegelegenen Weltraumforschungszentren und Modeschauen im Fernsehen."

Cristina Nord hält sich in der taz gar nicht erst lange mit Spekulationen darüber auf, wer wohl siegreich aus dem Wettbewerb hervorgehen könnte, und weist stattdessen lieber auf Chaltanya Tamhanes indischen Film "Court" hin, den sie am Ende des Festivals noch als echte Entdeckung hat ausfindig machen können. Auch Rüdiger Suchsland jubelt auf Negativ Film darüber, kurz vor Abreise mit Timm Krögers Abschlussfilm "Zerrumpelt Herz" noch ein echtes Highlight für sich gefunden zu haben: "Der Prä-Nazismus zieht sich aufs Subtilste (...) durch Krögers Film. In der Kleidung, in den Frisuren, in den Gesten, in der Sprache, in den Themen. ... Gegen Ende wendet sich "Zerrumpelt Herz" wie eine Gothic Novel, oder eine Kurzgeschichte von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe ins Surreale." In einem zweiten Text ärgert sich Suchsland über die Festivalberichterstattung in den Feuilletons, die sich zu sehr auf den Wettbewerb konzentriert, und setzt zur Ehrenrettung von Ferraras "Pasolini" an.

Christiane Peitz wagt sich im Tagesspiegel an ein allgemeineres Fazit: Die besseren Regisseure dieser Mostra fühlen sich nicht dem Erzählkino verpflichtet, sie "misstrauen dem Fluss der Zeit. ... [Und] wir leben in kriegerischen Zeiten. In Venedig häuften sich die Kriegsszenarien, Filme über Völker- und Massenmorde in Indonesien und Armenien, über den Ersten und Zweiten Weltkrieg in Nah- und Fernost, Kolonialkriege, Befreiungskriege, Maos Kulturrevolution."

Im Freitag staunt Lutz Herden darüber, wie der 1960 entstandene DEFA-Film "Der Fall Gleiwitz" die "Anatomie eines Verbrechens" der Nazis freilegt. In der taz empfiehlt Carolin Weidner die Filmreihe "Fragmente einer Welt" über das einstige jüdische Leben in Polen, die heute im Berliner Zeughauskino beginnt. Hans Georg Rodek erlebt in der Welt die Zukunft des Kinos in China, wo Textnachrichten der Zuschauer direkt auf die Leinwand projiziert werden. Nachrufe auf die US-Komikerin Joan Rivers schreiben Peter Richter (SZ) und Nina Rehfeld (FAZ). Außerdem hat Werner Herzog gestern seinen 72. Geburtstag gefeiert. Das British Film Institute bringt aus diesem Anlass eine schöne Bilderstrecke mit Setfotografien.

Besprochen werden Alexandre Powelz" "Ohne Dich" (Tagesspiegel), das wiederaufgeführte "Texas Chain Saw Massacre" von Tobe Hooper (Filmgazette) und Georg Seeßlens Buch über Lars von Triers "Nymphomaniac"-Filme (Filmgazette).
Archiv: Film

Musik

Thomas Steinfeld schmilzt in der SZ beim Anhören von Stefano Bollanis neuem Jazz-Album "Joy in spite of Everything" regelrecht dahin: Hier gibt es "Klangbilder von einsamer, abstrakter Schönheit." (mehr dazu hier) Für The Quietus hört sich Joe Clay durch das neue Album von Aphex Twin. Jens Balzer hat für die Berliner Zeitung einige Konzerte der Berlin Music Week sowie eine ukrainische Frittenbude besucht. Für den Tagesspiegel berichtet Nadine Lange vom Messeauftakt. In der Welt fingiert Michael Pilz ein Interview mit einem Avatar über die Idee einer App, die individuelle, auf persönlichen Daten basierende Musik generiert.

Besprochen werden das Debütalbum "Godess" von Banks (Spex), das neue Album von Interpol (ZeitOnline), das neue Album von Earth (Pitchfork) und ein Beethoven-Konzert von Daniil Trifonov (SZ).
Archiv: Musik

Kunst

Für das art-magazin hat sich Michael Kohler die von Sheikha Hood Al Quasimi, eine der mächtigsten Frauen der arabischen Kunstwelt, im Kölner Barthonia Showroom kuratierte Ausstellung "Sinus Arabicus" mit Werken zeitgenössischer arabischer Kunst angeschaut. Im Interview glaubt Hood al Quasimi an eine Auflösung der Grenzen zwischen arabischer und westlicher Kunst: "Die Kunstwelt ist die Kunstwelt, es ist nicht mehr so wichtig, woher du stammst. Die Zeiten, in denen man dachte, in der arabischen Kunst drehe sich alles um Verschleierungen, sind lange vorbei. (…) Alle schauen MTV und CNN, jedermann ist bei Facebook, alle tun dasselbe. Die Himmelsrichtungen spielen keine Rolle mehr, gerade in den Emiraten."

Die Kunstszene fürchtet sich zunehmend vor den Superreichen und der dadurch bedingten Abschottung der Kunst vor der Öffentlichkeit, schreibt Kito Nedo in der SZ. Gottfried Knapp gratuliert Christian Boltanski in der SZ zum 70. Geburtstag.

Besprochen wird eine Ausstellung des "Genter Altar" der Brüder van Eyck in der Berliner Gemäldegalerie (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst