Efeu - Die Kulturrundschau

Die Unmittelbarkeit ihres Rauschens

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07.09.2018. Eva Menasse eröffnet das Internationale Literaturfestival Berlin mit einem Rundumschlag gegen den digitalen Zeitgeist. FAZ und SZ wagen leisen Widerspruch. Die taz würdigt die Minimal-Music-Komponistin Catherine Christer Hennix. Zeit online hört Anna Calvis gesungenen Wunsch nach abwechslungsreichem Geschlechtsverkehr. Die Filmkritiker streiten sich über Jennifer Kents Vergewaltigungsdrama "The Nightingale" in Venedig. Die FAZ möchte nicht mehr nackte Männer in der Kunst sehen, sondern mehr Malerinnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.09.2018 finden Sie hier

Literatur

Mit einem kulturpessimistischen Rundumschlag hat die Schriftstellerin Eva Menasse das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet: In ihrer Rede geißelte sie nicht nur den digitalen Zeitgeist und erklärte im Zuge das Internet verantwortlich für die Krise der Demokratie, sondern sie schimpfte auch auf die "pseudokritische Inquisition" der "politischen Korrektheit" (Dlfkultur bringt Auszüge zum Nachhören und Nachlesen). Mit diesem Gesamtpaket traf sie "bei einem mehrheitlich weißhaarigen Publikum (...) voll ins Schwarze", wie Jan Jekal in der taz berichtet. Menasses Behauptung, Nabokovs "Lolita" hätte heute keine Chance auf Veröffentlichung, hält Jekal jedoch für "wenig überzeugend" auf einem Festival, "auf dem ein neuer Roman vorgestellt wird, in dem eine Minderjährige etwas mit Erwachsenen anfängt." Gerrit Bartels zitiert im Tagesspiegel ausführlich aus Menasses Rede, hält alles darin für "gut und richtig", erwähnt einen "seltsamen inhaltlichen Bruch" immerhin am Rande und freut sich schlussendlich über den großen Zuspruch im Saal.

In der FAZ macht Andreas Kilb Vorbehalte geltend: Schließlich hat das Netz "auch den Widerstand gegen die Unterdrückung mobilisiert, den Aufstand der Machtlosen, die Netzwerke der Nothilfe. Krieg und Völkermord finden immer noch in der realen, nicht der digitalen Welt statt. ... Ihre Rede aktualisiert einen Verfallstopos, der die industrielle Moderne seit ihren Anfängen begleitet, ihre Entwicklung aber niemals aufgehalten hat. Interessant ist, dass dieser Topos inzwischen die Mitte der Literatur erreicht hat, den Erfahrungsraum einer Generation, die wie Eva Menasse mit den Segnungen der Nachkriegszeit aufwuchs und mit dem Ende des Sozialismus erwachsen wurde." In der SZ erinnert Lothar Müller daran, dass es sich ja keineswegs so verhält, dass man beim Twitter-Login automatisch seine Mitmenschlichkeit abgibt: "Es gibt auf Twitter auch den radikalen Republikanismus und heitere Entspannungsagenten wie Saša Stanišić, einen extrovertierten Kollegen von Eva Menasse, der, kaum hat der sächsische Ministerpräsident gesagt, es habe in Chemnitz keinen Mob gegeben, den Tweet absetzt: 'Es gibt keinen Ministerpräsidenten Kretschmer.'"

Weitere Artikel: Die US-Kritik überschlägt sich gerade, weil mit Nick Drnasos "Sabrina" erstmals ein Comic für den Man Booker Prize nominiert ist, was Alex Rühle in der SZ allerdings höchstens insofern in Wallung bringt, da eine solche Würdigung der Form im Grunde schon seit Jahren überfällig ist: Mögliche Kandidaten in der Vergangenheit wären etwa Alison Bechdels "Fun Home", Shaun Tans "Ein neues Land" oder Chris Wares "Jimmy Corrigan - Der klügste Junge der Welt" gewesen. Für die FR spricht Sacha Verna mit Jennifer Egan über deren Roman "Manhattan Beach". Für die NZZ hat Tobias Sedlmaier die Schweizer Autorin Michèle Minelli besucht. Im BR-Nachtstudio befasst sich Andreas Trojan eine Stunde lang mit Paul Valéry. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Literaturwissenschaftler Friedmar Apel zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Jonas Jonassons "Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten" (Tagesspiegel), Winnie M. Lis "Nein" (NZZ), Massimo Listris Prachtband über "Die schönsten Bibliotheken der Welt" (Standard) und Nino Haratischwilis "Die Katze und der General" (SZ).
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Kunst

