Efeu - Die Kulturrundschau

Die einsame, dunkle Linie

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11.01.2018. In der Zeit kritisiert Nan Goldin die Museen, die sich von der Pharmafamilie Sackler haben sponsern lassen: Sie hätten Blutgeld von Drogendealern angenommen. Im Freitext-Blog macht Rainer Merkel einen Spaziergang auf der Straße der Verschwörungstheoretiker in Beirut. Die NZZ porträtiert eins der großen Liebespaare der Literaturgeschichte: Albert Camus und Maria Casarès. Die taz porträtiert einen Meister der radikalen Geste: den Filmkomponisten Tony Conrad.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2018 finden Sie hier

Film


Tony Conrad

Mit der Doku "Tony Conrad - Completely in the Present" fokussiert Tyler Hubby auf einen schwer greifbaren Meister der radikalen Geste: Komponist, Filmemacher, Künstler - all dies ist Tony Conrad gewesen. Die materialreiche, filmische Rückschau ist gelungen, urteilt Diedrich Diederichsen in der taz: "Chronologisch entwickelt die Doku (...) die Vielfalt der Interessen und Projekte des studierten Mathematikers und Sohn eines verhinderten Künstlers, deren einziges gemeinsames Merkmal die radikal unabhängige Kritik aller künstlerischen Genres, Gewohnheiten und Institutionen darstellt." Auch "das Überbordende, zuweilen Überfordernde an Conrads Lebenswerk wird triftig und didaktisch zusammengeschnürt, ohne seiner Komplexität allzu viel Gewalt anzutun", wenn auch, wie Diederichsen im weiteren anmerkt, der eine oder andere Aspekt aus Conrads Schaffen ein wenig zu peripher gestreift werde. Auf ZeitOnline betrachtet Christian Meyer-Pröpstl den Film im Zusammenhang mit weiteren Künstlerbiografien, darunter Pappi Corsicatos "Julian Schnabel - Ein privates Porträt", das zeitgleich ins Kino kommt und in der taz besprochen wird.


Selbst, Zeit, Raum, Wahrnehmung: "Your Name" von Makoto Shinkai.

Im Perlentaucher kann sich Lukas Foerster Dietmar Daths und Jens Balzers enthusiastischen Lobeshymnen (mehr dazu hier) auf Makoto Shinkais Animationsfilm "Your Name" zwar nicht ganz anschließen, sehr begeistert war er von dieser Meditation über die Liebe aber doch: "Liebe verändert alles: Selbst, Zeit, Raum, Wahrnehmung. Deshalb ist kaum ein künsterisches Medium zur Darstellung der Liebe besser geeignet als der Animationsfilm, in dem mit einem schnell hingeworfenenen Pinselstrich ganze Weltreiche zusammenkrachen können. In 'Your Name' gibt es eine schöne, selbstreflexive Szene, die diesen Gedanken gleichzeitig illustriert und ad absurdum führt: Bei einer ihrer Traumbegegnungen beschließen die beiden Liebenden, sich gegenseitig ihre Namen auf die Hände zu schreiben, auf dass sie sich auch während des Tages aneinander erinnern. Aber Mitsuha kann Taki nur einen einzigen, dunklen Strich auf die Haut zeichnen, dann wacht sie auf. Die einsame, dunkle Linie ist dann alles, was von der Liebe bleibt, die enthält ein ganzes Universum." Weitere Besprechungen in taz, Tagesspiegel und SZ.

"Wie kann es sein, dass eine Schauspielerin 99 Prozent weniger Gehalt bekommt als ihr männlicher Co-Star", fragt sich David Steinitz in der SZ, nachdem er bei USA Today gelesen hat, dass Mark Wahlberg für seine Nachdrehtage für Ridley Scotts "Alles Geld der Welt" ein stattliches Honorar erhalten hat, wohingegen Michelle Williams mit ein paar lächerlichen Brosamen abgespeist wurde. Die Antwort auf Steinitz' Frage liefert USA Today freilich schon selbst, was Steinitz in seiner Empörung allerdings unterschlägt: Williams habe demnach bereitwillig aufs Honorar verzichtet: "Ich sagte ihnen, egal wo und wann sie mich brauchen, ich stehe zur Verfügung. Sie könnten auch meinen Lohn einbehalten, über meinen Urlaub verfügen, was auch immer sie wollten. Weil ich es sehr schätzte, dass sie diesen enormen Aufwand leisten wollten." Hintergrund: Nachdem der Film ursprünglich mit Kevin Spacey fertig gestellt war, wurden Nachdrehs angesetzt, um Spacey durch Christopher Plummer zu ersetzen.

