Efeu - Die Kulturrundschau

Leuchtende Ich-Asyle

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15.02.2019. Die Berliner Zeitung lernt in einer Broschüre zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts die Grenzen der Toleranz am Theater kennen. Die taz vernimmt sanften Ärger um die Nominierungen zum Leipziger Buchpreis. Der Guardian blickt aufgeregt der mysteriösen Schieferwolke entgegen, die der japanische Architekt Junya Ishigami für den Londoner Serpentine Pavillon geplant hat. Einen Hauch japanischer Architektur entdeckt auch die FAZ im neuen Berliner Kreativquartier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2019 finden Sie hier

Architektur

Serpentine Pavilion 2019, Design Render, Interior View, © Junya Ishigami + Associates
Der japanische Architekt Junya Ishigami wird diese Jahr den Londoner Serpentine Pavillon gestalten, freut sich Oliver Wainwright im Guardian, denn dessen Pläne klingen vielversprechend: Eine "mysteriöse Wolke aus grauem Schiefer" soll entstehen: "Der Pavillon wird zum Teil eine Felswand, zum Teil eine Smogwolke sein, als ob ein Erdrutsch aus einem Schiefertagebau abgetragen und in den grünen königlichen Park transportiert worden wäre. Wie ein Objekt in einem Naturkundemuseum wird der felsige Hang von schlanken Zahnstochersäulen gehalten und bildet ein schuppiges Vordach, das die Besucher darunter erkunden können. Ishigami ist sich des gefährlichen englischen Sommers bewusst: Ein Bild zeigt die Struktur im Schlagregen, mit Pfützen und kleinen Bächen, die sich über seine zerklüftete Oberfläche schlängeln."

Der Name "Kreativquartier südliche Friedrichstadt" ließ das Schlimmste befürchten - mit dem Ergebnis, vor allem im Inneren, ist Niklas Maak in der FAZ nach einem Rundgang auf dem Campus am ehemaligen Berliner Großblumenmarkt aber ziemlich zufrieden: "Wie in Le Corbusiers Unité d'habitation in Marseille sind die oft doppelgeschossigen Maisonette-Wohnungen von Norden nach Süden durchgesteckt, erschlossen werden sie teils von außen, teils über eine 'Rue intérieure' im zweiten Geschoss. Diese Erschließungsstraße ist bei Le Corbusier allerdings eher ein öder Endloskorridor, der eine klinische Krankenhausatmosphäre ausstrahlt. Hier keine Spur von dieser Tristesse, denn alle paar Meter unterbricht ein haushoher Lichthof die Innenstraße. (...) Man fühlt sich auch an japanische Architekturen oder an die schmalen, teilweise überbauten Gassen mediterraner Dörfer erinnert."
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Literatur

Sanfter Ärger um die Nominierungen zum Leipziger Buchpreis: Hier haben wohl Buddys Buddys etwas Gutes getan, schreiben Tania Martini und Dirk Knipphals in der taz. "Der Künstler Celan war offenbar anders als der Privatmann", schreibt Paul Jandl in der NZZ, nachdem er einen Blick in die Briefe Paul Celans werfen konnte, die im März versteigert werden sollen. Für ZeitOnline plaudert (und singt) Timo Feldhaus mit Dirk von Lowtzow, im Hauptberuf Sänger bei Tocotronic, der mit "Aus dem Dachsbau" (aktuelle Besprechungen heute online bei NZZ und im Tagesspiegel) nun auch ein Buch vorgelegt hat. In der SZ gratuliert Ulrich Baron dem Groschenheft-Dauerbrenner "Perry Rhodan" zum Erscheinen des 3000. Heftes innerhalb der Hauptreihe, der es nie ganz geglückt ist, über die Grenzen der Fankultur hinaus Einfluss zu gewinnen: "Trotz ihrer Milliardenauflage ist die Serie ein erratischer Block inmitten der globalen Populärkultur."

Besprochen wird unter anderem Jaroslav Rudišs "Winterbergs letzte Reise" (Tagesspiegel).
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Musik

In der taz spricht der unter dem Namen Efdemin auftretende Rave-Klangkünstler Phillip Sollmann über das Spannungsvervältnis, wenn man Unterhaltungsanspruch auf dem Dancefloor mit Kunstanspruch vermählen will. Beim Blick auf früheres Clubbing wird er nostalgisch: "Ausgehen ist extrem professionell geworden. Man macht sich viele Gedanken dazu, wie man aussieht und wann man wohin geht. Momente des Loslassens, des Genießens, die in den Anfangstagen von Techno sehr wichtig waren, scheinen mir da verloren zu gehen." Im Club Bassiani in Tiflis gibt es so eine Oase immerhin noch: "Man kann manchmal 30 Minuten nichts sehen, weil das Licht aus ist und Nebel im Raum steht. Die Leute tanzen dann einfach nur. Ein wunderbar hedonistischer Ort."

Weitere Artikel: In der Zeit porträtiert Jens Balzer die katalanische Flamenco-Sängerin Rosalía. Ji-Hun Kim singt im Freitag ein Loblied auf die aus Sibirien stammende Techno-DJ und -Labelbetreiberin Nina Kraviz. Für die Welt blickt Denis Sand zurück auf das, was von der Emo-Welle der 00er-Jahre übriggeblieben ist (freilich ohne zu erwähnen, dass die Wurzeln dieser Musik ja eigentlich in den 80ern liegen).