Agnolo Bronzino, St. Sebastian, c.1533. © Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid
Die Royal Academy in London hat beschlossen, eine Ausstellung über die "Die Nackten in der Renaissance" paritätisch mit männlichen und weiblichen Nackten zu bestücken. Man will so dem Vorwurf entgehen, Frauen würden in der Kunst unfair sexualisiert. FAZ-Kritiker Niklas Maak fasst sich an den Kopf: Noch nie den David gesehen? Der eigentliche Skandal liegt doch wohl darin, dass so viele Maler gezeigt werden und so wenig Malerinnen, meint er. Die gab es nämlich allen Schutzbehauptungen der Academy zum Trotz sehr wohl: "Wie Griselda Pollock und Rozsika Parker in ihrem Buch 'Old Mistresses: Women, Art and Ideology' schon 1981 darlegten, gab es immer Malerinnen, die auch Anhänger und Unterstützer hatten, darunter Mary Beale, eine zu Lebzeiten sehr erfolgreiche, hochbegabte englische Porträtmalerin, die Aufträge von Charles II. erhielt und erst später aus der Kunstgeschichte entfernt wurde; vor kurzem kaufte die Tate eines ihrer Gemälde an. Gerade in der Renaissance gab es viele Künstlerinnen; erst später wurde ihnen die Aktmalerei verboten. ... Das Problem ist nicht der Mangel an Werken von Künstlerinnen; das Problem ist ihre Marginalisierung durch eine größtenteils männliche Künstlerschaft und Kritikerschar".

Polly Apfelbaum, The Potential of Women, 2017. Courtesy die Künstlerin und Alexander Gray Associates, New York
Weiteres: Presse-Kritikerin Almuth Spiegler setzt sich im Wiener Belvedere 21 hin und meditiert über eine riesige Teppichinstallation der Künstlerin Polly Apfelbaum, für den Standard tut das Anne Katrin Fessler. Thomas Kramar berichtet in der Presse von der Ars Electronica in Linz. Im Freitag widmet sich Marlen Hobrack der Stickkunst auf Instagram.

Besprochen werden die Fotoausstellung "That One Moment" in der IG Halle Rapperswil (NZZ), die Balthus-Ausstellung in der Fondation Beyeler (Tagesspiegel), die Ausstellung "Programmierte Kunst" mit frühen Computergrafiken in der Bremer Kunsthalle (taz), eine Nolde-Ausstellung im  Lübecker Museums Behnhaus Drägerhaus (taz) und eine Ausstellung des französischen Video- und Installationskünstler Neïl Beloufa in der Frankfurter Schirn Kunsthalle (FAZ).
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Bühne

Kerstin Holm hat für die FAZ eine umjubelte deutsch-ukrainische Produktion von Mozarts "Don Giovanni" in der ostukrainischen Stadt Sewerodonezk besucht: Mit fantastischen Sängern, Zuschauern auf der Bühne und nach Sewerodonezk versetzter Handlung. "Der gewissenlose Verführer kommt erstaunlich gut weg in Sewerodonezk, das als Stadt der unterdrückten weiblichen Sehnsüchte geschildert wird. Verkörpert wird er von dem litauischen Bariton Janis Apeinis, dessen virile Stimme und gebieterisch sinnliches Agieren der Damenwelt ungekannte Gefühlsdimensionen eröffnen. An diesem unabhängigen Mann von international geschultem Geschmack zerbrechen die patriarchalischen Tabus wie Streichhölzer."

