Efeu - Die Kulturrundschau

Die Kombinationsgabe schockiert

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02.03.2017. Die Nachtkritik erlebt vom Präsidenten-Vater verordnete Staatskunst im weißrussischen Theater. Kelly Reichardts Film "Certain Women" entlarvt gesellschaftliche Hierarchien, loben die Kritiker. Standard und NZZ gratulieren dem spanischen Architektentrio Aranda, Pigem, Vilata zum Pritzker-Preis. Die FAZ räumt in Zürich mit Klischees über Ernst Ludwig Kirchner auf. Jungle World hört skrupulösen blue-eyed Soul von Dirty Projector. Und die Literaturwelt trauert um den überraschend verstorbenen Literaturchef der SZ, Christopher Schmidt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2017 finden Sie hier

Film


Kristen Stewart in Kelly Reichardts "Certain Women"

Mit "Certain Women" verfilmt Kelly Reichardt einige Kurzgeschichten von Maile Meloy, die vom Alltag in Frauen in Montana handeln. Reichardts typisch fragil-spröde Erzählweise gefällt den Kritikern gut. Michael Kienzl hält den Film darüber hinaus auch für sehr intelligent, wie er im Perlentaucher schreibt: Die Regisseurin verdonnere ihre Figuren "nicht dazu, bloße Repräsentantinnen einer sozialen Gruppe zu sein. Laura, Gina und Jamie sind unterschiedlich alt, befinden sich in verschiedenen Berufen und Lebenssituationen, aber keiner dieser Aspekte wird zur bestimmenden Charaktereigenschaft. Sicher, Frauen sind sie alle und 'Certain Women' demonstriert auch, dass es mehr als nur ein feiner Unterschied ist, wenn man weniger ernst genommen wird als der Gatte oder ein männlicher Kollege. Aber der Film interessiert sich nur bedingt für den Geschlechterunterschied und legt stattdessen den Blick auf ein komplexes Geflecht gesellschaftlicher Hierarchien frei." In der taz betrachtet Carolin Weidner den Film vor dem Hintergrund des bisherigen Werks der Regisseurin. Weitere Besprechungen in der Filmgazette und auf Artechock.

Die Panne am Ende der Oscarverleihung, bei der aufgrund verwechselter Umschläge zunächst "La La Land" als "bester Film des Jahres" gefeiert wurde und nicht richtigerweise "Moonlight", gibt auch weiterhin viel Stoff ab. Im Freitag ärgert sich Matthias Dell, dass durch diesen Faux-Pas "die Ekstase, auf die die Prozedur mit den Umschlägen hinwirkt, an den anderen Film geht", was für ihn auch eine politische Dimension hat, da "La La Land" ein weißer, "Moonlight" ein schwarzer Film ist. Variety bringt eine Fotostrecke von hinter den Oscar-Kulissen, die belegen soll, wie es zu dieser Panne kam: Offenbar war der betreffende Mitarbeiter tatsächlich unkonzentriert, weil er parallel seinen Twitteraccount mit Backstage-Fotos fütterte. Außerdem hat Variety "Moonlight"-Regisseur Barry Jenkins und "La La Land"-Regisseur Damien Chazelle an einen Tisch zum Gespräch gesetzt.

Weiteres: Dunja Bialas vergleicht auf Artechock Paul Verhoevens "Elle" und Asghar Farhadis "The Salesman", in denen es auf sehr unterschiedliche Weise um Vergewaltigungen geht. Auf Moviepilot erklärt Rajko Burchardt das 3D-Kino angesichts sinkender Produktionszahlen und versandenden Publikumsinteresses für gescheitert. Christina Tilmann feiert in der NZZ das rumänische Kino. Taz-Kritiker Thomas Groh empfiehlt dem Berliner Kinopublikum Frank Wisbars "Barbara - Wild wie das Meer", den das Zeughauskino am Freitagabend (mit einer Einführung von Perlentaucher-Filmkritiker Lukas Foerster) zeigt. Im Berliner Kino Arsenal bietet sich außerdem die Gelegenheit, die Filme der tschechischen Dokumentarfilmerin Helena Třeštíková zu entdecken, schreibt Carolin Weidner in der taz.

