Efeu - Die Kulturrundschau

Perlen aus Kommunikationsmüll

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2017. Die SZ staunt über die Intensität der Hetze gegen Chris Dercon. In LensCulture erklärt Olivier Laurent, was große Straßenfotografie ausmacht. Knast oder nicht Knast, Thomas Middelhoff bleibt sich treu, lernt die Welt aus der Autobiografie des einstigen Top-Managers. Auf SRF Kultur freut sich Eugen Gomringer über den Streit um sein Gedicht "Avenidas". Die FAZ begutachtet David Simons  HBO-Serie "The Deuce" über  die Pornoindustrie im New York der Siebziger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2017 finden Sie hier

Kunst


Shibuya. Aus der Serie "Tokyo Streets." © Tatsuo Suzuki. Finalist, LensCulture Street Photography Awards 2016

Der Fotoredakteur Olivier Laurent, der in der Jury des LensCulture Street Photography Awards 2017 sitzt, erklärt im Interview mit LC, warum es völlig unwichtig ist, welche Kamera (oder welches Handy) jemand benutzt - "Photography has always been about the eye" - und was für ihn große Street Photography ausmacht: "It's not just about being there, it's about imagination, it's about seeing the future, and by that I mean being able to anticipate where different elements of a photograph - the street, the signs, the people - will align to make the perfect picture. There are a lot of street photographers out there, but the great ones are poets and, like in any other field of photography, there are just a few of them."

Sehr angeregt kommt FAZ-Autor Freddy Langer von der Biennale der aktuellen Fotografie in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen zurück, die in acht Ausstellungen "Farewell Photography" sagt und das Medium zugleich feiert. Besonders am Herzen liegt ihm ein Projekt des Bildersammlers Joachim Schmid, der nur mit fremden Bildern arbeitet: "Jetzt legt er in der Mannheimer Ausstellung 'Kein Bild ist eine Insel' mit 'Other People's Pictures' eine sechsundneunzigbändige Bildenzyklopädie vor, lauter Fotobände zu jeweils einem Hashtag-Stichwort bei Instagram - von 'Airline Meals' über 'Hotel Room' bis 'You are here'. Die Bücher liegen in einer Reihe auf einem schier unendlichen langen Regalbrett. Statt auf die Unübersichtlichkeit der täglichen Bilderflut mit weiteren Bildern zu reagieren, wird der Künstler gewissermaßen zum Filter."


Würden Sie diesem Roboter Ihren Körper anvertrauen? Samantha, behauptet ihr Erfinder, teilt sogar Ihren Orgasmus. Foto: Josep Pau Vila / Ars Electronica

Anne-Catherine Simon besucht für die Presse die Ars Electronica in Linz und landet prompt "in der Anthropomorphismus-Falle. Allerorten in den riesigen Räumlichkeiten der Linzer Postcity lauert sie, für die Künstler wie die Besucher. Lachhaft lassen wir uns von Äußerlichkeiten manipulieren: Kaum ähnelt ein Roboterteil einem Kopf, einem Arm, empfinden wir schon ferne Verwandtschaft, projizieren unser Inneres hinein, vergeben Namen, nennen den Roboter 'neugierig' oder 'verspielt'. Überall suchen wir uns selbst, beziehungsweise, was fast dasselbe sein kann: Beziehung. Vertrautheit." Im Standard rümpft Helmut Ploebst die Nase: Roboter, findet er, machen die Künstler eher infantil.

In der taz fragt sich Tal Sterngast, was genau es bedeutet, dass vier Reproduktionen von Gerhard Richters "Birkenau"-Zyklus jetzt im Deutschen Bundestag hängen - ein Zyklus, der vier Fotos zur Grundlage hat, die Auschwitz-Häftlinge aufgenommen hatten und die Richter übermalt hat : "Die Bilder legen eine Aneignung der Perspektive der Ermordeten nahe und konvertieren sie in ein Genre, das in gewissem Grad dekorativen Charakter hat, dessen sich Richter wohl bewusst ist. Wenn die adäquate Reaktion auf die Frage der Darstellbarkeit tatsächlich in der Auslöschung und Negation des Bilds besteht, warum werden so viele Bücher und Texte darüber veröffentlicht? Warum werden dem 'Birkenau'-Zyklus Reproduktionen der vier Fotos zur Seite gestellt? Der Titel 'Birkenau' funktioniert wie ein Etikett, das bereits die Prozedur des Entzifferns aktiviert. Jedes andere verwischte Bild hätte dieselbe Funktion erfüllt."

