Efeu - Die Kulturrundschau

Von hinten durch das Zwerchfell ins Gehirn

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29.10.2016. Die Welt gibt eine Liebeserklärung an Bernard Buffet ab, den schlechtesten Maler des 20. Jahrhunderts. Weiterhin überwiegend einverstanden sind die Feuilletons mit dem Zuschlag für Herzog & de Meurons Entwurf für das Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin. Eberhard Junkersdorf appelliert in der Welt an Monika Grütters, die Murnau-Stiftung und das deutsche Filmerbe zu retten. Die taz begrüßt die Frauenquote beim Berliner Jazzfest. Und die NZZ enthüllt das Geheimnis von Dmitri Schostakowitschs Neunter Sinfonie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2016 finden Sie hier

Kunst

"Eine Liebeserklärung an den schlechtesten Maler des 20. Jahrhunderts" gibt Hans-Joachim Müller in der Welt ab, nachdem er im Pariser Musée d'Art Moderne eine Ausstellung des in den Fünfzigerjahren gefeierten, dann gründlich vergessenen Malers Bernard Buffet besucht hat: "Buffet hielt sich ans figürliche Idiom, aber doch nicht so, dass man ihn tumben Traditionalismus hätte bezichtigen können. Da war er tatsächlich Picasso nicht unähnlich, mit dem er schon nach den ersten Ausstellungen verglichen worden ist. Aber anders als sein berühmter Landsmann, der aller Berühmtheit zum Trotz dem kleinbürgerlichen Gossip als Inbegriff einer ungeliebten Moderne galt, bewahrten Buffets Bilder sichtlich Form, Gliederung, Struktur und Architektur. Immer ging es irgendwie um 'Figur und Raum', die sich unschwer als tragische Beziehung 'Mensch und Welt' identifizieren ließ. Das war und erscheint noch heute auf geradezu fantastische Weise raffiniert." (Bild: "Autoportrait sur fond noir", 1956)

So geradezu übereifrig versucht die Kunsthalle Schirn derzeit in einer Ausstellung die Parallelen zwischen Bruce Nauman und Alberto Giacometti herauszukehren, dass Kolja Reichert von der FAZ sich bald regelrecht erschlagen fühlt: "Ihr wollt Köpfe? Ihr kriegt Köpfe! Ihr wollt Beine? Ihr kriegt Beine! Ihr wollt Genitalien? Ihr kriegt Genitalien! ... Eine Ausstellung, die in tautologischer Buchstäblichkeit erstarrt."

Weiteres: Christiane Meixner gratuliert im Tagesspiegel Horst Antes zum Achtzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Scores - Musikwerke bildender Künstler" im Hamburger Bahnhof in Berlin (taz), eine Ausstellung über Berliner Porzellanplastik von 1751 bis 1825 im Kunstgewerbemuseum in Berlin (Tagesspiegel) und Joana Hadjithomas' und Khalil Joreiges Schau "Two Suns in a Sunset" im Haus der Kunst in München (SZ).
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Film

"Machen Sie die Rettung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und des deutschen Filmerbes zur Chefsache!", richtet der Produzent Eberhard Junkersdorf in der Welt einen verzweifelten Appell an Kulturstaatsministerin Monika Grütters: "Seit Jahren haben immer wieder Gespräche zwischen der Murnau-Stiftung und dem BKM, vertreten durch Herrn Winands, stattgefunden. Dabei wurde der Stiftung mehrmals in Aussicht gestellt, man kann schon sagen, zugesagt, sie aus der schwierigen, unverschuldeten finanziellen Lage zu retten. Warum will sich der verantwortliche Politiker nicht mehr daran erinnern? ... Warum hat man die Stiftung jetzt gezwungen, zunächst einmal das Stiftungskapital aufzubrauchen, obwohl man doch genau weiß, dass diese Entscheidung zwangsläufig in die Zahlungsunfähigkeit führt? Bevor die dann erreicht ist, muss der Stiftungsvorstand einen Insolvenzantrag stellen, um den strafrechtlichen Tatbestand der Insolvenzverschleppung zu vermeiden. Danach darf er dann Anträge auf staatliche Hilfe stellen? Das ist Zynismus in Reinkultur!!"



