Efeu - Die Kulturrundschau

Den Ausnahmezustand als normal empfinden

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17.01.2018. Die NZZ stellt die Architektur-Avantgarde aus Bangladesch vor. Die taz freut sich über den Clash der Kulturen im Bode-Museum, wo demutsvolle Weiblichkeit und scharfe Androgynität aufeinandertreffen. Ebenfalls in der taz erinnert Howard Jacobson daran, dass Bücher durchaus ihren Zweck erfüllt haben, wenn sie an die Wand geworfen werden. Und epdFilm porträtiert den Schauspieler Gary Oldman, der gerade als Churchill die alte britische Größe evozieren soll.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.01.2018 finden Sie hier

Literatur

Mit seiner satirischen Novelle "Pussy" spießt Schriftsteller Howard Jacobson Donald Trump auf. Zum Lachen sei das Buch allerdings nicht, jedenfalls genauso wenig wie Orwells "Farm der Tiere", erklärt der Schriftsteller im taz-Gespräch mit Doris Akrap. Mit dem Buch war es ihm darum gegangen, "das grundsätzliche Gefühl aufrechtzuerhalten, dass etwas ganz und gar falsch ist. Die Motivation für Satire ist die Angst, eines Tages aufzuwachen und den Ausnahmezustand als normal zu empfinden." Und im übrigen, merkt er noch an, sei im Zuge der glatten Vermarktbarkeit von Büchern auch "eine bestimmte Idee von Literatur völlig verloren gegangen: Dass der Autor will, dass sein Leser sein Buch weglegt, es an die Wand wirft, weil es ihn aufwühlt, aufregt, ärgert."

Besprochen werden unter anderem Madeleine Thiens "Sag nicht, wir hätten gar nichts" (NZZ), Bernhard Schlinks "Olga" (NZZ) Stefan Zweifels Übersetzung von "Das Flimmern des Herzens", der Vorstufe zu Prousts "Recherche" (SZ, mehr dazu hier) und Helmut Kraussers "Geschehnisse während der Weltmeisterschaft" (FAZ).

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Kunst


Maria mit dem Schutzmantel, Michel Erhart, ca. 1480, und Mangaaka, Kongo, Yombe, 19. Jahrhundert, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum. Fotos: Claudia Obrocki / Antje Voigt.

"Schöne, befreiende" Momente erlebt taz-Kritikerin Sophie Jung in der Ausstellung "Unvergleichlich" im Berliner Bode Museum, die afrikanische Werke neben die Ikonen der europäischen Kunstgeschichte stellt: "Der Vergleich mit dem jeweils Anderen setzt einen eigenen Erkenntnisprozess in Gang. Dinge, Themen, ganze Kulturstränge werden durch die Unterschiedlichkeit von Bildern evident: Die demutsvolle Weiblichkeit einer Schutzmantelmadonna aus dem 15. Jahrhundert offenbart sich etwa gerade im Vergleich mit der scharfen Androgynie einer Königinmutter aus dem 16. Jahrhundert." Allerdings hätte sie sich statt "intelligent lavierender Texte" eine echte Auseinandersetzung gewünscht, oder sogar eine Geste der Kulturpolitik, vergleichbar mit Emmanuel Macrons Ankündigung, geraubte Werke zurückzugeben."

Weiteres: Unanfechtbar findet es Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung, dass der Große Kunstpreis Berlin in diesem Jahr an den Bildhauer, Fotografen und Filmemacher Thomas Demand geht. Im Tagesspiegel informiert Bernhard Schulz über den Stand der chaotischen Planungen für das Berliner Museum der Moderne.

Besprochen werden eine Schau der Sammlung Hahnloser im Kunstmuseum Bern (NZZ) und die Ausstellung "Hölzel und sein Kreis" im Freiburger Augustinermuseum (FAZ).
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Architektur


Saif Ul Haque Sthapati baute in Alipur, Keraniganj, die Arcadia School, in der Kinder unterrichtet und Frauen fortgebildet werden. Gebrauchte Stahlfässer halten die Bambuskonstruktion in der Regenzeit über Wasser

Antje Stahl besichtigt eine Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum über Baukunst in Bangladesch, wo eine junge Generation mit Rückgriff auf den Bengali Modernism und erstklassiger Hands-on-Mentalität auf Klimawandel, Landflucht und Verdichtung antwortet: "Eine Architekturbewegung gibt es in Bangladesh zwar nicht, jedenfalls nicht, wenn man Gebäude in eine Stilschublade stecken möchte. Gleichzeitig vereint die Architekten aber ein Grundbaustein jeder ernstzunehmenden Avantgarde: der politische Gestaltungswille. Anders nur als die Großväter (und viele Zeitgenossen) aus Europa sind sie keinem Innovationseifer verfallen, stellen Technologie nicht über Tradition - Glas, Stahl und Beton nicht über Bambus, Lehm und Backstein."
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Film