Besprochen werden ein von Yannick Nézet-Séguin dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel) und Philipp Bloms Buch "Eine italienische Reise", in dem der Autor davon erzählt, wie er den Hersteller einer 300 Jahre alten Violine, in die sich der Autor verliebt hat, ausfindig zu machen versucht (NZZ).
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Bühne

Unter dem Titel "Alles nur Theater?" hat die mit Bundes- und Landesmitteln geförderte Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) eine Broschüre "zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts" herausgegeben, die am Donnerstag im Deutschen Theater von Klaus Lederer, DT-Intendant Ulrich Khuon und Bianca Klose, Geschäftsführerin des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin, dem Träger der MBR, vorgestellt wurde. In der Berliner Zeitung fasst Petra Kohse die Botschaft zusammen: "Sich nicht einschüchtern lassen, sondern sein Recht auf freie Ausübung des Berufes staatlicherseits schützen lassen. AfD-Abgeordnete müsse man ohne triftigen Grund nicht in sein Büro lassen, sie würden dadurch nicht an der Erfüllung ihrer parlamentarischen Aufgabe gehindert. Kunst muss auch keineswegs politisch neutral sein, selbst staatlich geförderte nicht. Und Grenzen der Toleranz gegenüber Feinden der Toleranz ist keine Intoleranz."

Weitere Artikel: Im Feuilleton-Aufmacher der SZ hat sich Christine Dössel das von dem für seine gigantischen Bühnenbilder berühmten Regisseur Ulrich Rasche entworfene Bühnenmonstrum für "Elektra" schon mal angeschaut und einiges über Gefährdungen, aber nichts über Kosten erfahren. In der Presse freut sich Norbert Mayer schon auf die ersten unter der Intendanz von Christophe Slagmuylder verantworteten Wiener Festwochen, die mit Namen wie Rene Pollesch, Robert Wilson, Ersan Mondtag oder Isabelle Huppert aufwarten werden. Im Standard-Interview wünscht sich Christophe Slagmuylder mehr "internationale Ausrichtung" für die Wiener Theaterlandschaft.

Besprochen wird Carme Portacelis Inszenierung von Benet Casablancas Oper "L'enigmado di Lea" in Barcelona (FAZ).
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Film

Wang Xiaoshuais "So long, my Son"

Rückblick auf den achten Berlinale-Tag: Mit Wang Xiaoshuais "So long, my Son" läuft auf der Zielgeraden doch noch etwas mit Bären-Aussichten, freut sich die FAZ und auch die taz steht dem nicht nach. Der Tagesspiegel feiert derweil Nadav Lapids "Synonymes". Ein insgesamt durchwachsener Wettbewerbsjahrgang neigt sich dem Ende zu.

Abseits der Berlinale: Für die Welt plaudert Jan Küveler mit Robert Rodriguez über dessen (im Standard besprochenen) Blockbuster "Alita". Hanns-Georg Rodek meldet in der Welt, dass Netflix sich der hiesigen Rechtslage beugt und künftig in die deutsche Filmförderung einzahlt.
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Kunst

Aloïse Corbaz, Brevario Grimani, um 1950 (Ausschnitt), Buntstift auf Papier abcd / Bruno Decharme collection, Foto: César Decharme

Als "funkelnde Schatzkammer" erscheint auch Anne Katrin Fessler im Standard die Wiener Ausstellung "Flying high" im Kunstforum, die die vergessenen Künstlerinnen der Art Brut würdigt: "Ganze 14 Meter lang ist (…) eine Arbeit aus dem von Romantik durchdrungenen, schillernden und erotischen Prinzessinnenkosmos von Aloïse Corbaz. Als Gouvernante am Hof Wilhelms II. steigerte sie sich in eine fiktive Liebesaffäre mit dem Kaiser hinein. Als ihr Hirngespinst wahnhafte Züge bekam, führte das zur Einweisung in die Psychiatrie. Dort entstanden leuchtende 'Ich-Asyle' (Brugger), kreative Zufluchten, bis zum Bildrand mit Ornament oder Blumen gefüllt, mit entblößten Brüsten, die Rosenköpfen oder Kamelienblüten gleichen. Männer verkommen neben dieser Opulenz zur schmächtigen Staffage."

Als erstes "Wunder von Bern" bezeichnet Roman Bucheli in der NZZ die Unternehmersstochter und Mäzenin Lydia Welti-Escher, die im Jahre 1890 ihr Vermögen der Eidgenossenschaft vermachte, mit dem Vorschlag eine Kunststiftung zu gründen. Bis in die 1880er Jahre mangelte es der föderalen Schweiz an einer der nationalen Selbstverständigung dienenden Kulturpolitik, so Bucheli, der den erworbenen Werken mit der nun startenden Ausstellung "Glanzlichter der Gottfried Keller-Stiftung" mehr Sichtbarkeit wünscht: "Damit machte Lydia Welti-Escher eine historische Verspätung wett und wendete sie in einen Fortschritt, der indes seinen Preis darin hat, dass die Gottfried-Keller-Stiftung gleichsam unsichtbar bleibt. Sie legt zwar mit ihren Legaten ein imaginäres Netz über die Schweiz und stellt eine virtuelle Nationalgalerie dar, im Bewusstsein der Menschen aber ist sie nicht verankert. Denn die Stiftung kann ihre heute vom 12. bis ins 20. Jahrhundert reichende Sammlung nur allzu selten im Überblick zeigen."

Weiteres: In der NZZ würdigt Thomas Ribi den im Alter von 90 Jahren verstorbenen Schweizer Luftbildfotografen Georg Gerster, der seine Fotografien unter anderem im National Geographic Magazine, im Magazin Geo oder im Sunday Times Magazine publizierte: "Eine 'Ikonografie der Erde' wolle er erstellen, sagte er vor wenigen Jahren und fügte hinzu: 'Ich werde nie fertig.'" Besprochen werden die Ausstellung "Tizian und die Kunst" im Frankfurter Städel (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Hate Speech" im Grazer Künstlerhaus (Standard).
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