Efeu - Die Kulturrundschau

Und dann ein gewisser Ästhetizismus

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2018. Die Feuilletons verarbeiten den Schock, den Christian Kracht mit seinem Bekenntnis ausgelöst hat, sexuell missbraucht worden zu sein. Oder ist das Literatur, fragt die FAZ verstört. Die Neue Musikzeitung unterzieht die Akustik der Elbphilharmonie einer erneuten Probe. Zeit online hält den Kopf hin für den Wiener Hutmachermeister Shmuel Shapira. Und Cannes rockt mit Filmen von Spike Lee, Alice Rohrwacher und Hirokazu Kore-Eda.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2018 finden Sie hier

Literatur

Mit großer Bestürzung reagieren die Feuilletons auf den ersten Teil von Christian Krachts Poetikvorlesung in Frankfurt. Der Schriftsteller, der sich zu Werk und seiner Person stets sehr bedeckt hielt, offenbarte hier erstmals, in seiner frühen Jugend in einem kanadischen Internat von einem Priester sexuell missbraucht worden zu sein: Lange Zeit war sich Kracht nicht im Klaren darüber, ob er sich die Erlebnisse nur in seiner kindlichen Fantasie ausgedacht hatte - bis Aufdeckungen im Zuge von #MeToo ihm Gewissheit bescherten.

Anne Backhaus hat für SpiegelOnline zahlreiche Zitate aus Krachts Vortrag mitgeschrieben und berichtet im weiteren davon, dass Kracht sich zum ersten Mal auch selbst eingehend zu seinem literarischen Werk geäußert hat, das er künftig im Lichte seiner aktuellen Darlegungen als Verklausulierung seiner Erfahrungen verstanden wissen will: "Ich habe lange darüber nachgedacht, was Pastor Keith Gleed angetrieben haben mag, Kinder, die ihm schutzbefohlen waren, zu missbrauchen", zitiert sie Kracht. "'Es war wohl einerseits die Freude an der Ausübung von purer, unverfälschter Macht, sicher auch eine Obsession mit Ausformung der menschlichen Erniedrigung, und dann ein gewisser Ästhetizismus, bei dem das Sexuelle nicht unbedingt im Vordergrund stand. Eigenschaften und Empfindungen, so scheint es mir jetzt, die viele meiner Figuren teilen mögen." Auch Christoph Schröder (ZeitOnline) und Beate Tröger (Freitag) berichten von dem Frankfurter Abend.

Für SZ-Kritiker Felix Stephan ist mit dieser Offenlegung der seit den Popliteratur-Debatten der Neunziger sich immer wieder neu entfachende Streit um Christian Krachts Habitus des ironischen Dandys und sein literarisches Pathos, das ihm unter anderem Faschismus-Vorwürfe eingehandelt hat, entschieden: "Ein Spiel ist es nie gewesen. Der Christian Kracht, der dort am Pult stand, hat noch nie einen ironischen Satz geschrieben. Es ging immer um alles, um den Menschen, den Humanismus. Jeder Roman, jede Erzählung war, so sieht es nach dieser großen Rede aus, einer einzigen Frage gewidmet: Der Frage, wie eine Kultur, die so viel Schönes hervorgebracht hat, gleichzeitig so grausam sein kann."

Auch FAZ-Kritiker Jan Wiele ist schockiert - und dann verunsichert: Krachts Vortrag hatte selbst literarischen Charakter und die rückblickende Einschätzung eines Schriftstellers seines Werks sei nur ein Kommentar von vielen: "Prekär wird Krachts Vortrag durch die beschriebene Nähe zu seinen literarischen Texten: Er arbeitet mit einer Ästhetik der Überrumpelung, die er in einer Art Metakommentar aus der Faszination für die amerikanische Popkultur herleitet. ... Wird der Schriftsteller uns bei den noch ausstehenden zwei Vorlesungen einen neuen Rahmen setzen, der die erste in anderem Licht erscheinen lässt? An Rätseln mangelt es jetzt schon nicht."

