Efeu - Die Kulturrundschau

Kipppunkte der Systemstabilität

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2018. Der Standard gerät beim Donaufestival ins Grübeln. Wie kann man heute noch modern sein, wenn Aufbrüche quasi seriell geworden sind. Dezeen und der Observer porträtieren Eyal Weizmans Forschungsgruppe "Forensic Architecture", die für den Turner Preis vorgeschlagen wurde. Die taz schwärmt für Janelle Monáe. Die nachtkritik hat ein Ohr für die chronisch unterfinanzierte Off-Theaterszene. Der Tagesspiegel freut sich über die Entdeckung einer neuen Schriftstellergeneration Nigerias beim African Book Festival in Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2018 finden Sie hier

Kunst


John Gerrard, Western Flag, Video. Thomas Dane Gallery, London und Simon Preston Gallery, New York

Was kann heute eigentlich noch modern sein, wenn das Zeitalter der Moderne längst vorbei ist und "die Aufbrüche so seriell geworden sind wie die Küsse im 'Heaven' der Talking Heads", fragt sich Thomas Kramar in der Presse anlässlich des diesjährigen Donaufestivals, das Intendant Thomas Edlinger unter das Motto "Endlose Gegenwart" gestellt hat. "Und dann doch wieder ein Ende: Die 'Perpetuierung der Gegenwart', so Edlinger in seinem Geleitwort zum Festival, sei womöglich schon 'die Katastrophe, die uns Kipppunkte der Systemstabilität - etwa im Hinblick auf Finanzmärkte oder Klimaveränderungen - überschreiten lässt'. Paradox: Heute, im - angeblichen - Stillstand, im Gleichgewicht fürchten wir das plötzliche Kippen, das Ungleichgewicht. In Zeiten, die als bewegter, gerichteter, fortschrittlicher empfunden wurden, fürchteten viele das Gleichgewicht, auch das thermodynamische. Wer erinnert sich noch an den Wärmetod? Die Vision vom Weltende durch perfektes Gleichgewicht, in dem sich nichts mehr regen kann? In den Sechzigerjahren war sie in den Köpfen, auch als Metapher fürs Seelenleben."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Kathrin Klette den Nachruf auf den iranischen Magnum-Fotografen Abbas. Yadegar Asisis Pergamonprojekt kommt zurück nach Berlin, meldet Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel.

Besprochen wird die Delacroix-Ausstellung im Louvre (FAZ-Kritik online nachgereicht)

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Architektur



Eyal Weizmans Forschungsgruppe "Forensic Architecture" (mehr hier) wurde für den Turner Preis vorgeschlagen, meldet Antje Stahl in der NZZ. Rowan Moore hat der Gruppe, die den Zusammenhang zwischen Architektur und Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen untersucht, kürzlich im Observer ein Porträt gewidmet. Auch bei Dezeen findet man einen längeren Artikel von Jessica Mairs, die das neueste Projekt der Gruppe vorstellt: "The group, based at Goldsmiths university in London, is working to quash allegations that non-governmental organisations assisted smugglers ferrying refugees to Europe in boats.'The burden of search and rescue operations has fallen quite heavily on NGOs and yet some of those NGOs have been accused for assisting smugglers,' said Christina Varvia, an architect and researcher at Forensic Architecture. The project is one of many cases the team is working on. Others include a neo-nazi murder, ethnic cleansing of the Yazidi people by ISIS in Iraq and a video reconstruction of the fatal Grenfell Tower fire in London." Alle anderen Künstler auf der Shortlist des Turner Preises listet Adrian Searle kurz im Guardian auf.