Außerdem: Ufa-Geschäftsführer Nico Hoffmann blickt angesichts eines sich positiv entwickelnden Serienmarkts gelassen in die Zukunft, erklärt er Wilfried Urbe im taz-Gespräch. Fabian Tietke (taz) und Esther Buss (Freitag) empfehlen das auf US-Independentfilme spezialisierte Festival "Unknown Pleasures" in Berlin. Eliza Hittmans dort gezeigten Film "Beach Rats" bespricht Michael Kienzl im Perlentaucher.

Besprochen werden Woody Allens "Wonder Wheel" (SZ, Standard, mehr dazu im gestrigen Efeu), Jaume Collet-Serras Actionfilm "The Commuter" mit Liam Neeson (Welt), Amat Escalantes "The Untamed" (taz) und die von Arte online gestellte Serie "Ein Engel verschwindet" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Die Reihe der großen Liebespaare in der französischen Kultur muss um Albert Camus und Maria Casarés ergänzt werden, schreibt Franziska Meier in der NZZ, nachdem sie den in Frankreich bei Gallimard erschienen Briefwechsel zwischen den beiden gelesen hat. Vom Verhältnis der beiden wussten zwar alle, auch in den Biografien taucht Casarés auf, doch "mit welcher Leidenschaftlichkeit, wenn nicht Besessenheit sie einander verfallen waren", das werde erst jetzt anhand dieser Briefe deutlich. "Die Liebe war für sie beide Glück und Unglück zugleich. Beim Lesen der Briefe ahnt man, wie sehr dadurch beide in einem durchaus auch positiven Sinne bis an die Grenzen des Möglichen gelangten."

Im Freitext-Blog erzählt der Schriftsteller Rainer Merkel von einem Spaziergang durch Beirut, auf der Straße der Verschwörungstheoretiker. Hier der Anfang: "Was würde Tania wohl zu Jerusalem sagen? Ist das auch Wasis Schuld? Noch vor einem Monat waren wir in Beirut auf dem Weg zum Café Younes und fragten uns: 'Was ist eigentlich mit Wasi, unserem saudi-arabischen Freund?' Wir liefen die Hamra Road entlang, die Straße der Verschwörungstheoretiker. Die Frage tauchte zum ersten Mal auf, als Tony uns von dem neuen Bauprojekt seiner Familie in Hazmieh erzählte, und ob sie vielleicht jetzt statt der vier Stockwerke doch zehn bauen sollten und wie sie das genehmigt bekommen. ... Tania machte unter der Hand die Bemerkung, sie könnten doch Wasi fragen, schließlich sei der in der Baubranche tätig. Der könnte das bestimmt regeln. So wie man eben jetzt denkt, dass Saudi-Arabien alles mögliche 'regelt'. Und Freunde haben sie auch überall, selbst in Israel, wie man so hört. Tania hatte mal wieder ihre zynisch-idealistische Phase."

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Tobias Schwartz über Mary Shelleys Roman "Frankenstein", der vor 200 Jahren erschienen ist. Aljoscha Harmsen berichtet in der NZZ aus dem Maschinenraum des Lektorierens. Deutschlandfunk Kultur bringt ein Feature von Arno Orzesseks über Émile Zola und die Rolle des Intellektuellen in der Öffentlichkeit.

Besprochen werden unter anderem Harro Zimmermanns Essay "Günter Grass und die Deutschen" (FR),  Laura Freudenthalers "Die Königin schweigt" (ZeitOnline), Sorj Chalandons "Mein fremder Vater" (NZZ), Ines Geipels Tochter des Diktators" (Tagesspiegel), Max Bronskis Krimi "Oskar" (Welt), Ludwig Bernays' Neuübersetzung der "Homerischen Hymnen" (NZZ), der von Ingrid Sonntag herausgegebene Band "An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945 - 1991" (Tagesspiegel), Yaa Gyasis "Heimkehren" (FAZ), die Werkausgabe Annette Kolb (SZ) sowie Alexander Kluges und Ferdinand von Schirachs Gesprächsband "Die Herzlichkeit der Vernunft" (Standard).
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Musik

Thomas Schacher porträtiert in der NZZ die Pianistin Khatia Buniatishvili. Christian Schachinger stellt im Standard das Wiener HipHop-Duo Kreiml & Samurai vor. Im Freitag gratuliert Jürgen Ziemer dem sorgfältig kuratierten Indie-Onlineradio Byte.FM zum zehnjährigen Bestehen. Hard Rock und Metal werden indessen schon fünfzig, zumindest wenn man die  Gründung von Led Zeppelin, Black Sabbath und Deep Purple im Jahr 1968 als Bezugspunkt wählt - in der Berliner Zeitung gratuliert Markus Schneider. In der FAZ schreibt Clemens Haustein über Antonio Pappano und dessen Orchestra Santa Cecilia, die auf Deutschlandtournee kommen. Gerhard R. Koch schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Musikwissenschaftler Walther Dürr.