Weiteres: Die Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi stellt in der nachtkritik drei schwarze Theatermacherinnen vor: Simone Dede Ayivi, Anta Helena Recke und Olivia Wenzel. Besprochen wird außerdem Dušan David Pařízeks Dramatisierung von David Grossmans Romans "Kommt ein Pferd in die Bar" in bei den Salzburger Festspielen (nachtkritik).
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Musik

Steffen Greiner freut sich in der taz über die voranschreitende Wiederentdeckung der Minimal-Music-Komponistin Catherine Christer Hennix, die mit der Zusammenstellung "Selected Early Keyboard Works" nach einer Würdigung auf der Berliner MaerzMusik im letzten Jahr nun auch in eine Vinylveröffentlichung gegipfelt ist. Ihre Töne, ihre spezifische Art der Instrumentenstimmung "schleusen sich an der Reflexion vorbei ins Empfinden", schreibt Greiner. "Die Unmittelbarkeit ihres Rauschens, die in den vier langen Stücken der Compilation erklingt, ist eine, die erarbeitet werden muss. Hennix' Musik verlangt, die Schönheit der Struktur von Nichtstruktur erfahren zu wollen." Besonders angetan hat es ihm das Stück "Electric Harpsichord":



Jens Balzer bekundet in der Popkolumne von ZeitOnline große Freude an Anna Calvis neuem Album "Hunter", das sich durch "erfreulich bedrohliche nichtbinäre Brunftbekundungen" auszeichnet. Die Platte "beschenkt uns mit kräftigem Krach und flottem Feedbackgefiepe ebenso wie - in dem sagenhaften Swimming Pool - mit dramatisch schillerndem Technicolorpop. Zu kräftig aus der Gitarre herausgekraulten Soli fordert Calvi die Männer auf, die weibliche Seite in sich zu entdecken - sie selbst versteht sich hingegen als Alphawesen, das über den Niederungen des Geschlechterdualismus thront." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Im SZ-Gespräch plaudert Blixa Bargeld darüber, inwiefern sich seine Einstürzenden Neubauten mit "Greatest Hits"-Konzerten wie in der Münchner Philharmonie am kommenden Samstag musealisieren oder nicht ("Ah ja, "). In der NZZ porträtiert Marianne Zelger-Vogt die Sängerin Elisabeth Kulmann. Frederik Hanssen wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm der kommenden Saison der Berliner Symphoniker. Die Puhdys streiten sich intern um Urheberrechtsfragen, berichtet Birgit Walter in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Yves Tumors Album "Safe in the Hands of Love" (Pitchfork), neue Alterswerke von Paul McCartney und Paul Simon (NZZ), Eric Friedlers Kino-Doku "It Must Schwing!" über die Geschichte von Blue Note Records (Tagesspiegel) und das neue Album von Spiritualized (Standard). Daraus ein Video:

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Architektur

Der Palazzo delle Poste e Telegrafi in Sabaudia von Angiolo Mazzoni. Foto: Sabaudia.net
Sabine Gruber war als Kind begeistert von der faschistischen Architektur Italiens, lernte dann, dass das verpönt ist, verfiel dem Baustil aber erneut in der faschistischen Retortenstadt Sabaudia, erzählt sie in der NZZ. "Meine Faszination war wegen des historischen Hintergrundwissens deutlich gebremst, aber als ich durch die Stadt streunend vor dem ehemaligen Post- und Telegrafenamt von Angiolo Mazzoni zum Stehen kam, konnte ich meine Begeisterung nicht mehr verhehlen. Ich war überzeugt, dass dies keine faschistische Architektur war, sondern italienische Moderne. Da verwendete einer verschiedene Materialien, verkleidete die Fassade mit kleinen, rechteckigen, hellblauen Fliesen, gestaltete die Fensterrahmen aus rotem Siena-Stein, hatte feine Gitter gegen Fliegen eingebaut und zwischen den Gittern und dem Glas einen breiten Sims für Pflanzen eingeplant. Eine Außentreppe verführte dazu, von oben auf die Stadt und die umliegenden Grünzonen, die Steineichenbestände und Pinienalleen, zu blicken und die frische Luft einzuatmen, die vom Meer herüberwehte."