Für Cargo berichtet Ekkehard Knörer weiter von Festival Doclisboa in Lissabon. Unter anderem denkt er dabei ausgiebig über Sergei Loznitsas "Austerlitz" nach, für den der ukrainische Filmemacher in monochromen Bildern und starren Einstellungen auf die Besucher des Konzentrationslagers Sachsenhausen blickt. Wogegen sich bei Knörer im Laufe Widerstand regt, denn "dieser Blick ist nicht freundlich, schon gar nicht zärtlich, er ist nicht brutal wie bei Seidl, aber er hat in seiner geradezu aristokratischen Berührungsverweigerung etwas, das mir ungut vorkommt. ... Das ist ein Film, der sich jeder direkten Adressierung verweigert. Fürs Nachfragen, was sich die Menschen in ihren manchmal geschmacklosen Posen, in ihrem unreflektierten Hier-und-Jetzt-Dokumentieren so denken, ist sich Loznitsa zu fein. Auch darum können einem die neunzig Minuten des Films, wenn man in das, was man sieht, keine Empörung zu investieren bereit ist, ganz schön öde werden. Man sieht da Menschen, die halt tun, was sie tun."

Weiteres: Das Berliner Kino Delphi hat die Premiere des polnischen, wegen seiner verschwörungstheoretischen Thesen umstrittenen Films "Smolensk" (mehr) abgesagt - "aus Sicherheitsgründen", wie Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel berichtet. Im Standard unterhält sich Frank Arnold mit Olivier Assayas über seinen Film "Personal Shopper". In der SZ plaudert David Steinitz mit Benedict Cumberbatch, der aktuell im Blockbuster "Doctor Strange" (mehr dazu hier) zu sehen ist.

Besprochen werden Ruth Beckermanns "Die Geträumten" über die Liebesgeschichte und den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (Presse, FAZ, Perlentaucher), Rob Zombies Splatterfilm "31" (Jungle World), Maria Stodtmeiers Dokumentarfilm über den Komponisten Isang Yun (NZZ), der Animationsfilm "Kubo - Der tapfere Samurai" (Presse, Artechock), eine Anime-Adaption des Erfolgsmangas "Attack on Titan" (Tagesspiegel) und die Autobiografie der Komikerin Amy Schumer (Zeit).
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Literatur

Was die Familie Mann noch heute so faszinierend macht, schreibt Jan Feddersen in seiner Besprechung der Ausstellung über Klaus und Erika Mann in Berlin, "war,  dass Homosexualität kein Skandalthema war. Nur mussten die jeweiligen Liebhaber*innen bella figura machen, ungebildeter Pöbel hatten die betroffenen Kinder vom Familientisch fernzuhalten."

Im ZeitMagazin plauscht Annabelle Hirsch mit dem Schriftsteller Frédéric Beigbeder über allerlei Badezimmerthemen.

Besprochen werden Thomas Meineckes "Selbst" (Freitag), J. M. Coetzees und Arabella Kurtz' "Eine gute Geschichte" (taz), Cynthia D'Aprix Sweeneys "Das Nest" (FR), Terézia Moras Erzählungsband "Die Liebe unter Aliens" (FAZ), Anna Weidenholzers "Weshalb die Herren Seesterne tragen" (SZ) und Hörbuchversionen von Peter Weiß' "Ästhetik des Widerstands" (taz).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:


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Architektur

Die Feuilletons schauen sich den Siegerentwurf von Herzog & de Meuron für das Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin (mehr dazu im gestrigen Efeu) genauer an: Frech in seiner Verweigerung, sich der architektonisch stark determinierten Umgebung zu fügen, aber wirklich gar nicht schlecht findet SZler Jens Bisky das Konzept, das er vor allem für seine durchlässige Innengestaltung in Form zweier Boulevards sehr schätzt: Diese inszeniere "das Gebäude als transitorischen Ort. Es bleibt auf den ersten Blick eine Unverschämtheit, wirkt zu groß, zu einfach, erinnert zu sehr an Stadtrandarchitektur, unterläuft Erwartungen an ein harmonisches Gesamtbild. Diese Unverschämtheit aber könnte jenen Zauberschlag bewirken, den das Kulturforum braucht, um zum Stadtraum zu werden. Herzog & de Meuron denken diesen Raum weniger von der Bildwirkung her, sondern entwickeln ihn aus der Funktion. Sie erschließen Wege, ermöglichen Verbindungen, Getümmel."

