Efeu - Die Kulturrundschau

Dieses verblüffende Ganz-nah-Dran

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04.04.2019. Die nachtkritik betrachtet ratlos die Yuppie-Karikaturen von Maja Zade an der Berliner Schaubühne. Die Zeit fragt, warum eigentlich Vorwürfe sexueller Gewalt gegen Pop-Musiker oft kein Jota an deren Beliebtheit ändern. Der Komponist Frederic Rzewski erzählt im Van Magazine einen Witz. Die Berliner Zeitung freut sich über die Wiederentdeckung der Malerin Lotte Laserstein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2019 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Maja Zades Stück "abgrund". Foto: Arno Declair

In Berlin hat Thomas Ostermeier an der Schaubühne Maja Zades Stück "abgrund" uraufgeführt: Sechs Personen beim Abendessen, linke Mittelschicht, Kulturbürgertum, Latte-Macchiato-Fraktion, das übliche Blabla. Dann geschieht ein Unglück, ein Kind stirbt, und niemand kann damit umgehen. Nachtkritiker Michael Wolf bleibt ratlos zurück: "Zade zeigt sich als kühle Dramatikerin ohne Mitleid mit ihrem Personal. Erst erschafft sie Klischees auf Beinen, dann lädt sie ihnen Schuld auf. Nur: Warum müssen ausgerechnet diese Yuppie-Karikaturen büßen? Welches andere Milieu hätte sich gegen ein solches Schicksal wappnen können? Welche anderen Menschen hätten es weniger 'verdient' gehabt? Welche hätten souveräner auf das Unfassbare reagiert? Zades Text gleicht einer Versuchsanordnung, einem Modell; nur bleibt unklar, was es abbilden oder beweisen möchte." Auch Katrin Bettina Müller hätte sich in der taz mehr Komplexität der Figuren gewünscht. Weitere Besprechungen in der Berliner Zeitung, FAZ und SZ.

Weitere Artikel: Georg Kasch untersucht in der nachtkritik die Anatomie des Schweriner Theaterkrachs. Auf Zeit online erklären Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann, was das Schauspielhaus Zürich ab dem Sommer von ihnen zu erwarten hat.

Besprochen werden außerdem Puccinis "Madame Butterfly" am Theater Basel (nmz) und drei Inszenierungen spätromantischer Opern in Dänemark (nmz).
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Literatur

Zum Onlinestart des Dictionnaires der Académie française referiert Uwe Schulz in der NZZ die Geschichte des Standardwerks der französischen Sprache. Auch auf die Herausforderungen der Gegenwart kommt er zu sprechen: So hat sich die Académie nun dazu entschlossen, auch weibliche Berufsbezeichnungen zu finden. "Damit tut sich ein weites Arbeitsfeld auf", da zum Beispiel "der Begriff 'Chefin' nicht zur Verfügung steht. Nun ist sprachschöpferische Kraft gefragt, denn gewaltsam gebildete Wörter wie 'cheffe', 'chèfe' oder 'cheftaine' verweigern sich dem umgangssprachlichen Gebrauch. Ähnlich schwierig ist es bei der Poetin ('poétesse'), die ihre Tätigkeit ungern so bezeichnet sehen würde, der aber im Deutschen das würdige Wort 'Dichterin' zur Verfügung steht. Auch die Benennung 'autrice' für 'auteur' verweigert sich dem sprachlichen Gebrauch und der beruflichen Wertschätzung. Wenigstens bei der 'boulangère' ('Bäckerin') ist die weibliche Berufsbezeichnung keinem Zweifel und keiner Abwertung unterworfen."

Weitere Artikel: In Magnus Klaues "Lahme Literaten"-Kolumne in der Jungle World wird diesmal Hans Christoph Buch nicht verschont. Besprochen werden unter anderem Lothar Müllers "Freuds Dinge" (Welt), zwei Ausstellungen zum Werk des Comicautors Joann Sfar (NZZ), die Ausstellung "Neue Comic-Kunst aus Schweden" im Felleshus in Berlin (Tagesspiegel), eine Ausstellung im Hesse-Museum Gaienhofen zur Rezeption von Hermann Hesses "Das Glasperlenstil" im "Dritten Reich" (FAZ) und Johan Harstads "Max, Mischa und die Tet-Offensive" (FAZ).
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Film

Schichten der Zeit: Jean-Luc Godards "Bildbuch"

Mit seinem assoziativen Collage-Montage-Essay "Bildbuch" (mehr dazu bereits im gestrigen Efeu) betreibt Jean-Luc Godard "Kino-Archäologe", schreibt Patrick Holzapfel im Perlentaucher: "Die Bilder machen etwas sichtbar, was unter den Schichten der Zeit vergraben liegt. Manches im Film mag an seine "Histoire(s) du cinéma" erinnern, aber eigentlich interessiert sich Godard in "Bildbuch" mehr für das, was Bilder über die Realität sagen, was sie mit ihr machen, als für den Kinoapparat selbst. Er ist der ewig Trauernde, aber aus ihm sprudeln noch assoziative Ideenfragmente im Sekundentakt und Bilder, so viele Bilder, die die Welt bedeuten."