Weitere Artikel: In der NZZ feiert Philipp Meier den Schweizer Künstler Not Vital, dem gerade eine Überblicksschau im Bündner Kunstmuseum in Chur gewidmet ist. Christian Saehrendt untersucht die Psyche von Kunstsammlern. Und Gabriele Detterer versucht der Masse ihrer Künstlerbücher Herr zu werden. Besprochen wird die große Schau des Schweizer Künstlers Ferdinand Hodler in der Bundeskunsthalle Bonn (Art)
Archiv: Kunst

Literatur

Mit Thomas Middelhoffs in Haft entstandenem Memoir "A115 - Der Sturz" bietet sich die Möglichkeit, die Erinnerungen eines Menschen abzugleichen mit deren Reflexion in der Literatur, schreibt Richard Kämmerlings in der Welt. So sei die Titelfigur in Rainald Goetz' "Johann Holtrop" offenkundig an den ehemaligen Bertelsmann-Manager angelehnt. Middelhoffs Buch lese sich zwar "stellenweise wie eine gute Reportage" über den Knastalltag, dem der Autor einige erhebliche Defizite bescheinigt. Doch "liest man die Tiraden des 'Tempomachers' Johann Holtrop gegen die öden Konzernbilanzen und Berechnungen, den 'Knast der Biederkeit' (sic), erkennt man einen alten Konflikt wieder. In der von Goetz literarisch gestalteten Bertelsmann-Zeit war Middelhoff/Holtrop der rastlose Visionär, der das biedere Familienunternehmen zum digitalen Weltkonzern (mit Börsennotierung) machen wollte. Wenn man es böse formulieren will: Die Utopien und Träume Middelhoffs haben sich nicht geändert, nur ihr Objekt. Mangels Unternehmen richten sie sich eben auf Haftanstalten. Die Vision: der komplett vernetzte High-Tech-Bau."

Im Gespräch auf SRF Kultur wendet sich der Dichter Eugen Gomringer entschieden gegen eine Entfernung seines Gedichts "Avenidas" von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, was einige der Studierenden wegen des angeblich sexistischen Charakters der Zeilen fordern. Das Gedicht solle bleiben, wo es ist ist, sagt dessen Urheber. Es sei schließlich "eines der bedeutendsten Gedichte der modernen Lyrik. Diese Tatsache kann man nicht einfach zur Seite schieben oder kaputtreden - das hat keinen Sinn." Die Debatte um das Gedicht hält er aber für wichtig, da sein "Gedicht auch ein klassisches konkretes Gedicht ist. Die konkrete Poesie ist sehr wertvoll in diesen Tagen, wo man den Wörtern nicht mehr richtig glaubt."

Weitere Artikel: Im Logbuch Suhrkamp sucht Clemens J. Setz verzweifelt nach der Bedeutung des Geisterwortes Pansilenz, das er nur einmal gesehen hat: in Otto F. Bests Handbuch für literarische Fachbegriffe. Im SWR2 spricht Carsten Otte mit Robert Menasse unter anderem über dessen neuen Roman "Die Hauptstadt". Detlef Kuhlbrodt (taz) und Marie-Sophie Adeoso (FR) berichten von Arundhati Roys Lesungen in Berlin, bzw. Frankfurt. Für die Literarische Welt hat Holger Kreitling die Kinoübertragung von John Le Carrés Londoner Lesung aus seinem neuen George-Smiley-Roman besucht. Im taz-Gespräch mit Katharina Granzin bekräftigt der US-Schriftsteller Viet Thanh Nguyen seine bereits in zahlreichen Interviews geäußerte Position, mit seinem Pulitzer-Roman "Der Sympathisant" der US-Perspektive auf den Vietnamkrieg eine dezidiert vietnamesische gegenüberzustellen. Im literarischen Wochenendessay der FAZ berichtet Kinderbuchautor Paul Maar von seiner ersten Lektüre von Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf", die erst jetzt, im Alter von 80 Jahren, erfolgte.

