Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Menage-à-plusieurs - welche Utopie

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15.01.2018. In der Schweiz werden die guten Wohnlagen mit Seeblick knapp, die NZZ lernt von Herzog & de Meuron, wie man vornehm verdichtet. Alles kann, nichts muss, lernt die SZ beim Puppenliebesspiel mit Marivaux im Münchner Cuvilliétheater. Die Welt stößt zum tragischen Kern der amerikanischen Comedy vor. Der Tagesspiegel trifft Maria Alechina. Und der Standard freut sich, dass in Österreich wieder Vinyl gepresst wird - mit italienischem Granulat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.01.2018 finden Sie hier

Architektur



Verdichtet, aber vornehm: Die Luxus-Reihenvillen von Herzog & de Meuron im Schweizer Castagnola. Foto: Sequoia Consulting.

Auch die Schweiz muss verdichten, in den besten Wohnlagen am See werden schon Luxuswohnblöcke hingestellt, die Roman Hollenstein nur als Crèmeschnitten verachten kann. Gut, meint er, dass sich Herzog & de Meuron des Problems angenommen haben und mit ihren Reihenvillen den Luxus wirklich vornehm machen, indem sie sich an den "Reihenhauspalästen" von John Wood in Bath und John Nash in London orientieren: "Die dort erarbeiteten Ideen von Kreisformen und vertikalen Akzenten übernahmen Herzog & de Meuron ganz intuitiv bei ihrem vor wenigen Wochen in Castagnola vollendeten Baukomplex. Nachdem die Basler Architekten jüngst in New York mit einem 250 Meter hohen, tanzenden Wohnturm an der Leonard Street demonstriert hatten, wie 145 gestapelte Sky-Villen zum architektonischen Spektakel werden können, präsentierten sie nun im Nobelviertel von Lugano eine Art liegendes Hochhaus. Es besteht aus acht aneinandergebauten, drei- bis viergeschossigen Reihenvillen von stolzen 400 bis 1000 Quadratmetern Wohnfläche, die 12 bis 36 Millionen Franken kosten sollen."
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Film

Die meisten zeitgenössischen amerikanischen Comedystars haben ihre Wurzeln in der Impro-Komödie, erklärt Peter Praschl in der Welt, nachdem er Sam Wassons Buch "Improv Nation - How We Made a Great American Art" gelesen hat. Dort stößt er auch auf den düsteren Kern dieser Kunst: "Da ist Stephen Colbert, ein trauriger und zynischer junger Mann, der mit zehn seinen Vater und zwei Brüder durch einen Flugzeugabsturz verloren hat und danach in seiner Kindheit nur eine Mission hatte - seine Mutter zum Lachen zu bringen. Da ist Tina Fey, die ein Trauma mit sich herumschleppt, seit ihr mit fünf ein völlig Fremder vor ihrem Elternhaus mit einem Messer durch ihr Gesicht schnitt. Komischsein als Überlebensstrategie und Traumabewältigung, als Gelegenheit, sich auszuleben, ohne dafür aus dem Verkehr gezogen zu werden"

Außerdem: Das ZeitMagazin lässt Keanu Reeves träumen. Besprochen werden Amat Escalantes mexikanischer Horrorfilm "The Untamed" (Jungle World, FAZ), der von sexuellen Begegnungen zwischen einer jungen Frau und einem Tentakelmonster handelt, und neue Serien (ZeitOnline).
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Bühne


Marivaux' "Der Streit am Münchner Cuvilliétheater. Foto: Thomas Dashuber

"Alles kann, nichts muss": Der Puppenspieler Nikolaus Habjan hat Pierre de Marivaux' alte Fabel "Streit" am Münchner Cuvilliéstheater als "liebestrunkenes Puppenspiel" aufgeführt und Rudolf Neumaier ist in der SZ ganz hingerissen: "Am schönsten wäre es doch, wenn alle mit allen bis zum Orgasmus kuscheln könnten, wenn sich jeder Anflug von Missgunst und Neid im Austausch körperlicher Zärtlichkeiten auflösen könnte. In einer Menage-à-plusieurs - welche Utopie. Er führt nicht nur die Tugend vor, sondern alle, die Treue und Untreue aus seiner Sicht zu ernst nehmen. Inklusive Monsieur Marivaux."

So richtig scheint der Funke von Pussy Riot nicht auf Werner Bloch übergesprungen zu sein. Im Tagesspiegel nennt er die Berliner Bühnenperformance mit Mascha Alechina "Krawall im Kinderzimmer": konkrete Kritik an Politik oder Gesellschaft enthält die 90-minütige dadaistisch- anarchistische Show nicht. 'Ich hege gegenüber Putin keine Gefühle', sagt Alechina, blass, gelangweilt und schlecht gelaunt im Gespräch. 'Der Alte soll einfach nur abtreten.'"