Weitere Artikel: Die NZZ dokumentiert Peter Stamms Dankesrede zur Verleihung des Solothurner Literaturpreises. Für die SZ hat Nicolas Freund ein kurzes Gespräch mit Emily Nemens, der neuen Leiterin der Paris Review, geführt. Claudius Seidl schreibt in der FAZ einen Nachruf auf Tom Wolfe (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden neue Romane von Joyce Carol Oates und Naomi Alderman (Perlentaucher), Karl Ove Knausgårds "Im Frühling" (FAZ) und Madame Nielsons "Der endlose Sommer" (SZ).
Archiv: Literatur

Musik

In der Neuen Musikzeitung kommt Verena Fischer-Zernin nochmal in aller Ausführlichkeit auf die Akustik der Elbphilharmonie in Hamburg zu sprechen - entschieden ist der seit der Eröffnung im vergangenen Jahr schwelende Streit darum offenbar noch lange nicht. Ein anderer Aspekt ärgert sie und offenbar auch weite Teile des alteingesessenen Publikums in der Hansestadt allerdings weit mehr: unruhige Besucher. "'Die Elbphilharmonie ist eine Eventbude', sagt die Musikerin eines Spitzenensembles, sie fühle sich missbraucht. Es fragt sich, welche Rolle die optische Gestaltung des Großen Saals für die grassierende Rücksichtslosigkeit spielt. Anders als eine Schuhschachtel zentriert die Weinbergsform den Blick nicht, sie streut ihn. Obendrein ist nicht nur das Holz des Bühnenbodens cremefarben, auch das Licht bleibt vergleichsweise hell. Wer will, kann den Abend damit zubringen, die gegenüberliegenden Ränge zu beobachten, statt zuzuhören."

Weitere Artikel: Die Schostakowitsch-Tage in Gohrisch haben sich zu einem echten "Kleinod" entwickelt, schwärmt Christian Schmidt im Tagesspiegel. Stephanie Grimm stellt in der taz die Musikerin Courtney Barnett vor. Sabine Lovatelli fördert die brasilianische Klassikszene, schreibt Philipp Lichterbeck im Tagesspiegel. Für die taz plaudert Du Pham mit dem britischen Punk-Urgestein The Damned, das mal wieder eine neue Platte rausbringt. Jürgen Kesting spricht in der FAZ mit Intendantin Cecilia Bartoli über die Salzburger Pfingstfestspiele. In der NZZ bespricht Felix Michael Edicson Ruiz' Interpretation einer Komposition für den Kontrabass von Heinz Holliger. Franziska Buhre porträtiert in der taz die queere "Bounce"-Sängerin Big Freedia aus New Orleans, deren Markenzeichen das exzessive Arschwackeln ist - wer dies aus dem Publikum am besten kann, bekomme von ihr sogar die Miete bezahlt, erfahren wir. Hier ein aktuelles Video:

Archiv: Musik

Design

Im Freitext-Blog porträtiert Manfred Rebhandl den Wiener Hutmachermeister Shmuel Shapira, von dem er sich einen maßgeschneiderten Hut anfertigen lässt: "Skeptisch, aber mit Kenneraugen, prüft er nun meinen Kopf: 'Rechts ist er breiter, und die Stirn…sehr interessant.' Mit dieser Kopfform, versichert er mir, würde ich jedenfalls keinen Hut von der Stange finden, und schon gar keinen, der mir passt. Dieses Schicksal teile ich allerdings mit 70 Prozent aller Männer auf dieser Welt. ... und zum Stichwort Ausstrahlung: 'Ich habe mal jemanden kennen gelernt, der hat im Büro gearbeitet und man hat ihn missachtet. Missachtet! Warum? Er trug den falschen Hut!' Sobald er den richtigen Hut trug (der nicht von ihm war), wurde er ganz anders behandelt. 'Ich habe das selbst gesehen! Mit einem Hut, der zu dir passt, bist du ein anderer Mensch.'"

Besprochen werden eine Wiener Ausstellung im MAK zu 300 Jahren Wiener Porzellanmanufaktur (Presse) und Berliner Ausstellungen zum Werk Mies van der Rohes vor: die Ausstellung "Von Haus zu Haus - Ludwig Mies van der Rohe im Kunstgewerbemuseum" sowie die Doppelausstellung "Mies - Sitzen und Liegen" und Thomas Ruff, "La Rêverie" im Mies-van-der-Rohe-Haus in Oberschönhausen (Tagesspiegel).
Archiv: Design

Bühne

NZZ-Kritiker Bernd Noack weiß im Theater manchmal nicht mehr, ob er auf die Bühne oder das Handy seines Vormanns gucken soll. Cecilia Bartoli plaudert im Interview mit der FAZ über die Salzburger Pfingstfestspiele, die sich in diesem Jahr Gioachino Rossini widmen. Zum 100. Geburtstag der Opernsängerin Birgit Nilsson schreiben Irene Batzinger in der Berliner Zeitung und Manuel Brug in der Welt, in der NZZ erinnert Björn Woll an Birgit Nilsson und Astrid Varnay.

