Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Dasein in farbenfroher Traurigkeit

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08.10.2018. Erschöpft, aber glücklich jubeln SZ und Nachtkritik nach Christopher Rüpings zehnstündigem Theatermarathon "Dionysos Stadt". Im Tagesspiegel beschreibt Jan Fabres früherer Assistent Felix Schnieder-Henniger ein wohl choreografiertes System aus Faszination und Übergriffigkeit. Die NZZ liest in den neuen Romanen  von einem sich zuspitzenden Kampf der Klassen um Ressourcen.  In der FAS beschreibt Leila Slimani, wie der Körper der Frau in der arabischen Welt zum Schlachtfeld wird. Und die Welt deklassiert Banksy zum Zeitgeistversteher.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.10.2018 finden Sie hier

Bühne

Dionysos Stadt an den Münchner Kammerspielen. Foto: Julian Baumann


Mit stehenden Ovationen wurde Christopher Rüpings zehnstündige Produktion "Dionysos Stadt" in den Münchner Kammerspielen quittiert. In der Nachtkritik versichert Maximilian Sippenauer, dass der Theatermarathon mit Götter, Titanen, Heerführern, Satyrn und Dämonen einem originär griechischen Erlebnis schon recht nahe komme: "Solche Momente sucht Rüpings Projekt: spezifisch antike Theatererfahrungen, die nur dann einsetzen, wenn man sich diesem Ort über eine gewisse Zeit und in einer gewissen Art ausliefert. 'Dionysos Stadt' forciert das, was Nietzsche als Rausch bezeichnete und wonach Wagner seinen Opernbegriff konzipierte, nur ohne alle Intellektualismen und schwülstiges Pathos. Wie genial das sein kann, zeigt das Satyrspiel am Ende. In der Antike sollte man dort nach all den Tragödien entspannen. Rüping übersetzt dies ganz prosaisch ins heute, indem er den trivialen Erzfeind des Theaters auf die Bühne holt: den Fußball." Auch in der SZ begeistert sich Christine Dössel, die selten ein gutes Haar am Kammerspiel-Intendanten Matthias Lilienthal gelassen hat, für die Großproduktion: "Eine große Feier des Lebens und des Theaters".

Im Tagesspiegel beschreibt Jan Fabres ehemaliger Assistent Felix Schnieder-Henninger sehr eingängig, wie Bewunderung, Faszination und Ehrgeiz die Übergriffigkeit des Choreografen (mehr dazu hier) erst möglich machen. Schon 1988, im Dschungel, hatte Fabre ihn gefragt, ob er schwul sei: "Ich traute mich zum ersten Mal mit 'Ja' zu antworten. Er verzog das Gesicht abfällig und meinte: 'Ich finde Schwule grauenhaft.' Ich war schockiert und verletzt, aber wenig später ahnte ich, dass es eine Provokation oder ein Test war, wie ehrlich ich reagieren würde. Denn er unterhielt immer viele, gute Beziehungen zu homosexuellen Künstlern und war oft neugierig, in welcher Welt wir wie lebten. Mir wurde klar, dass es bei alledem nicht um Demütigung oder Ausbeutung, sondern um ein Experiment mit den Grenzen der Konventionen. Da ich in der Lage war, souverän und offen damit umzugehen, engagierte er mich für mehrere Jahre als Produktionsdramaturg in Antwerpen."

In der SZ trauert Egbert Tholl um die Opernsängerin Montserrat Caballé, deren Timbre einst schöner war als das der Callas und deren Morendo jeden betörte: "In Höhenlagen, in denen sich viele Sopranistinnen nur noch mit Anstrengung und damit entsprechend laut artikulieren können, verfügte sie nicht nur über ein durch keinerlei Krafteinsatz beeinträchtigtes Piano, ihre Stimme konnte auch noch leiser werden, entschweben." Thomas Baltensweiler vermisst in der NZZ schon jetzt ihr Lachen. Weitere Nachrufe in FR, FAZ, Berliner Zeitung und Tagesspiegel.

Noch einmal zum Dahinschmelzen: Caballé mit der Arie "Qui la voce sua soave" aus Bellinis "Puritaner":



Besprochen werden Claudia Bossards zweistündige Kurzversion von Robert Bolaños Riesenroman "2666" am Staatstheater Darmstadt (Nachtkritik), Martin Laberenz' Inszenierung von Handkes "Publikumsbeschimpfung" am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik), Marco Millings Inszenierung von Simone Kuchers Stück "Eine Version der Geschichte" (NZZ), Sebastian Baumgartens Camus-Inszenierung "Die Gerechten" (Tagesspiegel), das "Grand Finale" der Londoner Hofesh Shechter Company Berlin (taz), Alban Bergs "Wozzeck" an der Deutschen Oper Berlin (Tagesspiegel).