Besprochen werden Roland Schimmelpfennigs Stück "Der Tag, als ich nicht ich mehr war" am Deutschen Theater Berlin ("In anderen Stücken von Schimmelpfennig geht es um mehr", bemerkt Katrin Bettina Müller in der taz, SZ, FAZ), die Wiederaufnahme von Andreas Kriegenburgs "Ring"-Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper (SZ), der Abend "Emergence" des Ballett Zürich (NZZ), Hakan Savaş Micans Inszenierung von Ödon von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" am Berliner Maxim Gorki Theater (Nachtkritik, Tagesspiegel), Robert Brogmans Adaption von Kafkas "Schloss" in Frankfurt (Nachtkritik, FAZ), Hanoch Levins Stück "Das Kind träumt" am Theater Augsburg (Nachtkritik) sowie ein Doppelabend am Staatstheater in Braunschweig, der Kurt Weills "Sieben Todsünden" mit Salvatore Sciarrinos "La porta della legge" kombiniert (FAZ).
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Literatur

ZeitOnline bringt einen Auszug aus Mareike Nieberdings "Ach, Papa". Besprochen werden unter anderem Howard Jacobsons Trump-Satire "Pussy" (FR), Fernando Aramburus "Patria" (Tagesspiegel), Rafik Schamis "Ich wollte nur Geschichten erzählen" (Tagesspiegel), Bernhard Schlinks "Olga" (FR), eine CD-Box mit zahlreichen O-Tönen der gesammelten Familie Mann (FR), eine Ausstellung über A.A. Milnes "Pu der Bär" in der Victoria & Albert in London (NZZ) und Henning Ahrens' Neuübersetzung von John Steinbecks "Logbuch des Lebens" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Wilm über Ror Wolfs "Spaziergänge am Rande des Meeres":

"Es schneit auf mich, es schneit auf meinen Hut,
und auf den Mantel schneit es, kurz und gut:
..."
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Kunst

Besprochen wird die Ausstellung des New Yorker Fotografen Joel Meyerowitz "Why Color?" im Berliner C/O , in der allerdings auch, hüstel, Fotos von Paris zu sehen sind (Welt).
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Stichwörter: Meyerowitz, Joel

Musik

Für die taz plaudert Annika Glunz mit den Jungs von Feine Sahne Fischfilet, den Mecklenburgischen Punks, die vor einigen Jahren als Fast-Noch-Pennälerband vom Lande kurioserweise im Verfassungsschutzbericht auftauchten, heute aber erfolgreich sind und über ihre Freunde von der Behörde immer noch nichts Positives zu berichten haben: Die gehöre "abgeschafft", sagt Sänger Gorkow. "Die hat den NSU mit aufgebaut, und das ist ja nur der eine Komplex. Der Verfassungsschutz steht da in einer Tradition. ... Was diese staatliche Behörde in neonazistische Strukturen reingesteckt hat an Geld, an Zeit, an Aufbauarbeit, an Arbeit, um diese Verbrechen zu vertuschen - diese Behörde ist 'ne Schweinebehörde."

Erstmals seit zwanzig Jahren wird in Österreich wieder Vinyl gepresst. Verantwortlich dafür ist die Firma Austrovinyl, deren Idealismus Karl Fluch vom Standard kurzerhand dazu bewogen hat, von Wien in die Südoststeiermark aufzubrechen, um den Pressern einen Besuch abzustatten. Bis zur eigenen Presse war es ein langer Weg, erfahren wir. Das dafür nötige Know-How musste erst auf weltweiten Reisen zu den letzten verbliebenen Pressen erworben werden. Doch jetzt schnurrt der Betrieb: "25 Sekunden dauert das Pressen einer Platte, ungefähr zehnmal greift Fauster ein Album an, bis es fertig ist." Und "gepresst wird mit italienischem Granulat. Es ist dasselbe, mit dem seit den 1960er-Jahren alle Italo-Hits gepresst wurden. Es stammt von einem Familienbetrieb, keinem Chemiekonzern."

Juliane Liebert porträtiert in der SZ die feministische Rapperin Princess Nokia, "die alles zu hassen scheint, was nicht Person of Color, also Nicht-Weiß, Queer, Trans oder, oder, oder ist. Und sie ist der Meinung, dass man denen auf die Fresse hauen muss, die irgendwas sagen, was ihren Safe Space oder ihre Identität verletzt." Hier ein Video:



Außerdem: Gunnar Leue verabschiedet sich im Freitag von dem in der DDR gegründeten Musikmagazin Melodie & Rhythmus, das seit den Wendejahren zum zweiten Mal vom Markt verschwindet. Auf Pitchfork erinnert Michael A. Gonzales an das 1974 erschienene Album "Winter in America" von Gil Scott-Heron und Brian Jackson.

Besprochen werden das Album "Die Letten werden die Ersten sein" des Ersten Wiener Heimorgelorchesters (unter der hübschen Überschrift "Ihr da Ohm, macht, Watt Ihr Volt" in der FAZ) eine von Erykah Badu kuratierte Vinyl-Box mit Aufnahmen von Fela Kuti (taz), ein Konzert von Kool Savas und Sido (Tagesspiegel, Welt), ein Konzert von Kollegah und Farid Bang (NZZ), und eine dem Komponisten Tony Conrad gewidmete Kino-Dokumentation (SZ, mehr dazu hier).
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