Besprochen werden Salman Rushdies "Golden House" (taz, Welt), Ingo Schulzes "Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst" (Welt, FR, SZ), Édouard Louis' "Im Herzen der Gewalt" (Welt), Zaza Burchuladzes "Touristenfrühstück" (Tagesspiegel), Linda Boström Knausgårds "Willkommen in Amerika" (taz) und Sasha Marianna Sakzmanns "Außer sich" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

In der SZ staunt Till Briegleb über die Intensität der "Hetze gegen Chris Dercon", den neuen Intendanten der Berliner Volksbühne. Ihn erinnert das an den Aufstand in München, als Dieter Dorns Intendanz an den Kammerspielen endete und mit Frank Baumbauer ein Neuer antrat. "Wie Dercon in Berlin untersagten beleidigte Hausherren auch Frank Baumbauer in München lange, das Gebäude zu betreten, um erste Gespräche mit den Mitarbeitern zu führen. Gravierender aber war die verbale Herabsetzung des hoch erfolgreichen Intendanten als 'Un-Künstler'. Sie fand ihren beschämenden Tiefpunkt in einem Pamphlet von Peter Sloterdjik. Der Philosoph raunte den Untergang der Hochkultur herbei, die er im Vertragsende seines Freundes Dieter zu erkennen meinte, er bezeichnete Baumbauer unter anderem als Vertreter der 'low culture', als 'leistungsbereites Mittelmaß'."

In Düsseldorf sammelt eine Bürgerinititative mit der Kampagne "Schauspielhaus2020" Spenden für das marode Schauspielhaus. Nachtkritiker Andreas Wilink findet das Engagement natürlich löblich, die Kampagne selbst aber eher zweifelhaft: "Ist es nicht die Belohnung einer politischen Pflichtvergessenheit und nachträgliche Rechtfertigung der kommunalen Vernachlässigung? Der Bürger zahlt, wenn's hoch kommt, zweimal - zunächst mit seinen Steuerabgaben, die offenbar für alles Mögliche (und gewiss auch Nötige), aber jedenfalls nicht oder nicht ausreichend für die Instandhaltung des Schauspielhauses aufgewendet wurden; und jetzt eben freiwillig aus der Privatschatulle."

Weitere Artikel: In einem langen Interview mit der taz erklärt der achtzigjährige Kabarettist Werner Schneyder, warum er jetzt wirklich aufhören will.

Besprochen werden "Hunger", der dritte Teil von Luk Percevals Zola-Zyklus "Trilogie meiner Familie" bei der Ruhrtriennale (nachtkritik) und die Adaption des Films "Shakespeare in Love " an den Kammerspielen der Josefstadt (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Mit "The Wire" hat Reporter und Autor David Simon Fernsehgeschichte geschrieben. Jetzt widmet er sich in der neuen, mit James Franco und Maggie Gyllenhaal prominent besetzten HBO-Serie "The Deuce" der Entstehung der Pornoindustrie im New York der Siebziger. FAZ-Kritikerin Ursula Scheer hat bereits einen Blick wagen können und berichtet sehr begeistert vom authentisch schmuddeligen Flair der Serie und den kantigen Figuren. Doch vor allem lobt sie Simons "Fähigkeit, das Sexbusiness als System zu zeichnen. Jede einzelne Figur mit ihrem individuellen Schicksal wird wie an unsichtbaren Fäden von Größerem geleitet: der Macht des Geldes vor allem - hier herrscht Kapitalismus in Reinstkultur -, aber auch gesellschaftliche Strömungen wie der Anti-Vietnam-Stimmung, Rassenkonflikten und der Frauenemanzipation. Am Ende siegt immer das Kapital." Der Trailer ist jedenfalls schon mal schön stylish:



Christiane Peitz zieht im Tagesspiegel erste Bilanz des Filmfestivals von Venedig: Sie hat "selten so viel Genrekino auf der Mostra gesehen", denn im Wettbewerb bot sich "eine konsequent unreine Mischung aus Autorenfilmen, Komödien, Gesellschaftssatiren, einem Horrorstreifen, einem Musical, Gerichtsdramen und Western-Variationen. Kein schlechtes Zeichen, wenn Kunst und Unterhaltung Hand in Hand gehen."