Besprochen werden Martin Scorseses "Silence" (NZZ, Perlentaucher, taz, Standard, mehr dazu im gestrigen Efeu), Raoul Pecks "Der junge Karl Marx" (SZ), das Buch "Kritik üben" des New-York-Times-Filmkritikers A.O. Scott (Spiegel Online, NZZ), der neue Superheldenfilm "Logan" mit Hugh Jackman (SZ, FAZ) und die von Arte ins Netz gestellte Serie "Zimmer 108" (FAZ).
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Bühne

Nach einem Ausflug in die Theaterszene Weißrusslands sorgt sich der Dramaturg Alexander Kerlin in einem langen Nachtkritik-Essay mit Blick auf die USA, Polen, Ungarn, Israel oder die Türkei noch mehr um die Freiheit der Kunst. Themen wie Suizid, Scheidung, Internet-Sucht, Alkoholismus oder der Krieg in der Ukraine werden im weißrussischen Theater nicht aufgegriffen: "Theater ist in Belarus eine Staatskunst, die auf einer idealistischen, auf Einigung fokussierten Idee von Kunst basiert. Sie soll die Einheit des Volkes immer wieder aufs Neue herstellen und mit ihr die Vertikale vom Volk zum Präsidenten-Vater errichten. Das hat auch einen romantischen Einschlag (den sich übrigens auch Marc Jongen als allgemein gültiges Ideal der Kunst zurecht fabuliert): Vom einfachen Arbeiter bis zum Akademiker sollen alle gleichermaßen von der Kunst erreicht und durch ihre Schönheit geeint und emporgehoben werden. Das ist noch so ein sowjetisches Erbe: Der Staat setzt sich selbst in eine identitäre Beziehung zum Schönen und Erhabenen."

Besprochen wird: Das Osnabrücker Projekt "Danse Macabre", das Mary Wigmans Totentänze in Aufführungen, Ausstellungen und Symposien feiert (SZ), Max Raabes Show-Premiere "Das hat mit noch gefehlt" im Berliner Admiralspalast ("Der Sänger scheint komplett in seiner Frack-Pomada-Pose erstarrt", schreibt Frederik Hanssen im Tagesspiegel), das von Israeli Itamar Serussi und Chris Hartung choreografierte Ballett "Giselle" in Darmstadt (FR) und ein Liederabend des Countertenors Lawrence Zazzo in Frankfurt (FR).
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Architektur

(Bild: Hisao Suzuki. Musée Soulages im französischen Rodez.)

Der Pritzker-Preis 2017 geht an das spanische Architektentrio Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilata. Zurecht, findet Wojciech Czaja im Standard, denn die Projekte des Trios sind "sind gewaltige, visuell und atmosphärisch beeindruckende Gratwanderungen zwischen Archaik, regionaler Verbundenheit und materieller Frechheit. Mal ducken sich die Bauten mit Stein und Stahl in die ländliche Landschaft Kataloniens, mal fallen die an Skulpturen erinnernden Baukörper nur durch ihre Glasflächen und Spiegelungen auf, doch dann wieder werden die Häuser mutig mit Kunststoff, recycelten Baustoffen und grellen Neonfarben collagiert. Die Kombinationsgabe schockiert." In der NZZ listet Roman Hollenstein zwar eine ganze Reihe anderer potentieller Preis-Kandidaten auf, die Auszeichnung für Aranda Pigem Vilalta geht aber auch für ihn in Ordnung: "Werke wie das La-Lira-Theater in Ripoll, das Reihenhaus und das Laborgebäude in Olot oder das Musée Pierre Soulages im französischen Rodez sind in ihrer reduzierten Formensprache auf dem neusten Stand von Kunst und Technik, bereichern aber dank einem subtilen Dialog mit dem Ort auch die lokale Kultur." Das art-magazin bringt eine Bilderstrecke der Bauten.

Weiteres: Einst gehasst, heute geliebt: In der taz gratuliert Johanna Schneller dem Centre Pompidou zum 40. Geburtstag: "Für Zeitgenossen muss das neue Gebäude erst recht so ausgesehen haben, als habe es Fernand Léger bei einem Schlag in die Magengrube spontan ausgehustet. So avantgardistisch die Architektur, so basisdemokratisch ist dagegen die Vision, die den Namensgeber angetrieben hat."

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Literatur

Die SZ trauert um ihren überraschend verstorbenen Literaturchef Christopher Schmidt. "Sein Bildungsreichtum war ungeheuer", schreibt Sonja Zekri im Nachruf. "Seine Texte verrieten eine Sprachgewalt, die reichte, um Romane zu füllen, kein Bild war schief, gebraucht, auch nur vage bekannt."

Außerdem: Im Tagesspiegel würdigt Silke Merten den Grapic-Novel-Pionier Will Eisner, der in wenigen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre. Mark Siemons gratuliert dem Schriftsteller Tilman Spengler in der FAZ zum 70. Geburtstag. Die Welt bringt einen Vorabdruck aus Laura Wohnlichs Debüt, dem Escort-Roman "Sweet Rotation".