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Literatur

"Um nicht weniger als die Welt geht es in vielen Büchern der Saison", fällt NZZ-Kritiker Paul Jandl auf: Erstaunlich viele Romane handeln davon, wie sich Gesellschaft in eine Vielzahl sozialer Milieus im Kampf um die Ressourcen aufsplittert. Es gehe mithin "um ein soziales System, das apokalyptischen Zeiten entgegenzugehen scheint, in denen der Einzelne immer unwichtiger wird. Nachdem das Ich in der Literatur für ein paar Jahre Furore gemacht hat, lässt sich mit ihm offenbar nicht mehr viel Staat machen. Vielleicht ist das Ich in andere Kanäle ausgewandert. Es führt auf Instagram ein Dasein in farbenfroher Traurigkeit, während es in den Romanen oft gerade noch als blutleerer Schattenriss auftritt. Als großes und theatralisches Selbstgespräch."

Die FAS befasste sich gestern in einem großen Schwerpunkt mit Literatur und Sex. Die Schriftstellerin Leïla Slimani spricht im Interview etwa über die Motivation, warum ihr im Mai auf Deutsch nachgereichter Debütroman "All das zu verlieren" von einer Nymphomanin handelt, von Sexualität, Patriarchat und Sexismus im arabischen Raum. "In Marokko ist eine Frau immer die Frau von jemandem. Sie ist die Tochter, die Schwester oder die Cousine oder die Ehefrau. Sie ist nie nur sie selbst, ihr Körper gehört ihr nicht. Man will die Leute glauben lassen, dass eine freie Sexualität, freie Frauen, das Ende einer gewissen arabischen Kultur bedeuten würde oder, wie der türkische Schriftsteller Zülfü Livaneli schreibt: 'Im Mittelmeerraum liegt die Ehre zwischen den Beinen der Frau.' Aber es werden überhaupt alle Kämpfe an ihr ausgetragen. Der Körper der Frau ist ein Schlachtfeld."

Weitere Artikel: Im Feature für Dlf Kultur führt Volker Dittrich durch die Literatur Georgiens. Die FAZ hat Thomas Davids Porträt des ungarischen Schriftstellers László Krasznahorkai von Anfang September online nachgereicht. Die Welt dokumentiert Philipp Haibachs Nachwort zu Georges Simenons neu aufgelegtem Roman "Der Uhrmacher von Everton". In der FR steht Arno Widmann ratlos vor der Mamutt-Aufgabe, sich durch die rund 11.000 Seiten der Peter-Handke-Ausgabe des Suhrkamp Verlags zu arbeiten. Und Stephan Wackwitz spricht im Interview mit der FR über seine Zeit als Goethe-Leiter in Osteuropa.

Besprochen werden unter anderem Petros Markaris' Krimi "Drei Grazien" (taz), Maria Cecilia Barbettas "Nachtleuchten" (Standard), Stephan Thomes "Gott der Barbaren" (Standard), Nino Haratischwilis "Die Katze und der General" (Standard), Roberto Bolaños "Der Geist der Science-Fiction" (online nachgereicht von der FAZ) und Thomas Hürlimanns "Heimkehr" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Volker Röhnert über Pierre Reverdys "Gedächtnis":

"Kaum eine Minute
Und ich bin wieder da
Keinen Schimmer mehr von allem was geschah
..."
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Kunst

Banksys "Girl with Balloon". Foto: Sotheby's
Bei einer Auktion bei Sotheby's hat Banksy, kurz bevor der Hammer fiel und sein Bild des Mädchens mit dem Luftballon für eine Million Pfund verkauft werden sollte, das Werk per eingebauten Mechanismus geschreddert: In der Welt ist sich Fréderic Schwilden jetzt absolut sicher, was Banksy wirklich ist: "Er ist der miesgelaunte Kolumnist der Kunstwelt." Und mehr noch: Ein Zeitgeistversteher. Auch in der SZ glauben Alex Rühle und Laura Weißmüller, dass Banksy mit dem Coup weniger den Kunstmarkt vorgeführt als ihn vielmehr clever bedient hat. Im Tagesspiegel findet Rüdiger Schaper die Aktion gelungen: "Sie zeigt mit anarchischem Humor, dass Kunst nur buntes Papier ist, wie Geld." Außerdem seien die Schnipsel jetzt das Doppelte wert.

Weiteres: taz-Kritikerin Brigitte Werneburg erlebt auf der Expo Chicago, wie sich der Kunstmarkt jetzt auf schwarze KünstlerInnen stürzt. Niklas Maak besucht für die FAZ das Berliner Zentrum für Zeitgenössische Künst in der alten Kindl-Brauerei in Neukölln, wo der Bildhauer Thomas Scheibitz seine Installation Plateau mit Halbfigur zeigt.
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Design

Alex Bohn freut sich im ZeitMagazin darüber, dass nicht mehr nur junge, weiße Models auf den Catwalks der Fashion Weeks zu sehen sind: "Doch es gibt mehr zu feiern als nur die größere ethnische Vielfalt auf den Laufstegen. Auch Alter und Kleidergröße werden endlich realistischer gezeigt. So waren die eigentlichen Stars bei Donatella Versace in Mailand nicht die Schönheiten der Instagram-Ära. Kendall Jenner, Emily Ratajkowski sowie Bella und Gigi Hadid waren zwar Teil der Schau, doch Beifall brandete besonders für die 44-jährige Kanadierin Shalom Harlow und die 40-jährige Äthiopierin Liya Kebede auf."