Man kann natürlich auch die Männerkörper bewundern. Szene aus Abdellatif Kechiches "Mektoub, My Love" in Venedig

Am Ende des Filmfestivals zeigte sich mit Abdellatif Kechiches "Mektoub, My Love" nochmal das europäische Autorenkino. Wobei Kechiche in seiner drei Stunden dauernden nostalgischen Erinnerung ans Liebestreiben in der Jugend vor allem Details der Körper junger Frauen zeigt. "Große Schaulust" attestiert Tim Caspar Boehme in der taz. Wobei "die Frauen darin keine bloßen Objekte für die sehr maskulin auftretenden Männer sind, sie sind sich durchaus selbst genug, auch in sexueller Hinsicht." Daniel Kothenschulte von der FR erinnert daran, dass zu Brüsten und Hintern in aller Regel auch ein Kopf gehört, den Kechiche jedoch gerne mal unterschlägt." Kechiche, der schon für "Blau ist die wärmste Farbe" des Sexismus geziehen wurde, bleibt sich treu, schreibt Michael Pekler im Standard: Und zwar insofern "als er auch in 'Mektoub' formal brillant dramaturgische Blöcke aneinanderreiht - aber auch damit, dass er sich mit seinem voyeuristischen Blick auf die Frauenkörper angreifbar macht."

Weitere Artikel: Für die Welt plaudert Peter Beddies mit Emir Kusturica, der mit seinem neuen, auf critic.de besprochenen Film "On the Milky Road" nach zehn Jahren wieder auf die Leinwand zurückkehrt. Amin Farzanefar schreibt im Filmdienst über den Stand der Dinge im ägyptischen Kino. Nachdem bei Disney zum nunmehr vierten Mal ein Regisseur eines "Star Wars"-Films rausgewurfen wurde, sorgt sich David Steinitz in der SZ um den Job als solchen: Der entwickle sich "in Richtung eines besseren Filialleiters, der ein bisschen mitorganisieren darf." Dominik Kamalzadeh berichtet im Standard vom Auftakt des Filmfestivals in Toronto. In der SZ gratuliert Philipp Bovermann der Münchner Filmfirma Arri, die Hollywood mit Kameras beliefert, zum hundertjährigem Bestehen. Deutschlandfunk bringt ein Feature von Arlette-Louise Ndakoze über die junge Filmszene in Ruanda.

Besprochen werden der Dokumentarfilm über Christoph Schlingensiefs "Chance 2000 - Abschied von Deutschland" (Freitag) und die Verfilmung von Dave Eggers' Roman "The Cirle" mit Emma Watson und Tom Hanks (Tagesspiegel, unsere Kritik hier).
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Musik

Die Rettung des deutschsprachigen Hip-Hops kommt aus Österreich, verkündet Juliane Liebert in der SZ. Genauer: Aus Wien, wo der Rapper Yung Hurn lebt und wirkt. Der deutschsprachige Rap verdanke dem österreichischen Input "einen speziellen, zugleich billigen und feinsinnigen Witz, der sich einerseits gegen seine Intellektualisierung sperrt und andererseits die vor den Kopf stößt, die glauben, es müsse bei Hip-Hop immer noch und für alle Zeiten vor allem um Glaubwürdigkeit und Echtheit gehen. ... Yung Hurn züchtet Perlen aus Kommunikationsmüll: Hier eine Zeile Schlagerkitsch, dort eine bis aufs Grundgerüst runtergebrochene Rap-Phrase, aufgeschnapptes Partygeschnatter und Wünsche nach Liebe und Sex in klaren, einfachen Worten. Natürlich macht er auch viel Quatsch." Für sein neues Projekt Love Hotel Band hat er Lars Eidinger gewinnen können. Dazu ein brillant scheußliches Video:



Weitere Artikel: Auf ihrem neuen Album "Love What Survives" schlingert das Postdubstep-Duo Mount Kimbie, "angeschlagen vom Leben, aber mit Zuversicht in den Nebel zwischen gestern und morgen", berichtet Philipp Weichenrieder in der taz. Im ZeitMagazin unterhält sich Herlinde Koelbl mit der Geigerin Lisa Batiashvili. Egbert Tholl porträtiert in der SZ Juri de Marco und sein Stegreif.orchester.

Besprochen werden Robert Barrys "The Music of the Future" (taz), Margarete Kreuzers Dokumentarfilm "Revolution of Sound" über Tangerine Dream (FR), Labelles "Univers-île" (Spex), ein Konzert von Paul Weller (Standard), das neue Album von The National (Zeit) und ein Konzert von Joshua Bell und der Academy of St Martin in the Fields (FR).
Archiv: Musik