Winston Churchill, dargestellt von einer Menge Latex und Gary Oldman. (Bild: Universal)

Für epdFilm porträtiert Birgit Roschy den Schauspieler Gary Oldman, der gerade in Joe Wrights Churchill-Biopic "Die dunkelste Stunde" zu sehen ist. Darin findet dessen "Wandlung vom Unruhestifter zum stabilisierenden Element und Ordnungshüter nun ihre Apotheose", schreibt sie. Das Ziel des Films, der vor allem um die Schlacht von Dünkirchen im Zweiten Weltkrieg kreist, sei es, Churchills "überlebensgroßer Figur zunächst einmal Menschlichkeit und Schrulligkeit zurückzugeben", erklärt Tobias Kniebe in der SZ. Drehbuchautor Anthony McCarten habe diesbezüglich "gute Arbeit geleistet, und Joe Wright verfilmt dieses Script ganz schnörkellos." Oldman verwandle "sich mit Leib und Seele und vielen Schichten Latex-Make-up in ein Riesenbaby." Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh hat sich mit dem Schauspieler getroffen.

Außerdem: Elmar Krekeler porträtiert in der Welt die Schauspielerin Silke Bodenbender. Besprochen werden François Ozons "Der andere Liebhaber" (FAZ), die neue Schweiger/Schweighöfer-Komödie "Hot Dog" (Welt) und der Horrorfilm "It comes At Night" (ZeitOnline).
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Musik

Sehr angetan berichtet Ueli Bernays in der NZZ von seiner musikalischen Begegnung mit dem Saxofon-Trio Fly, das er am vergangenen Montag live gesehen hat. "Die Strenge der Formen und das asketische Spiel , das keine Zufälligkeit erlaubt, lässt an moderne Avantgarden denken. Doch bei Fly werden die konzeptionellen Härten durch das zarte, akkurate Zusammenspiel weichgezeichnet. ...  Statt der Chemie der Expressionen pflegt Fly die Physik der Konstellation. In diesem Sinne werden die Möglichkeiten der Band durchdekliniert: In den sich abwechselnden Trio-, Duo- oder Solopassagen graviert die Musik immer wieder um neue Klänge. Und jede hierarchische Ordnung löst sich auf in der kaleidoskopischen Kombinatorik." Hier eine Live-Aufnahme:



Eine hübsche Unerheblichkeit ist die transkontinental agierende Band Superorganism, die sich gerade zwischen Airbnb-Jetset und Internet ihren Ruhm erspielt, schreibt Christian Schachinger im Standard. Geboten werde "ein nettes, faul-verhatschtes, mit bewusst ungenau geschnittenen Breaks und Tingeltangel-Sounds produziertes Stück Popmusik, zu dem man gut kiffen, Pardon, chillen kann. Und: Es fällt daheim niemandem ungut auf. In einer Welt, in der der junge Mensch ausbildungstechnisch und skillsmäßig immer noch mehr gefordert ist, ist es ein entscheidendes Qualitätskriterium und kleines Alleinstellungsmerkmal, wenn es in der Freizeit nicht dauernd Rambazamba spielt. ... Physische Tonträger liegen bisher nicht vor. Warum auch?" Youtube-Videos reichen ja auch völlig aus:



Außerdem: Für die SZ porträtiert Harald Eggebrecht den Geiger Augustin Hadelich. Ljubiša Tošić spricht im Standard mit Peter Paul Kainrath, der ab 2020 das Klangforum Wien leiten wird. In der SZ-Popkolumne befasst sich Jens-Christian Rabe mit Neuerscheinungen abseits der großen Namen, darunter Alben der Tune-Yards und der Porches. Deutschlandfunk Kultur wiederholt Ulrich Bassenges und Philip Stegers' Feature "Sirius FM" über Blütezeiten und Grabenkämpfe in der elektronischen Avantgarde-Musik. Hans Ackermann wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Neue-Musik-Festivals Ultraschall, das heute in Berlin beginnt.

Nachrufe auf die Cranberries-Sängerin Dolores O'Rioran schreiben Florian Werner (ZeitOnline), Jan Wiele (FAZ), Felix Zwinzscher (Welt), Johanna Bruckner (SZ) und Jan Paersch (taz). Zum Tod von Ed Hawkins schreibt Harry Nutt (FR).

Besprochen wird ein Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie (FR).
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Bühne

Besprochen werden das Verteilungsstück "Regime der Auster" des Yzma-Theaterkollektivs im Wiener Theater Drachengasse (Standard), Marivaux' "Streit" als Puppenspiel von Nikolaus Habjan am Münchener Cuvilliés-Theater (FAZ), Friedrich Kuhlaus "Lulu" an Kopenhagens Oper (FAZ) und Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" am Berliner Gorki-Theater (SZ).
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Stichwörter: Kopenhagen, Lulu, Habjan, Nikolaus