Efeu - Die Kulturrundschau

Das identitätskrisen-gebeutelte hässliche Entlein

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27.04.2019. Die taz feiert mit Theaster Gates im Martin Gropius Bau schwarze weibliche Identität mit Modefotografien aus Ebony und Jet. In der Welt erklärt Andrzej Wajdas Witwe, weshalb die PiS-Regierung zögert, den Ruhm ihres Mannes zu verunglimpfen. Die FAZ erinnert daran, wie der tschechische Schriftsteller Karel Capek schon 1920 den Roboter erfand. Die Literarische Welt tritt an, das literarische Erbe von Erika Mann zu verteidigen. Die SZ lernt von dem indischen Architekten Balkrishna Doshi sozialen Wohnungsbau. Und die taz raucht eine Shisha zu griechisch-osmanischem Rembetiko.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2019 finden Sie hier

Kunst

Moneta Sleet Jr, 1969. Johnson Publishing Company, LLC.
Nach Stationen in Miami und Mailand ist die von dem Chicagoer Künstler Theaster Gates konzipierte Schau "Black Image Corporation" nun im Martin-Gropius-Bau zu sehen. Als Feier "schwarzer, weiblicher Identität und Schönheit" erlebt Zora Schiffer in der taz die Ausstellung, die Modefotografien der amerikanischen Magazine Ebony und Jet zeigt, deren Gründer John H. Johnson die afroamerikanische Bevölkerung jenseits rassistischer Kontexte zeigen wollte. Schiffer erkennt die Aktualität der Ausstellung: "Gates schaut eher, welche der damals formulierten Versprechen und Hoffnungen an die Gesellschaft heute noch unerfüllt sind und womöglich ein neues Potenzial aufweisen. Gates findet, jetzt sei ein guter Zeitpunkt, um die Black Female Power auch außerhalb ihrer eigenen Community zu zelebrieren. Denn obwohl sich in der Mode- und Kunstwelt viel bewegt in Sachen Kolonialismuskritik, Diskriminierung und Körperbilder: Dieser große Teil des 'visuellen Lexikons der USA' ist den meisten EuropäerInnen noch unbekannt." Dass die Besucher Bilder aus dem Archiv mit weißen Handschuhen zwecks Partizipation "ehrfürchtig" aus dem Kabinett ziehen dürfen, findet Heiko Zwirner in der Welt dann allerdings doch etwas "hoch gegriffen".

Im Dlf-Gespräch mit Marie Kaiser betont auch Mitkuratorin Daisy Desrosiers: "Ich bin in den 80er-Jahren geboren. Da gab es kaum schwarze Frauen in Zeitschriften - außer mal Whitney Houston."

In die "Verliese der Seele" blickt Arno Widmann in der FR in der Ausstellung "Gewächse der Seele - Pflanzenfantasien zwischen Symbolismus und Outsider Art" im Ludwigshafener Wilhelm Hack Museum, die unter anderem Werke von Max Ernst, Paul Klee, Hilma af Klint oder Seraphine Louis zeigt: "Das Unbewusste ist ihr Element. In der Hierarchie der Lebewesen standen sie unten. Die Triebtheorie lieh sich ihren Begriff von ihnen. 'Reculer pour mieux sauter' war die Parole. Man musste hinter die Vernunft zurück, um mit ihr weiter voran zu kommen. Pflanze werden konnte man nicht mehr, ohne in der Psychiatrie zu landen, aber sich mit Max Ernst hineindenken, hineinträumen in den letzten Wald, das konnte man lernen."

Weitere Artikel: Im Guardian schreibt Sean O'Hagan einen Nachruf auf den am Mittwoch verstorbenen deutschen Fotografen Michael Wolf, den er als "verspielter" als die Zeitgenossen der Düsseldorfer Schule würdigt. Im Perlentaucher hat Peter Truschner hier und hier über Michael Wolf geschrieben. Spiegel Online bringt eine Bildstrecke aus dessen Reihe "Architecture of Density".Für die Welt hat sich Gesine Borcherdt mit Peter Fischli getroffen, dem (und dem 2012 verstorbenen Künstler David Weiss) die Galerie Sprüth Magers zum Berliner Gallery Weekend eine Retrospektive widmet und mit ihm über das Arbeiten mit und ohne David Weiss gesprochen. Im Tagesspiegel erklärt Christiane Meixner, weshalb immer mehr Galerien vom Osten in den Berliner Westen ziehen. Wo sind die Galeristen der jüngeren Generation, fragt sich Christine Peitz im Tagesspiegel und fordert die Politik zur Zusammenarbeit auf. In der SZ erlebt Astrid Mania das Gallery Weekend derweil als "Domäne weißer Männer". In der Berliner Zeitung stellt Ingeborg Ruthe ihre persönlichen Highlights vor.