Besprochen werden Sam Knees Buch "Untypical Girls. Styles and Sounds of the Transatlantic Indie Revolution" (Jungle World), Peter Hammills "From the Trees" (Standard) und ein Konzert von Sido und Kool Savas (FR).
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Bühne

Reformen des Betriebs machen noch kein besseres Theater, behauptet Michael Wolf in der nachtkritik. Man nehme nur die oft geforderte Frauenquote. Die meisten Zuschauer hätten keine Ahnung, ob ihr Theaterabend von einem Mann oder einer Frau inszeniert wurde und es sei ihnen auch egal. "Ich selbst bin natürlich trotzdem für die Frauenquote. Ich glaube, dass ich als Zuschauer davon profitieren könnte, wenn männliche Dilettanten nicht mehr talentierten Frauen vorgezogen würden. Ein netter Nebeneffekt, um den es den Aktivistinnen aber sicher nicht geht... Theater soll nicht besser werden im Sinne von zeitgemäßer oder schöner. Es soll besser werden im sozialen und moralischen Sinne. Dagegen habe ich nichts. Die Revolutionäre gegen das böse System mögen aber bitte nicht so tun, als ginge es ihnen um das Publikum oder die Kunst."

Weiteres: In der Zeit porträtiert Christine Lemke-Matwey die Schauspielerin Dagmar Manzel. Besprochen wird die queere Bühnenschau "Pink Mon€y" in der Kaserne Basel (nachtkritik).
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Kunst

Cindy Sherman - Untitled Marilyn, 1982. Sammlung Lothar Schirmer, München © Cindy Sherman, 2017
Ganz schön überwältigt fühlt sich FAZ-Kritikerin Rosemarie Gropp in einer Ausstellung amerikanischer Gegenwartskunst im Burda-Museum in Baden-Baden: Warhol und Jeff Koons, Lichtenstein und Cindy Sherman, alles was gut und teuer ist, wird hier aufgeboten. Damit hätte sich Gropp gern zufrieden gegeben, aber die modischen Einordnungen von Kurator Helmut Friedel und den Autoren des Katalogs gehen ihr auf den Geist: "Ein Katalogbeitrag behauptet, Goldin nehme - als voyeur-friendly exhibitionism - 'den Verzicht auf Privatheit vorweg, wie er in sozialen Netzwerken mittlerweile gängig ist'. Es lässt sich aber der Unterschied zwischen einem Kunstwerk, das ein betrachtungs- und verstehenswilliges Publikum für seine Intimität impliziert und fordert, und der inflationären Selbstausstellung in anonymen Foren nicht einfach unterschlagen. Da liegt vielmehr das kategoriale Unterscheidungsmerkmal."

Zur Drogenepidemie in den USA kann die Fotografin Nan Goldin im Interview mit der Zeit einiges sagen: Sie war selbst von dem Schmerzmittel Oxycontin abhängig und hat gerade eine Initiative gegründet, mit der sie dem Hersteller auf den Pelz rückt. Das ist die Familie Sackler, die ganz nebenbei auch zu den wichtigsten Museumsmäzenen der Welt gehört: "Die Museen haben Blutgeld von Drogendealern angenommen. ... Wir fordern, dass die Sacklers Geld in die Lösung jener Probleme stecken, die sie mit ihren Produkten geschaffen haben. Sie sollen in Suchtzentren, Bildung und Drogenprävention investieren. Warum stiften die Sacklers statt eines Museumsflügels nicht eine große Entzugsklinik mit ihrem Namen über dem Eingang?"

Weiteres: In der NZZ würdigt Annegret Erhard Palermo, wo in diesem Jahr die Manifesta stattfinden soll. Besprochen werden Rayyane Tabets Schau "Fragments/Bruchstücke" im Hamburger Kunstverein (taz), die Ausstellung "Last night's fortune teller", die die Neuerwerbungen chinesischer Kunst der Daimler Collection mit Werken internationaler Künstler aus der Sammlung kombiniert, im Haus Huth in Berlin (Tagesspiegel), die Alice-Neel-Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen (Tagesspiegel) und eine große Modigliani-Ausstellung in der Tate Modern (Standard, FR),
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