In der Zeit tastet sich Hanns Zischler an diesen Filmessay heran: "Da ich mich aus eigener Erfahrung erinnere, wie sehr Godard die Kompositionen Bachs schätzt, kam es für mich einem Bekenntnis seiner eigenen Methode des Filmemachens gleich, als in der Mitte des Films eine ausführliche Darstellung des Kontrapunkts beginnt. In 'Bildbuch' sehen wir seine kontrapunktische Mehrstimmigkeit des Filmemachens vor unseren Augen und für unsere Ohren entstehen. Dieser Kontrapunkt führt wieder zu den Händen von Godard, die am Schneidetisch alles verbinden, arrangieren, orchestrieren. Die im Schnitt entstehende Überlagerung von einander fremden Bild- und Tonsträngen, dieser Prozess der webenden Verflechtung, bewirkt eine Überdeterminierung von Bild und Ton. 'Entflechtung' kann letztlich nur das wiederholte Sehen von Godards Film bringen - mit jeweils anderen Erkenntnissen."

Und Philipp Stadelmaier staunt in der SZ angesichts der Schönheit, die Godard den hochgradig bearbeiteten Filmfetzen abgewinnt: "Hier ist jemand zu Gange, der digitale Videoschnitt- und Farbkorrekturprogramme wie ein Maler benutzt. Wer braucht bei solch starken Impressionen noch eine 'Handlung', eine 'Geschichte', die erzählt wird? Fragmente der Filmgeschichte, von Nicholas Ray über Roberto Rossellini bis hin zu Steven Spielberg, werden collagiert mit Archivmaterial, Gemälden der Kunstgeschichte, Literatur, Musik. Alles verbindet sich auf freie, essayistische Art, jedes Streben nach Perfektion wird unterlaufen."

Weitere Artikel: Anlässlich des heute im Berliner Kino Wolf beginnenden Arbeitstreffens des Hauptverbands Cinephilie skizziert Morticia Zschiesche in der taz die grenz-katastrophale Lage der Kinos in Deutschland nach dem verheerenden Umsatzeinbruch des letzten Jahres. Den Berlinern empfiehlt Fabian Tietke in der taz die Reihe "Film:Schweiz" im Brotfabrikkino. In der NZZ stimmt Geri Krebs auf das Filmfest "Visions du Reel" in Nyon ein. Markus Keuschnigg empfiehlt in der Presse eine Reihe zum australischen Film im Filmmuseum Wien.

Besprochen werden Kevin Kölschs und Dennis Widmyers Neuverfilmung von Stephen Kings "Friedhof der Kuscheltiere" (Perlentaucher, FAZ, Welt), Paul Poets auf Heimmedien veröffentlichter Porträtfilm "My Talk with Florence" (taz), Nathalie Borgers' Dokumentarfilm "The Remains" (Standard), Cristina Gallegos und Ciro Guerras Thriller "Birds of Passage" (taz, Dlf Kultur, FAZ), die französische Komödie "Monsieur Claude 2" (Tagesspiegel, der Standard spricht mit Regisseur Philippe de Chauveron) und die Superheldenkomödie "Shazam" (Tagesspiegel, SZ).
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Kunst

Lotte Laserstein, Abend über Potsdam, 1930. Nationalgalerie Berlin © bpk/Nationalgalerie SMB. Foto: R. März


Wird ja höchste Zeit, dass die Malerin Lotte Laserstein (1898-1993) mal gewürdigt wird, knurrt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung und freut sich, dass die Berlinische Galerie (in Kooperation mit dem Städel) die Künstlerin mit einer großen Ausstellung ins Gedächtnis ruft. Aber warum war sie überhaupt vergessen worden? Vielleicht lag es an ihrer Malweise, überlegt Ruthe: "An dieser Körperlichkeit, an der in sich gekehrten Intimität der Szenen. Solcher Realismus war nach 1945 in den von der abstrakten Kunst besessenen westlichen Museen verpönt. Laserstein passte nicht in den Mainstream, weil ihre Motive ohne jeden Vorsatz auskommen. Sie wollten weder politisch noch künstlerisch provozieren. Diese Malerei lebt aus der Stille, der ernsten, herben Schönheit von Gesichtern, Körpern, oft erdig gemalt, die Farbe verwischt und ganz bei sich selbst. Die Courage dieser Frau drückt sich nicht im ästhetischen Furor aus. Es ist dieses verblüffende Ganz-nah-Dran."

