Efeu - Die Kulturrundschau

Ariadnehaft durch die Kontinente

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13.07.2018. Im Freitext-Blog ruft Dagmar Leupold zum Widerstand gegen die Verrohung der Sprache auf. Die FAZ freut sich für Frankfurt über den Erwerb der Faust-Skizzen Robert Schumanns. Die Filmgeschichte ist ein Testament der Regellosigkeit, erkennt Regisseur Christoph Hochhäusler im Interview mit der Gazette. Der Tagesspiegel besucht zwei Berliner Schauen zum Polaroid.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2018 finden Sie hier

Literatur

Im Freitext-Blog fordert Dagmar Leupold zum Widerstand auf gegen die Verrohung der Sprache im Streit um die Flüchtlingspolitik. "Es verschlägt einem schier die Sprache angesichts des Zynismus und der Hartherzigkeit, die darin liegen, den eigenen Geburtsvorteil - in einem friedlichen, prosperierenden Staat, der weder von Kriegen noch von Hungersnöten oder Epidemien gebeutelt wird - für einen erworbenen Verdienst zu halten. So werden die in Bayern verordneten Kreuze unter der Hand zu Verdienstkreuzen. Aber gerade weil es einem die Sprache verschlägt, muss man das Kunststück vollbringen, in derselben, der eigenen, der ramponierten Sprache eine andere zu (er-)finden, zu schärfen, auf ihr zu beharren, sie einzuschmuggeln in die geölten Räderwerke der Hetzparolenindustrie. Dieses Kunststück ist nicht den Sprachkünstlern vorbehalten, jeder Mensch, der nicht in Gefolgschaften verharrt, ist dazu zu Widerworten aufgerufen."

In der Lyrik-Kolumne des Perlentaucher schreibt Marie Luise Knott über die Gedichte von W.H. Auden, dessen Gedichtzyklus "Thanksgiving, for a Habitat" - "ein wahres Juwel" - jetzt in einer Neuübersetzung von Uljana Wolf vorliegt. In all seinen Versen "findet sich das Versprechen, dass die Sprache ihr Eigenreich schafft. ...  Die zwölf Gedichte folgen je verschiedenen lyrischen Formen, mitunter wechselt der Ton mitten im Gedicht oder im P.S.. Acht der (bis zu vier Seiten langen) Teilgedichte widmen sich je einem der Zimmer: Toilette, Bad, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Arbeitszimmer, Speicher und Keller. Je länger man liest, desto deutlicher zeigt sich: Auden verwandelt den Zyklus in ein Habitat, in dem sich ganz intime, dem Ort spezifische Beobachtungen mit kulturgeschichtlichen Betrachtungen und Reflexionen über die condition humaine mischen."

Weitere Artikel: Norbert Hummelt schreibt im Tagesspiegel über Stefan George, der gestern vor 150 Jahren geboren wurde. Im Dlf Kultur hat Hummelt den Dichter mit einem großen Feature gewürdigt.

Besprochen werden Rachel Cusks "Kudos" (NZZ, Zeit), Brigitte Reimanns Briefe "Post vom schwarzen Schaf" (Berliner Zeitung), neue Veröffentlichungen von Giorgio Scerbanenco (SZ) und Clemens J. Setz' "BOT - Gespräch ohne Autor" (Tagesspiegel),
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Film

Liv Ullmann im Gespräch mit Margarethe von Trotta


Morgen wäre Ingmar Bergman hundert Jahre alt geworden - Margarethe von Trottas Dokumentarfilm "Auf der Suche nach Ingmar Bergman" hält FR-Kritiker Daniel Kothenschulte allerdings für missraten. Lieber wäre es ihm gewesen, Jane Magnussons ebenfalls in Cannes gezeigtes und "minutiös recherchiertes" Porträt "Bergman - A Year in a Life" wäre in die Kinos gekommen - zumal man darin deutlich mehr erfährt über die problematischen Seiten des schwedischen Auteurs. Bei Trottas Film hingegen wundert sich Kothenschulte, etwa wenn dort die Serie "Dallas" zum Einfluss für "Szenen einer Ehe" erklärt wird: "Die US-Serie trat ihren Siegeszug erst fünf Jahre nach Bergmans Sechsteiler von 1973 an." Und "immer wieder fällt von Trotta ihren Gesprächspartnern ins Wort, meist um ihnen freundlich recht zu geben oder zu ergänzen, was das alles mit ihrem eigenen Werk und Leben zu tun haben könnte." In der SZ schreibt Fritz Göttler über hundert Jahre Bergman.

In der Berliner Gazette spricht Filmemacher Christoph Hochhäusler über zwanzig Jahre Revolver, die es die Filmzeitschrift, die er gemeinsam mit anderen Filmschaffenden herausgibt, inzwischen nun schon gibt. Das wichtigste für ihn war dabei "die Erkenntnis, dass alles erlaubt ist. Dass die Filmgeschichte ein Testament der Regellosigkeit ist. Und dass das 'Sowirdsgemacht' der Branche eine Art Pfeifen im Walde ist. ... Ich finde Revolver eigentlich erstaunlich pragmatisch. Es geht darum, zu verstehen, wie Filmemacher zu bestimmten Entscheidungen kommen, um ein Nachdenken auf handwerklicher Ebene."