Im ZeitMagazin-Gespräch berichtet Modedesignerin Jennifer Jane Martin von ihren weißgott nun wirklich bedrückenden Beschwerlichkeiten dabei, in Mailand Fuß zu fassen: "Die Stadt war sehr verschlossen und traditionell. Es gab nichts Internationales hier: kein Yoga, kein Sushi, keine chinesischen Restaurants, nur italienisches Essen. Man bekam nirgends einen Smoothie! Ich erlitt einen Kulturschock."
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Film

Szene aus Polanskis "Rosemary's Baby"

Im Jungle-World-Essay führt Magnus Klaue Roman Polanskis "Rosemary's Baby" und die (kurz nach der Premiere des Films vollzogenen) Manson-Morde eng: "Mit einer präzisen Fantasie, wie sie wohl nur jemand aufbringt, der die Gesellschaft, deren Teil er ist, immer auch als Exterritorialer erfährt, entfaltet Polanski das politische Unbewusste der Achtundsechziger-Zeit, indem er deren vermeintliche Modernität als fortwesenden Archaismus vor Augen führt. ...  Doch ergiebiger als der Versuch, die Tate-Morde als reenactment von Polanskis Film zu deuten, dürfte es sein, 'Rosemary's Baby' als Darstellung und Analyse der kollektiven psychischen Disposition zu verstehen, die jene Morde ermöglicht hat. Die Fantasiewelt des Horrorfilms wurde für Polanski zur adäquaten Denkform bei der Beantwortung der Frage, wie eine von Libertinage, Zukunftsoptimismus und Experimentierfreude geprägte Gesellschaft aus ihrer eigenen Dynamik heraus auf Naturglauben, gemeinschaftsselige Schicksalsergebenheit und glücksbesoffene Apokalpytik regredieren kann."

Besprochen werden Ruth Beckermanns "Waldheims Walzer" (Freitag, mehr dazu hier) und der auf Heimmedien veröffentlichte "Summer of '84" von François Simard, Anouk Whissell und Yoann-Karl Whissell (SZ).
Archiv: Film

Musik

In zahlreichen afrikanischen Ländern führen Rapper aus den Slums die Opposition an, erklärt Jonathan Fischer in der NZZ: Während sich die etablierte Politik in Phrasen und Machterhalt rettet, prangern die Rapper als Stimme der zahlenmäßig überlegenen Jugend die Missstände an: In "Mali, wie Senegal nominell eine Demokratie, herrscht eine tiefe Kluft zwischen der Agenda der politischen Klasse und den Sorgen, die die Menschen in den Teerunden am Straßenrand besprechen ... Hip-Hop bedeutet hier noch Widerstand. Während die amerikanischen Kollegen, um The-Roots-Kopf Ahmir Questlove Thompson zu zitieren, 'nur noch symbolische Fracht auf dem Black Starliner rearrangieren und leere Container hin und her schieben', scheint das Gros der Rapper in Afrika noch einer Mission verpflichtet: Den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Die Ungerechtigkeiten nicht zu verschweigen. Ein besseres Leben für die jungen Menschen ihrer Generation zu fordern."



Weitere Artikel: Linda Gerner plaudert in der taz mit Funny van Dannen. Für die Berliner Zeitung hat sich Johannes Paetzold mit Jakob Ilja und Sven Regener von Element of Crime zum Gespräch getroffen. Im ZeitMagazin träumt Dua Lipa. Außerdem hat sich Daniel Schieferdecker für die Berliner Zeitung ausführlich mit dem Rapper Veysel Gelin unterhalten, der in der zweiten Staffel von "4 Blocks" sein Schauspieldebüt gibt.

Besprochen werden das neue Album von Cat Power (Jungle World, mehr dazu hier), das Doppelalbum "Harmonie du Soir" mit zumindest in Deutschland selten zu hörenden Debussy-Werken (Zeit), die CD "Aguas" von Yilian Canizares und Omar Sosa (Tagesspiegel), das neue Album von Fucked Up (Pitchfork), Mark Andres erstes, bei der musica viva in München uraufgeführtes Orgelwerk "iv 15 Himmelfahrt" (SZ, FAZ) und neue Musikveröffentlichungen, darunter zwei Editionen zum 100. Geburtstag der Sopranistin Birgit Nilsson (FAZ).
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