Besprochen wird die Roger-Melis-Retrospektive in den Hamburger Deichtor Hallen (taz), die Ausstellung "Mischpoche" von Andreas Mühe im Hamburger Bahnhof (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Jack Whitten - Jack's Jacks" im Hamburger Bahnhof (Ein Muss für alle, die sich "für das Potential der Malerei unserer Gegenwart" interessieren, meint Karl Heinz Lüdeking in der FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Andrzej Wajda hatte vor kurz vor seinem Tod geahnt, dass Polen ein gespenstisch nationalistisches Zeitalter bevorsteht, erklärt dessen Witwe Krystyna Zachwatowicz-Wajda im Welt-Gespräch, dessen Anlass eine große Ausstellung zu Ehren des polnischen Autorenfilmers in Krakau bildet. Der rechtsnationalen PiS-Regierung hätte er sich entgegen gestellt, umgekehrt lässt Wajdas Ruhm die PiS-Regierung zögern, sein Werk - im Gegensatz zu den Arbeiten anderer Künstler - öffentlich zu verunglimpfen. "Gewalt, das Ende des Weltkriegs, wie in 'Asche und Diamant' und das oft tragische Schicksal Polens sind die immer wieder bestimmenden Themen in Wajdas Filmen, genauso nationale Mythen. Eigentlich ist das etwas, auf das sich eine Gesellschaft einigen kann. Aber taugen Wajdas Filme, vielleicht sogar diese monumentale Ausstellung, um die Anhänger und Gegner der aktuellen Regierungspolitik zu versöhnen? 'Auf keinen Fall', sagt Zachwatowicz-Wajda. An eine Versöhnung der gespaltenen Gesellschaft unter dieser Regierung glaubt sie nicht. Die Witwe ist stolz darauf, dass Polen nach 1989 ein gewaltloser Wandel gelungen ist und dass man die alten kommunistischen Eliten nicht einfach vom Hof gejagt, sondern den Wandel mit ihnen gestaltet hat."

Weitere Artikel: Michael Ranze spricht im Filmdienst mit Regisseur Daniel Nawrath über dessen Film "Atlas" (mehr dazu bereits hier). Für die SZ hat Tobias Kniebe die Dreharbeiten zu Sebastian Schippers neuem Film "Roads" besucht. Im Konfetti-Blog des Filmdiensts legt Lukas Foerster Willi Forsts "Mazurka" (1933) und dessen von Joe May inszeniertes Remake "Confession" (1937) vergleichend aneinander, wobei insbesondere eine Szene vor einer Kreidetafel zum Moment wird, in dem sich das Verhältnis zwischen den beiden Filmen offenbart. Hanns-Georg Rodek (Welt) schreibt einen Nachruf auf die Schauspielerin Ellen Schwiers. Rolf Giesen erinnert im Filmdienst an den deutschen Animationsfilm-Pionier Curt Linda, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Stephane Brizés "Streik" (Berliner Zeitung, unsere Kritik dazu hier) und die Serie "After Life" mit Ricky Gervais (Freitag).
Archiv: Film
Stichwörter: Polen, Wajda, Andrzej, Pis, Autorenfilm

Bühne

Arno Declair. Auf dem Bild: Judy LaDivina, Caner Sunar, Jade Pearl Baker, Helmut Mooshammer 
Viel Glamour und Biss, aber auch eine Spur zu viel Didaktik erlebt Nachtkritiker Christian Rakow in Bastian Krafts Stück "Ugly Duckling" das drei Berliner Dragqueens mit drei Ensemble-Mitgliedern des Deutschen Theaters zu Motiven der Märchen Hans Christian Andersens zusammenbringt und über Identitäten sinnieren lässt: Gérôme Castell etwa, "die in den 1980ern schon auf Partys mit Madonna und Grace Jones ein queeres Catwalk-Dasein feierte, umspielt ihr Mehr an Lebensjahren mit eleganter Selbstironie." Alles ganz nett, "aber auch harmlos", meint auch Christine Wahl im Tagesspiegel über das Stück über das "identitätskrisen-gebeutelte Hässliche Entlein" und andere Märchen: "Die Schauspielerin Regine Zimmermann darf launig darüber räsonieren, was eigentlich diese Jungfräulichkeitszuschreibung im Märchentitel zur Sache tut, warum die Story nicht einfach 'Die Meerfrau' heißt und inwiefern ein Fischschwanz beischlafverhindernd wirkt. Nun ja..."