Weitere Artikel: In der SZ-Reihe "Zukunft der Stadt" kritisiert die Architektin Anna Rose die schleichende Privatisierung des öffentlichen Raumes, und der britische Dozent Les Watson fordert mehr Kooperation von Schulen, Bibliotheken und Universitäten.
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Film

Szene aus Jennifer Kents "The Nightingale"
Mit Jennifer Kents Vergewaltigungsdrama "The Nightingale" ist in Venedig jetzt der einzige Wettbewerbsfilm einer Frau gelaufen. SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh ist reichlich unbeeindruckt: "Ein mittelprächtiger Film, viel zu lang, voller großer Momente, aber manchmal einfach das, was man 'torture porn' nennt. Ist schon in Ordnung, wenn eine Frau einen solchen Film macht. So wie ja auch Kathryn Bigelow Filme macht, bei denen man nicht darauf käme, dass sie von einer Frau sind." Sehr ärgerlich findet es ein auch nicht gerade hingerissener Andreas Busche im Tagesspiegel, dass Regisseurinnen, wenn ihre Filme schon in Festival-Wettbewerben laufen, unter ganz besonderem Rechtfertigungsdruck stehen, vom dem ihre männlichen Kollegen verschont bleiben. "Als einzige Regisseurin ist sie mit 'The Nightingale' unfair exponiert. Seltsame Paradoxie: Während Giorgos Lanthimos mit 'The Favourite' das tollste Frauen-Ensemble im Wettbewerb hat, muss Kent trotz weiblicher Protagonistin einen klassischen 'Männerfilm' zeigen." Beatrice Behn widerspricht auf kino-zeit.de: "The Nightingale" ist "ein durchweg klug inszenierter und gleichsam spannender Film", die Regisseurin legt "den Finger ganz genau in die pulsierenden Wunden der Zeit."

Außerdem widmet sich Andreas Busche den dokumentarischen Formen: Balsam für die cinephile Seele ist Frederick Wisemans "Monrova, Indiana", in dem der Dokumentarfilmmeister eine 1000-Seelen-Gemeinde porträtiert. "Erschreckend" hingegen fällt Errol Morris' Gesprächsfilm "American Dharma" aus, für den sich Steve Bannon vor die Kamera gesetzt hat: Der Filmemacher "entkommt der Selbstmessianisierung Bannons nicht - bis hin zum Titel, dem Bannon selbst das Stichwort liefert. Die amerikanische Rechte sucht nicht den Dialog, sie will Bürgerkrieg." Der Film "verstärkt lediglich das düstere Dräuen."

In Carlos Reygadas' "Nuestro Tiempo", für den sich Dietmar Dath bereits gestern sehr begeisterte, finden sich "einige der schönsten Szenen dieses Wettbewerbs", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Dem Film "gelingt es immer wieder verblüffend gut, Privates in Grundsätzliches zu übertragen", erklärt Dominik Kamalzadeh im Standard. In der Zeit bietet Katja Nicodemus einen Zwischenstandsbericht. Im Perlentaucher bietet Lutz Meier einen Überblick über die letzten Festivaltage.

Weitere Artikel: Nina Rehfeld (FAZ), Thorsten Denker (SZ) und Holger Kreitling (Welt) schreiben Nachrufe auf Burt Reynolds. Die NZZ bringt dazu eine Fotostrecke. Besprochen werden Hans Puttnies' Dokumentarfilm "Palmyra" (online nachgereicht von der FAZ), eine Box mit Verbotsfilmen der DEFA (Tagesspiegel), Aaron Lehmanns "Das schönste Mädchen der Welt", eine Cyrano-de-Bergerac-Adaption im Gewand einer deutschen Teenagerkomödie (FR, Berliner Zeitung) und Joshua Weinsteins "Menashe" (FAZ).
Archiv: Film