Weiteres: Aldo Keel schreibt in der NZZ zum zehnjährigen Geburtstag von Snøhettas Oper in Oslo, die zum neuen Wahrzeichen der Stadt wurde.
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Bühne

Die nachtkritik weist in gleich zwei Artikeln auf die begrenzten finanziellen Mittel hin, mit denen Theater auskommen muss. Teure Hochglanzprojekte stehen "chronisch unterfinanzierten" Off-Szene-Projekten gegenüber, wie Katrin Ullmann am Beispiel der freien Szene Hamburg und ihrer bestgeförderten Künstlerin Antje Pfundner zeigt: "Im März 2017 legte sie im Wirtschaftsmagazin brand eins ihre Finanzen offen: 'Ich arbeite seit 2001 als freie Künstlerin und entwickle meine eigenen Tanzstücke, seit 2012 produziere ich meine Arbeiten mit einem Team. Ich habe Preisgelder bekommen, kriege Fördergeld und verdiene pro Jahr trotzdem nur rund 25.000 Euro vor Steuern. Verglichen mit anderen geht es mir noch gut. Ausbeutung? ... Ohne öffentliche Förderung hast du eigentlich keine Chance. Nur kannst du dich auf Förderung nicht verlassen, und dieser Druck droht dich auszubrennen. Nicht wenige geben ihre künstlerische Selbstständigkeit deshalb auch auf.'"

Weitere Artikel: Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Heidenblut, ein Ansprechpartner der Initiative "40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten", fasst "die Finanzierung des komplexen Gesamtbetriebs" im Gespräch mit nachtkritikerin Sophie Diesselhorst als das Kernproblem des Theaters. Darum plädiert er dafür, dass künftig ein Teil der Pflichtausgaben der Kommunen in die kultuelle Bildung fließen müsste. Die SZ hat Thomas Ostermeiers Geburtstagsartikel für Sepp Bierbichler online nachgereicht.
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Literatur

Beim African Book Festival in Berlin, das von afrikanischer Seite veranstaltet wird und jedes Jahr eine andere Region des Kontinents in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, lässt sich die neue Schriftstellergeneration Nigerias entdecken, freut sich Giacomo Maihofer im Tagesspiegel: Diese "gräbt mit einer anderen Werkzeugkiste in der fragmentierten Erinnerungslandschaft des Kontinents und seiner Diaspora, bringt neue Erzählungen hervor, anders überliefert." Chris Abanis Romane zum Beispiel "sind tief in den Konflikten Nigerias verwurzelt, trotzdem auch popkulturelle Streiflichter seines Lebens in den USA. Sie beziehen sich genauso auf den Gründervater der modernen afrikanischen Literatur, Chinua Achebe, wie auf Rilke oder die Beat-Poeten. Rasante, tragikomische Geschichten, für die der Nigerianer als neue Stimme seines Landes gefeiert wird. Und hier? Ist es fünfzehn Jahre her, dass mit 'GraceLand' ein Roman von ihm übersetzt wurde."

Weitere Artikel: Im Freitext-Blog auf ZeitOnline bringt die Schriftstellerin Katja Oskamp neue Anekdoten von ihrem Fußpflegejob in Marzahn. In der NZZ erinnert Hans Magnus Enzensberger an den Erfinder des Wortes Feminismus, den längst vergessenen François Charles Marie Fourier. Jana Jakoubek schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Comicautors Hariton Pushwagner.

Besprochen werden ein Band mit Vorlesungen Toni Morrisons (NZZ), Martin Walsers "Gar alles" (Standard), Mathieu Sapins Comic "Gérard" über seine fünf Jahre an der Seite von Gérard Depardieu (Berliner Zeitung), Frank Schätzings Thriller "Die Tyrannei des Schmetterlings" (Welt) und Khaled Khalifas "Der Tod ist ein mühseliges Geschäft" (SZ).

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Film

Im Tagesspiegel fordert Drehbuchautor Uwe Wilhelm die hiesige Filmbranche in Form der Deutschen Filmakademie dazu auf, Konsequenzen aus #MeToo und der Causa Wedel zu ziehen: Zwar wurde eine überbetriebliche Beschwerdestelle eingerichtet, an die sich Opfer sexueller Übergriffe wenden können. Doch eine wirkliche Diskussion über Macht und Machtgefälle fand nicht statt: "Wenn Ihr (...) Euch nicht mit dem immanenten Sexismus der Branche beschäftigt, wird die Beschwerdestelle zu einer dauerhaften Einrichtung werden. Sie wird es vor allem werden, weil ihr euch nicht traut, den Blick nach innen zu richten und diejenigen, die über informelle Macht verfügen, zu fragen, wie sie es mit MeToo halten."