Alena Wagnerová erinnert im literarischen Wochenendessay der FAZ an Karel Čapeks 1920 in Prag uraufgeführtes Stück "R.U.R.", in dem der Autor gewissermaßen die Roboter im heutigen Sinne erfand, die dann auch prompt gegen ihre Versklavung in einer Industriegesellschaft rebellieren. Im Rückblick ein erstaunlich heutiges Stück, bei dessen erneuter Lektüre man ständig auf Diskussionen stößt, "die heute über Roboter und ihre Nutzung in vielen Bereichen des menschlichen Lebens geführt werden, vor allem aber über die Künstliche Intelligenz und ihre Folgen für die Integrität des Menschen. Und man wundert sich darüber, wie früh Čapek die Tragweite und Aktualität dieser Probleme erkannte."

Weitere Artikel: Ebenfalls in der FAZ würdigt Kerstin Holm das Moskauer Dokumentar-Theater "teatr.doc" das seit zwei Jahren mit dem Stück "Der Krieg ist nahe" an den in Sibirien inhaftierten Filmemacher Oleg Senzow erinnert.

Besprochen wird Werner Schwabs Stück "Mein Hundemund" im Wiener Werk X-Petersplatz (Standard), "Tristan und Isolde Oder Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!" von Hauen und Stechen und Theater HORA in den Berliner Sophiensälen (nachtkritik), Gustav Ruebs Inszenierung von Ulrike Syhas "Drift" am Theater Heidelberg (nachtkritik), Jan-Christoph Gockels Inszenierung "Ljod - Das Eis - Die Trilogie" nach Vladimir Sorokin am Staatstheater Mainz (nachtkritik) und Hans von Manens Choreographie "Trois Gnossiennes" an der Pariser Oper Garnier (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Der Historiker Simon Steiner, ursprünglich im Punk sozialisiert, erklärt in der taz, was ihn heute am griechisch-osmanischen Rembetiko reizt. Ihre Blüte erlebte sie in den 30ern, die meisten Stücke dieser Zeit "haben ihre Wurzeln in Volksliedern aus der heutigen Türkei, dem Café Aman, in dem Straßenmusiker Sängerinnen und Tänzerinnen begleiteten, den orientalischen Weisen aus Smyrna, der italienischen Oper, der Athener Revue und der Operette. Rembetiko klingt schwer, oft traurig, und wird manchmal als griechischer Blues bezeichnet, beinhaltet aber weder betonte blue notes noch das gängige Blues-Schema, sondern eigenständige Tonleitern. ... Treffpunkte waren Plätze in Athen und Piräus und die teke als eine Art Holzbude und Haschischhöhle. Dort spielten die Vagabunden das Brettspiel Tavli und Karten, rauchten Wasserpfeife, die nargile, und musizierten. Viele Rembetiko-Musiker lebten in Baracken, Waggons, Hütten oder in Zelten, die für die Geflüchteten aus Kleinasien ab 1922/23 gebaut worden waren." Eine Schlüsselfigur ist Giorgos Batis von dem es sehr viel Musik auf Youtube zu hören gibt:



Weitere Artikel: Ueli Bernays wirft in der NZZ einen Blick zurück auf die Karriere von Giorgio Moroder, der in seinen späten 70ern nun doch noch das Rampenlicht der großen Bühnen sucht. Für die NZZ spricht Christian Wildhagen mit Riccardo Chaily über dessen neuentflammte Leidenschaft für Rachmaninow und seine Pläne für den Festspielsommer in Luzern. Die Lange Nacht des Dlf Kultur erinnert an Kostya Belyaev und Rudik Fuks, die in den 60er- und 70er-Jahren hunderte russischer Lieder veröffentlicht haben.

Besprochen werden Bodo Mrozeks Studie "Jugend Pop Kultur. Eine transnationale Geschichte" (Zeit), Beyoncés Konzertfilm "Homecoming" (Tagesspiegel), das zweite Album des ESC-Gewinners Savador Sobral (NZZ), ein konzertanter "Otello" der Berliner Philharmoniker unter Zubin Mehta (Tagesspiegel), das neue Album der Wiener Band Dun Field Three (Standard) und das postum nach Tod der Sängerin Dolores O'Riordan veröffentlichte, letzte Cranberries-Album (FR, Dlf Kultur hat mit den verbliebenen Musikern gesprochen).
Archiv: Musik