Besprochen werden Brigitte Kronauers "Der Scheik von Aachen" (Zeit), Laura Wohnlichs "Sweet Rotation" (Welt), Lukas Bärfuss' "Hagard" (FAZ) und Jan Mohnhaupts "Der Zoo der Anderen" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

(Bild: Eisenbahnüberführung, 1914, Öl auf Leinwand, 79 x 99,5 cm, Museum Ludwig, Köln)

In der Zürcher Ernst-Ludwig-Kirchner-Ausstellung "Die Berliner Jahre", die Kirchners Berliner Stadtszenen den zugleich entstandenen Fehmarn-Bildern gegenüberstellt, sieht FAZ-Kritiker Andreas Beyer das Klischee des kulturpessimistischen Malers, der die Entfremdung des Menschen in apokalyptischen Stadtszenen bebilderte, widerlegt. Bewegung sei das eigentliche Motiv seiner Malerei: "Nicht nur in Gestalt der häufig die Leinwände bevölkernden Kokotten - im damaligen Berlin waren Bordelle verboten und war es den Dirnen nur gestattet, auf der Straße nach Kunden Ausschau zu halten, das allerdings stets sich bewegend, niemals verweilend. Auch die Häufigkeit, mit der Kirchner Lokomotiven und Fahrzeuge, Pferdedroschken oder Autos als Motiv einsetzt, legt nahe, dass diese nicht nur als Ikonen der Moderne fungieren, sondern als Motoren der Bewegung selbst, als suggestive Figurationen der fluktuierenden Wahrnehmung des städtischen Tableau vivant im Wortsinne."

Weiteres: In der taz vermisst Silvia Hallensleben in Nicola Graefs Neo-Rauch-Doku zwar eine kunsthistorische Einordnung, aber: "die Besuche ihrer privaten Gefilde in New York oder Korea geben rare Einblicke in die Inszenierung sozialer Distinktion und die noch immer von Klischees wie von düsterer Romantik oder Diktatur umwehte exotistische internationale Rezeption 'authentisch deutscher' Kunst. In der FAZ bespricht Rose-Marie Gropp den Film.

Besprochen werden die in Zürich ausgestellten Wildtier-Fotografien George Shira, der als Erfinder der Wildtier-Fotofalle gilt (NZZ), Claudia Andujars Werkschau "Morgen darf nicht gestern sein" im MMK in Frankfurt (SZ) und die Wolfsburger-Ausstellung "Between the devil and the deep blue sea", die Fotografien des Südafrikaners Pieter Hugo zeigt (art-magazin).
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Musik

Sehr respektabel findet es Klaus Walter von der Jungle World, wie die Einmann-Band Dirty Projectors von Dave Longstreth sich auf ihrem neuen Album den "color lines" im Pop nähert. "Blue-Eyed Soul" nennt man das für gewöhnlich, wenn Weiße sich mit Musik befassen, die als "schwarz" attributiert wird: "Longstreths Skrupel sind es, die ihn von Blake und Iver unterscheiden, man hört sie in der Körnung und Haltung seiner Stimme. ... Wenn Longstreth das in seine Stimme(n) legt, was landläufig als Soul bezeichnet wird, wenn er sich der Semantik des Soul bedient, dann tut er das im Wissen um die lange, leidvolle Geschichte weißer Adaption und Appropriation schwarzer Musik. Er singt die Anführungszeichen mit (in die hier Wörter wie 'weiße' und 'schwarze' Musik eigentlich gehörten), er singt uneigentlich. Das verbindet ihn - polit-ästhetisch wie sonisch - mit skrupulösen blue-eyed soul boys, wie sie im Großbritannien der frühen Achtziger kurz vor dem Aids Schock auf den Bäumen wuchsen." In einer Hörprobe kann man sich davon selbst ein Bild machen:



Die Klassikszene befindet sich derzeit im Aufwind, meldet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Und auch SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber staunt, wenn er sich in der Programmpalette, die Berlin zu bieten hat, umsieht: "Hier versammelt sich wohl die vielfältigste, an kreativer Energie lebendigste Klassikszene ... Die Klassikmusikszene der kulturell hochgerüsteten Metropole präsentiert sich tatsächlich als Attraktion. "

Weiteres: In der Neuen Musikzeitung bietet Mátyás Kiss einen Überblick über Aufnahmen aus dem Bereich mittelalterlicher Musik. Andreas Hartmann plaudert im Tagesspiegel mit den Sleaford Mods. Im Standard stellt Ronald Pohl den Jazzmusiker Bix Beiderbecke vor, dessen Werk gerade neu aufgelegt wurde.

Besprochen werden Vagabons "Infinite Worlds" (Pitchfork), das neue Album von Candelillas (Jungle World) ein Konzert von John Mayall (Standard), zwei Konzerte von Helge Schneider (SZ), ein Konzert des Zürcher Kammerorchesters mit Christian Tetzlaff unter Sir Roger Norrington (NZZ).
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