Weitere Artikel: In der Zeit fragt Tobias Timm anlässlich einer am 12. April eröffnenden Nolde-Ausstellung im Hamburger Bahnhof, die Noldes Hitler-Verehrung thematisiert: Muss man jetzt überall Nolde abhängen? Nein, meint Timm, nicht im Museum, aber vielleicht doch im Bundeskanzleramt. Der Philosoph Luca Di Blasi betrachtet für die Zeit Sigmar Polkes Bild von 1969, "Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!", zum fünfzigsten Geburtstag neu.

Besprochen werden die Ausstellung "Generation Wealth" der amerikanischen Fotografin Lauren Greenfield in den Hamburger Deichtorhallen (taz) und die Ausstellung "Bau Spiel Haus" im Neuen Museum in Nürnberg (SZ).
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Musik

Wie kommt es, dass bei Musikern auch in #MeToo-Zeiten sexueller Missbrauch oder Gewalt gegen Frauen noch toleriert wird? Nicht bei allen Musikern, klar, aber doch bei ganz schön vielen. Jens Balzer zählt in der Zeit einige auf: Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers, Jimmy Page von Led Zeppelin, Don Henley von den Eagles, die Rapper Daniel Hernandez alias 6ix9ine, Dieuson Octave alias Kodak Black oder XXXTentacion, der versucht hatte, "seiner schwangeren Ex-Freundin das ungeborene Kind aus dem Leib zu prügeln" und in der Folge immer höhere Verkaufszahlen erzielte: "Was die offenbar unsterbliche Faszination für den 'bösen Genius' eines sexuell gewalttätigen Maskulinismus betrifft, sind die Millennials keinen Schritt weiter als die Generationen ihrer Großeltern und Eltern."

Frederic Rzewski, Komponist und Außenseiter im Musikbetrieb, ist in Berlin zuletzt beim Maerzmusik-Festival aufgetreten. Im Gespräch mit Elisa Erkelenz vom Van Magazin erzählt der bekennende Sozialist einen Witz: "Ein russischer Jude geht Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Rabbi und sagt: 'Ich brauche dringend eine Antwort auf diese Frage: Stalin oder Trotzki?' Also: Ist es möglich, Sozialismus in einem Land aufzubauen oder nicht? Und der Rabbi sagt: Das ist eine wirklich schwierige Frage. Gib mir mal Zeit, das zu studieren und komm in drei Tagen wieder. So kommt er in drei Tagen wieder und der Rabbi sagt: 'So, du wirst erfreut sein zu hören, dass ich deine Frage drei Tage lang studiert habe. Und ich habe eine Antwort gefunden. Es gibt immer ein Buch, in dem alle Antworten zu finden sind, du musst nur wissen, wo du zu suchen hast. So habe ich den Midrash-Kommentar eines spanischen Juden aus dem 12. Jahrhundert gefunden, der schreibt: 'Es ist möglich, Sozialismus in einem Land zu errichten. Aber während es passiert, ist es besser, in einem anderen Land zu leben.' (lacht)"

Weitere Artikel: Manuel Brug berichtet in seinem Welt-Blog von seinem Besuch beim Tokio Springfestival. Marco Frei spricht für die NZZ mit der Pianistin Elena Bashkirova über das von ihr gegründete Jerusalem International Chamber Music Festival. Für die Zeit porträtiert Antonia Baum Billie Eilish (mehr zum Erfolg des Teenie-Stars hier und hier). Und Christian Thielemann, dem als Künstlerischer Leiter der Opernfestspiele der ungeliebte Nikolaus Bachler als Intendant vor die Nase gesetzt wurde, lässt im Interview mit der FAZ wenig Zweifel, dass der Streit darüber zu seinen Gunsten ausgehen wird: "Es gibt manchmal Entscheidungen, die man nicht nachvollziehen kann. Die müssen dann eben korrigiert werden."

Zum 25. Todestag von Kurt Cobain wirft Karl Fluch im Standard einen Blick auf die Begleitumstände, unter denen Nirvana einst groß geworden sind, und kommt zu dem Schluss: Eine solche Karriere wäre heute nicht mehr möglich.In der SZ porträtiert Andrian Kreye den New Yorker Jazzmusiker Dayna Stephens. Hier ein Auftritt mit dem Tal Gamlieli Trio:



Besprochen werden Beth Gibbons Górecki-Aufnahme unter Krzysztof Penderecki (Standard, mehr dazu hier), der Netflix-Dokumentarfilm "The Miami Showband Massacre" (taz), Marvin Gayes "You're the Man" (Pitchfork, mehr dazu hier), ein gemeinsamer Auftritt von Nate Young und John 'Inzane' Olson (taz), ein Konzert von Soap & Skin (Standard) und das neue Fennesz-Album "Agora" (Pitchfork), in das wir hier reinhören:

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