Besprochen wird Dominik Lochers "Realtime-Genderpolitik"-Abend "Hate" in der Roten Fabrik in Zürich (NZZ).
Archiv: Bühne

Film



Zum Ende des Festivals holt Cannes nochmal die richtigen Knaller raus, freut sich Daniel Kothenschulte in der FR: Spike Lee mit "BlacKkKlansman" in Hochform (im Perlentaucher staunt Lutz Meier, "wie geradezu staatstragend" Lee auf seine alten Tage geworden ist) sowie Alice Rohrwachers "Happy as Lazzaro" und Hirokazu Kore-Edas "Shoplifters" als klare Palmen-Favoriten lassen den Kritiker im Kinohimmel schweben, aus dem ihn allerdings Lars von Trier mit "The House that Jack Build" jäh in die Höllengrube reißt: Den Serienkillerfilm des dänischen Auteurs hält er für "eine höchst ungeschickte Umschreibung des Allgemeinplatzes, dass Kunst und Vernichtung aus derselben Küche kämen". Von Trier treibt es bis "zur äußersten Geschmacksverirrung. Dann schneidet er Bilder von Leichenbergen aus einem Konzentrationslager in das Kunstgefasel, und der Mörder zitiert sinngemäß, was von Trier in Cannes sagte: 'Ich glaube, Himmel und Hölle sind das gleiche. Die Seele gehört in den Himmel und der Leib in die Hölle. Die Seele besitzt Vernunft und der Körper all das Gefährliche, wie zum Beispiel die Kunst und die Ikonen...'"

Buddy-Komödie als Rassismus-Satire: Spike Lees "BlacKkKlansman" (Bild: Verleih)

Eher umgekehrt lautet Andreas Busches Einschätzung im Tagesspiegel: Spike Lees Satire-Holzhammer, der die siebziger mit dem heutigen US-Rassismus kurzschließt, komme etwas zu salopp daher: "Vielleicht ist der jetzige Zeitpunkt einfach zu sensibel für satirischen Furor" und die "Buddy-Komödie" nicht das richtige Vehikel für Lees Ansinnen. Und von Triers Holzhammer? "Im Gegensatz zu Spike Lees zweifellos rechtschaffener Moral ist die krude Moral von Triers wenigstens ein guter Witz." Tazler Tim Caspar Boehme hat von Triers Kunstblut-Exzess indessen sehr gelangweilt. Auch Wenke Husmann winkt auf ZeitOnline ab: Der Film ist "gescheitert. Und das noch nicht mal grandios."

Keine gute Idee? Szene aus "Solo: A Star Wars Story" (Bild: Disney)

Ach, und Ron Howards "Solo", der neue "Star Wars"-Spinoff, lief unter bombastischem Glamour-Aufwand ebenfalls an der Croisette. Schnelles Round-Up zu dem Film, der sich der Jugend Maienblüte der ursprünglich von Harrison Ford gespielten Figur des Han Solo widmet: "Richtig schlechte Idee" (Hannah Pilarczyk, SpiegelOnline), "die Action ist spektakulär" (Wenke Husmann, ZeitOnline), "selbstsicheres Spektakelkino" (Dominik Kamalzadeh, Standard) und Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche fand Aldan Ehrenreich in der Titelrolle "ausgesprochen gut." In einer Nebenrolle ist Donald Glover als junger Lando Calrissian zu sehen - als Schauspieler kennt man Glover aus Comedy-Serien, als Musiker sorgt er gerade unter der Bezeichnung Childish Gambino für Kontroversen: Im Standard porträtiert ihn Karl Fluch.

Weitere Artikel: Das Berliner Kino Arsenal zeigt Filme des italienischen Regisseurs Pietro Germi, schreibt Fabian Tietke in der taz. Der Tagesspiegel meldet, dass Christoph Terhechte seinen Posten als Leiter des Berlinale-Forums kurzfristig und überraschend zum Juli niederlegt.

Besprochen werden die Ausstellung "Abfallprodukte der Liebe", mit der die Berliner Akademie der Künste die Künstlerfreundschaft von Werner Schroeter, Elfi Mikesch und Rosa von Praunheim würdigt (taz, Tagesspiegel), Lukas Feigelfelds Kunst-Horrorfilm "Hagazussa" (FAZ), Todd Haynes' Gehörlosen-Drama "Wonderstruck" (NZZ), Roman Polanskis Thriller "Nach einer wahren Geschichte" (Tagesspiegel, FR), Tom Volfs Dokumentarfilm "Maria by Callas: In Her Own Words" (taz), Hans Blocks und Moritz Riesewiecks Dokumentarfilm "The Cleaners" über die Arbeiterkolonnen, die die Sozialen Medien inhaltlich sauber halten (Tagesspiegel), Alice Agneskirchners Essayfilm über die Jagd (NZZ), die Superheldenkomödie "Deadpool 2" (Tagesspiegel) und die auf Romanen von J.K. Rowling basierende Serie "Strike" (FAZ).
Archiv: Film