Weitere Artikel: In der NZZ porträtiert Urs Bühler den Zürcher Regisseur Hans-Ulrich Schlumpf. Jonas Engelmann schreibt in der Jungle World zum Tod Claude Lanzmanns. Andreas Busche (Tagesspiegel) und Andreas Kilb (FAZ) gratulieren dem Filmemacher Michael Verhoeven zum achtzigsten Geburtstag. Für Dlf Kultur hat Klaus Pokatzky ein ausführliches Gespräch mit Verhoeven geführt.

Besprochen werden Michele Cinques Dokumentarfilm "Iuventa" über Jugendliche, die Flüchtlinge aus Seenot retten (FAZ), Wim Wenders' Polaroid-Ausstellung im C/O Berlin (Tagesspiegel), Lisa Immordino Vreelands Dokumentarfilm "Love, Cecil" über den Fotografen und Grafiker Cecil Beaton (Tagesspiegel), Samuel Maoz' "Foxtrot" (Tagesspiegel, taz) und Julia Langhofs Jugenddrama "Lomo" (Tagesspiegel).
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Bühne

Besprochen werden Salvatore Sciarrinos Oper "Ti vedo, ti sento, mi perdo in Attesta di Stradella" in der Inszenierung von Jürgen Flimm an der Berliner Staatsoper (nmz), die Uraufführung von Toshio Hosokawas und Marcel Beyers Oper "Erdbeben. Träume" an der Oper Stuttgart (FR) und Aufführungen beim Festival von Aix-en-Provence (FAZ, SZ).
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Kunst

Eva Walisch plaudert für den Standard mit Olaf Nicolai, dessen Schau "There Is No Place Before Arrival" über ganz Wien verteilt ist. Kerstin Stremmel erinnert sich beim Besuch der Manifesta in Palermo für die NZZ an die Caravaggio-Affäre.

Eating the City, Song Dong, Architekturgalerie Aedes
Besprochen werden eine Ausstellung des Künstlers Song Dong, der in der Architekturgalerie Aedes die chinesische Megacity Shenzen mit Keksen nachgebaut hat (Tagesspiegel), zwei Schauen im Berliner Amerika-Haus, die um Polaroids kreisen: "Sofort Bilder" von Wim Wenders und "Das Polaroid Projekt" mit rund 250 Polaroids, unter anderen von Nobuyoshi Araki, Anna und Bernhard Blume, Richard Hamilton oder Robert Rauschenberg, die im Rahmen eines "Artist Support Program" ab den 60ern entstanden (Tagesspiegel), neue Arbeiten von Doug Aitkens in der Zürcher Galerie Eva Presenhuber (NZZ), die Ausstellung "Geschichtsbilder" des Comic-Zeichners Simon Schwartz im Erfurter Angermuseum (Tagesspiegel), eine Ausstellung der Radierungen des in Aiserbaidschan geborenen Künstlers Ebrahim Ehrari in der Galerie Berlin-Baku (Tagesspiegel), die "Hello World"-Ausstellung der Berliner Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof ("Kein roter Faden führt ihn ariadnehaft durch die Kontinente, es gibt keine Brücke von afrikanischer zu indonesischer Kunst", stöhnt Stefan Trinks in der FAZ), eine Ausstellung der Bildergeschichten von Ole Könnecke im Hamburger Kinderbuchhaus (FAZ), die Ausstellung "Like Life. Sculpture, Color, and the Body (1300 - Now)" im Metropolitan Museum of Art in New York (SZ) und eine Ausstellung zum Werk des japanischen Architekten Junya Ishigami in der Pariser Fondation Cartier (FAZ).
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Musik

Dass sich das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt Robert Schumanns Faust-Skizzen sichern konnte, "ist in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall und ein Ereignis", jubelt Sandra Kegel in der FAZ. "Wie wichtig sie für die Forschung sind, lässt sich schon daran erkennen, dass hier ein musikalischer Schaffensprozess wie kaum je minutiös nachzuvollziehen ist: wie Schumann da an manchen Stellen die ursprüngliche Tonart ändert, andernorts Instrumente vorgibt, dann wieder ganze Takt-Reihen durchstreicht und die Partitur mit Anmerkungen und Zahlen versieht, deren Bezug sich auf den brüchigen Seiten nicht auf den ersten Blick entschlüsseln lassen."

Weitere Artikel: Egbert Tholl porträtiert in der SZ die Sängerin Sarah Maria Sun. Franziska Kreuzpaintner unterhält sich für die Spex mit dem britischen Singer/Songwriter Daniel Blumberg. Für den Tagesspiegel plaudert Katja Schwemmers mit Florence Welch von Florence + The Machine. Und Gerhard Gnauck berichtet in der FAZ von den Sängerfesten in Litauen und Lettland.

Besprochen werden Stephan Nomura Schibles Porträtfilm "Coda" über den japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto (taz), Kamasi Washingtons Mini-Album "The Choice" (Pitchfork), das neue Album "Lamp Lit Prose" der Dirty Projectors, deren Mastermind David Longstreth sich darauf wieder als wohlauf präsentiert (taz, Spex), die neue EP der Nine Inch Nails (SZ), Jorja Smiths Debütalbum "Lost & Found" (FR), ein Helene-Fischer-Konzert (Standard), Aubrey Powells Buch "Vinyl Album Cover Art" über die legendäre Gestaltungsagentur Hipgnosis (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Power" von Lotic, "eine Machtdemonstration zwischen Polyrhythmik, Abrissbirnen-Drums, neu entdecktem Gesangstalent und scheinbaren Durchatmepassagen", wie Daniel Gerhardt auf ZeitOnline verspricht.

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