Literatur

Dass Erika Mann und ihre meist an Kinder adressierte Literatur "tantenhaft" seien, wie ein häufig gefälltes Urteil lautet, kann Wieland Freund in einem flammenden Plädoyer zur Ehrenrettung in der Literarischen Welt anlässlich des 50. Todestags der Tochter Thomas Manns nicht stehen lassen. Vor solchen Anwürfen ist schon das erzählperspektivisch clever konstruierte "Buch von der Riviera" und "Zehn jagen Mr.X" vor. Insbesondere letzteres, 1990 erstmals ins Deutsche übersetzt und kaum zur Kenntnis genommen, ist ein sehr persönliches Werk: "Allein der Anlass hätte ein weit früheres Erscheinen und Bleiben nahegelegt: Erika Mann wollte mit ihrem Buch eben jenen 83 Kindern ein Denkmal setzen, die starben als ein deutsches U-Boot im Nordatlantik die 'City of Benares' versenkte. Auch Erika Manns Schwager Jenö Lány kam damals ums Leben. Ihre Schwester Monika überlebte den Angriff knapp." Der Roman "ist dennoch ein positives, optimistisches Buch geworden, denn an die Stelle der Totenklage tritt die Utopie einer neuweltlichen Schule der Vereinten Nationen, in der die Kinder aus Europa sicher in Kalifornien eingetroffen sind - und von niemand anders als der Erzählerin am Bahnsteig in Empfang genommen werden, die ihnen bald darauf leckeren Kuchen in immer vorrätigen Aschenbechern serviert."

In der taz spricht Ariana Harwicz über ihren Debütroman "Stirb doch, Liebling", in dem die argentinische Schriftstellerin mit klischierten Vorstellungen von Mutterglück und anderen ans Frausein geknüpften Auflagen abrechnet: "Mich interessierte, diese menschlichen Simulationen, Mutter, Ehefrau oder Schwiegertochter zu sein, offenzulegen. Ein Mensch kann all diese sozialen Rollen nicht glücklich bewerkstelligen. Er kann nur scheitern. Man muss Mutter sein - aber wie? Man soll dem Kind eine glückliche Kindheit ermöglichen - aber wie? Das sind Konflikte, in der die Erzählerin gefangen ist. Diese großen Themen der menschlichen Komödie reizen mich."

Weitere Artikel: Für die SZ ist Juliane Liebert nach Verspätungen und verpassten Zügen doch noch gemeinsam mit Sibylle Berg plus Entourage mit der Bahn von Berlin nach Hamburg gefahren, um über Bergs neuen Roman zu plaudern. Die Agenturen - hier im Standard - melden, dass der Literaturwissenschaftler Mats Malm künftig Ständiger Sekretär und damit Leiter der Schwedischen Akademie sein wird. Für Dlf Kultur wirft Maike Albath im Feature einen literarischen Blick nach Matera. Außerdem bringt die Literarische Welt einen Auszug aus Patti Smiths neuem Buch "Hingabe", in dem die Musikerin und Autorin durch Paris streift.

Besprochen werden unter anderem Elisabeth Plessens "Die Unerwünschte" (NZZ), Jennifer Clements "Gun Love" (NZZ), Juan Guses Dystopie "Miami Punk" (taz), Markus Liskes Hörbüch-Collage "Sechs Tage im April. Erich Mühsams Räterepublik" (taz), Hanna Gressnichs Comic "Hanno" (Tagesspiegel), Gary Shteyngarts "Willkommen in Lake Success" (Literarische Welt), Nell Zinks "Virgina" (Literarische Welt) und Victor Pouchets Debüt "Warum die Vögel sterben" (FAZ).
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Architektur

Aranya Low Cost Housing for Indore Development Authority", Indore, 1989 (Detail) © Iwan Baan 2018

Für die SZ porträtiert Laura Weissmüller den indischen Architekten und Pritzker-Preisträger Balkrishna Doshi, dem das Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein derzeit die Ausstellung "Architektur für den Menschen" widmet und der im Westen immer noch weitgehend unbekannt ist. Dabei könne man so viel von Doshi, der Menschen einen Bausatz gab, mit dem sie bis auf die fest installierte Toilette alles eigenständig verändern konnten, über bezahlbaren Wohnraum lernen, meint Weissmüller: "Wie das aussehen kann, sieht man in der Wohnsiedlung für die Life Insurance Corporation of India, die er 1973 entwarf. Außer einer Treppe ist auch hier so gut wie alles an den Mehrfamilienhäusern veränderbar. Wie nebenbei stellte der Entwurf jedoch auch die starre indische Hierarchie auf den Kopf. Schon allein, dass Arm und Reich hier unter einem Dach wohnen, ist erstaunlich, aber dass die Armen sogar über den Reichen wohnen, ihnen sozusagen auf dem Kopf herumtrampeln dürfen, wirkt wie eine bewusste Aufforderung, traditionelle Normen hinter sich zu lassen."

Besprochen wird die Ausstellung "U-Bahnhof-Architektur 1935-1994" in der Berlinischen Galerie (taz).
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