Von dieser Durchlässigkeit - im übrigen auch bei geschlossenem Betrieb - verspricht sich FAZler Niklas Maak ebenfalls einiges: Die Passagen könnten "eine Abkürzung und ein Flanierraum nicht nur für Museumsbesucher, sondern für die ganze Stadt werden. Einen solchen Wandelort hatte Berlin bisher nicht." Vorsichtig abwartend schreibt Ronald Berg demgegenüber in der taz, der schon mal anerkennt, dass "die Kunstscheune aus netzartig vermauerten Backsteinen in der Fassade keine der derzeit gängigen Moden bedient." Doch "ob die neue Riesenscheune ... wirklich ein Beziehungsgeflecht zwischen den bestehenden Bauten und den verbleibenden Restflächen am Kulturforum schaffen kann oder das Areal unter seinem geneigten Dach doch eher begräbt, wird dereinst die Praxis zeigen." Und in der Welt hält Marcus Woeller zufrieden fest: "Berlin bekommt hier einen Zweckbau in der Gestalt eines Festzeltes: Pragmatismus statt Pomp."

Besprochen wird eine Ausstellung über den Architekten Volkwin Marg in der Berliner Galerie Aedes (NZZ).
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Bühne

Das Theater wird auch immer fixer: Mit "Point of No Return" holt Yael Ronen die Erinnerungen an den Amoklauf von München im vergangenen Sommer auf die Bühne der Münchner Kammerspiele - auch wenn es ursprünglich und noch bis zum Juli in dem Stück um Sex und Online-Dating gehen sollte. Für Christine Dössel weist der zuweilen offenbar recht witzige Abend auch einen stark selbstreferenziellen Charakter auf, es gehe mithin um "das Theater als Gefühlsmanipulationsraum", schreibt sie in der SZ. Doch "leider hält der Abend aller Selbstironie, Sangeskunst und Spiellust zum Trotz der eigenen steilen Vorlage im späteren Verlauf nicht mehr wirklich stand. Politische Überkorrektheit und diskursive Beliebigkeit erzeugen so eine wohlfeile Workshop-Atmosphäre. Da muss dann ein Folterbericht verlesen und die Verantwortung des Schauspielers diskutiert werden. Da muss Dejan Bućin Statistiken auflisten zum Beweis dafür, dass viel mehr Menschen an Hundebissen und Depression sterben als an Terror." Diese Darbietung geht wie immer bei Ronen "von hinten durch das Zwerchfell ins Gehirn", schreibt K. Erik Franzen in der FR. Doch "diese Moral ohne Zeige- und Mittelfinger wirkt."

Besprochen werden Bernd Mottls Inszenierung der Paul-Lincke-Operette "Frau Luna" im Berliner Tipi am Kanzleramt (Welt) und ein zweiteiliger Tanzabend mit "Fieber" von Alessandra Corti und "Fall Seven Times" von Guy Nader und Maria Campos am am Staatstheater Mainz (FR).
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Musik

Das Istanbuler "Aghet"-Konzert der Dresdner Sinfoniker, das sich mit dem Genozid an den Armeniern befasst und in den Räumen des deutschen Generalkonsulats hätte stattfinden sollen, wurde wegen angeblicher "Raumprobleme" abgesagt - eine glatte Lüge, schnaubt tazlerin Bettina Gaus empört: Selbstredend wolle man gegenüber Erdoğan lieb Kind machen. Allzu laute Proteste gegen die Politik des türkischen Präsidenten verlangt zwar auch Gaus um der lieben Diplomatie willen nicht, "aber: Raumprobleme? Mit einer solchen Begründung macht man sich mit dem Tyrannen gemein. Schlimmer noch: Man ist bereit, ein augenzwinkerndes Lächeln mit ihm zu teilen. So weit sollten Demokraten nicht gehen."