Weitere Artikel: Für die FAZ hat Axel Weisemann die Dreharbeiten zur Sky-Serie "Der Pass" besucht.

Besprochen werden Lynne Ramsays "A Beautiful Day" (FR, Standard, unsere Kritik hier), Semih Kaplanoğlus Endzeitparabel "Grain - Weizen" (Tagesspiegel), Markus Imhoofs Flüchtlings-Dokumentarfilm "Eldorado" (Tagesspiegel, SZ), David Freynes beim "Crossing Europe"-Festival in Linz gezeigter Zombiefilm "The Cured" (Standard) und ein neues Marvel-Superhelden-Erzeugnis (Welt).
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Musik

Auf ihrem neuen Album "Dirty Computer" greift Janelle Monáe "nach der Krone des Pop", schwärmt Steffen Greiner in der taz: Sogar Beach Boy Brian Wilson konnte sie dazu verpflichten, sein Kehlchen für ein Hintergrundträllern beizusteuern. Der blütenweiße Greiner gerät darüber absolut aus dem Häuschen: "Janelle Monáe ist schwarz, sie ist black, blackity-black, eine New Nigerati. In diesen ersten Klängen von 'Dirty Computer' findet zweifellos eine Neuverortung statt, von Generationen, Geschlechtern und Hautfarben, und es lässt sich nicht ignorieren: Janelle Monáe besitzt jetzt den großen Brian Wilson. Janelle Monáe dominiert, verweist auf Plätze, zieht selbstbewusst und zärtlich Register. Und Brian Wilson ist ein alter weißer Mann, der im Hintergrund schön singt. Da hat das Album noch gar nicht richtig begonnen." Auch Pinky Rose ist in der wöchentlichen Popkolumne auf ZeitOnline begeistert: "Monáe, die selbst aus einfachen Verhältnissen kommt, reinszeniert auf 'Dirty Computer' den amerikanischen Traum." Hier eine Playlist mit aktuellen Videos:



Schön und gut, dass der Echo seine Konsequenzen aus dem diesjährigen Fiasko gezogen hat, meint Tomasz Kurianowicz auf ZeitOnline. Doch das eigentliche gesellschaftliche Problem ist damit noch lange nicht gelöst: der massenhafte Zuspruch, den Gangsta-Rap selbst dann noch erfährt, wenn er das antisemitische Geschäft betreibt. "Mit Verboten oder medialer Verdammung ist dem Problem nicht beizukommen. Der Rap formiert sich auf den Straßen. Er wird auf Schulhöfen und in Parks gehört, jenseits des Einflussbereichs des bürgerlichen Feuilletons, der Bundesprüfstelle oder einer neu zu gründenden Musikpreis-Jury. Die Gesellschaft muss sich nun fragen, wie sie jene jungen Rezipienten überhaupt erreicht, die auf Gewalt, Drohgebärden und antisemitische Texte mit Schulterzucken oder Begeisterung antworten."

Weitere Artikel: In der taz hat Elias Kreuzmar auf dem neuen Album des Unknown Mortal Orchestras das Prinzip der Band erkannt: "Eben noch 'Major League' und Kommentar zur Lage der Welt, dann schon wieder die Toilettenkabine im Club." Mehr zu dem Album auch bei Pitchfork. Der Musiker Drangsal hat "die besten Konzerte mit Grippe und Fieber gespielt", gesteht er gegenüber Linus Volkmann im Freitag. Torsten Wahl schreibt in der Berliner Zeitung zum Tod Holger Bieges. In der FR gratuliert Frank Junghänel Klaus Voormann, der um ein Haar Bassist bei den Beatles geworden wäre, zum 80. Geburtstag und damit "dem einzigen deutschen Künstler, der die Gründungsgeschichte der Popmusik stilprägend mitgeschrieben hat." Für die SZ hat sich Martin Pfnuer zum Gespräch mit Voormann getroffen. Felix Zwinzscher gratuliert Countrymusiker Willie Nelson in der Welt zum 85. Geburtstag.

Besprochen wird das Comeback-Album "The Sciences" der Stoner-Rock-Legende Sleep, "eine Ode an Lautstärke und Gras", erfahren wir von Pitchfork. Da hören wir gerne rein:

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