Große Freude bei tazlerin Franziska Buhre, dass das Jazzfest in Berlin sein Programm in diesem Jahr zu 50% mit weiblichen Acts bestreitet. Besondere Hinweise sind ihr die Auftritte der Trompeterin Yazz Ahmed und der Pianistin Eve Risser wert: "Während Ahmed Einflüsse aus der arabischen Musik in tradierte Gestaltungsformen des Jazz einspeist und den Sound der Jazz Fusion der späten 60er Jahre auf ihre Weise interpretiert, nahm sich die Risser ein außermusikalisches Vorbild, um erstmals für ein großes Ensemble zu komponieren. Die Gesteinsformationen des Bryce Canyon in Utah/USA veranlassten sie, eine eigenständige Klangarchitektur zu entwerfen, in welcher sich auch der emotionale Eindruck der Felsen entfaltet. Rissers 11-köpfiges White Desert Orchestra (...) ist ein sich beständig transformierender Organismus aus Stimmen der Holzblasinstrumente Fagott, Flöten, Saxofone und Bassklarinette, die von Trompete und Posaune ergänzt werden und mit Schlagzeug, Gitarre und Bass zu abenteuerlichen und poetischen Expeditionen aufbrechen." Philipp Rhensius führt außerdem durch die Berliner Szene, die sich in ein traditionellen Standards und ein der reinen Improvisation verpflichtetes Segment aufteilt.

Hat Dmitri Schostakowitsch in seiner als Siegessinfonie für den strahlenden Kriegsgewinner Stalin aufgefassten Neunten eine ironische Spitze versteckt, so gründlich, dass sie erst nach siebzig Jahren entdeckt wurde? Das meint jedenfalls der Musikwissenschafter Jakob Knaus, der in der NZZ schlüssig nachweist, dass die Sinfonie zahlreiche Verweise auf Gustav Mahlers Lied "Lob des hohen Verstandes" enthält, in dem es um den Wettstreit eines Kuckucks und einer Nachtigall geht, den ein Esel entscheidet: "Der 'Weiseste der Weisen' ist also eindeutig der Esel. Und warum entscheidet er sich für den Kuckuck als Sieger? Weil dieser nur zwei Töne singt und ihn, den Richter, nicht derart verwirrt wie die Nachtigall, die so variantenreich singt und trillert, dass er konfus wird. Noch wichtiger aber ist es, dass der Kuckuck mit seinen zwei Tönen beim einfachen Volk gut verstanden werden kann, während die Nachtigall zu kompliziert singt - sie ist demzufolge eine Formalistin, zu intellektuell, also 'volksfeindlich'. Ganz unbemerkt von der Zensur hat Schostakowitsch demnach offenkundig seine ganz eigene 'Apotheose' auf den großen Sieger Stalin komponiert und sie mutig vor aller Ohren aufführen lassen."

Weiteres: In der taz spricht Philipp Gessler mit Laura Mvula über deren Depressionen. Im Tagesspiegel gratuliert Frederik Hanssen den Berliner Symphonikern zum 50-jährigen Bestehen. Reinhard Brembeck berichtet in der SZ von der Eröffnung des Bochumer Musikforums. In der NZZ schreibt Max Sommerhalder über die Freundschaft zwischen dem Schweizer Komponisten Adolf Reichel und dem Anarchisten Michail Bakunin.

Und: Bob Dylan hat sein Schweigen gebrochen, meldet die BBC. Edna Gunderson konnte für den Telegraph ein erstes Interview mit dem Nobelpreisträger führen. Ob er bei der Zeremonie im Dezember anwesend sein werde? "Absolut - sofern es sich einrichten lässt."

Besprochen werden das neue Album von Lady Gaga (NZZ), eine Einspielung von Beethovens "Missa solemnis" unter Nikolaus Harnoncourt (NZZ), ein Konzert von Jenny Hval (Freitag), das neue Album von Lambchop (Zeit, beim Kurier in Gänze zum Streaming angeboten), eine Doku über Oasis (Tagesspiegel), ein von Donald Runnicles dirigiertes Konzert in der Tonhalle Zürich (NZZ), ein von Ivan Fischer dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel) und das neue Album von Conor Oberst (SZ).
Archiv: Musik