Efeu - Die Kulturrundschau

Fossilien der Zukunft

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06.08.2019. Der Guardian lernt von Dóra Maurer, aus einem verrückten libertären Impuls heraus die Ordnung zu stürzen. Die taz ahnt mit Berthe Morisot, dass die bürgerliche Frau nicht aufs Abendessen wartete, sondern auf eine neue Zeit. Außerdem wirft sie einen Blick auf die Mode nach der Mode. Der Tagesspiegel vermisst den selbstherrlichen Prinzipal in der Bayreuther Ausstellung über den coolen Wolfgang Wagner. Die Presse ächzt über die zunehmende Gleichförmigkeit bei Netflix-Serien: "Im Krieg wie im All, die gleichen Typen."
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.08.2019 finden Sie hier

Kunst

Dóra Maurer, Stage II, 2016. Bild: Tate Modern

Im Gegensatz zu vielen anderen dissidenten KünstlerInnen Osteuropas, meint Jonathan Jones im Guardian, hat die Ungarin Dóra Maurer auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nie an Kreativität eingebüßt. Hellauf begeistert ist Jones daher auch von der Schau, die ihr die Tate Modern widmet: "Maurers Farbstaffeln umfassen ineinanderfließende Wellen von Blau, Grün und Gelb, Kurven von Rot, die zu blauen und orangen Rechtecken stürzen oder überlappende Gitter unzähliger Farben. Auf 2016 datiert das jüngste dieser freudvollen Bilder, die sich über die Wände und um Ecken herum erstrecken und jeder Idee einer geschlossenen Bildoberflächen trotzen. Maurer, 1937 in Budapest geboren, ist auf der Höhe ihrer Kreativität und produziert Bilder, die zugleich Installationen sind und in denen helle, harte Geometrie hinweggestoßen wird von einem verrückten libertären Impuls."

Berthe Morisot: En Angleterre (Eugène Manet à l'île de Wight),1875. © Musée Marmottan-Claude Monet, Paris

Ulf Erdmann Ziegler freut sich in der taz über die große Schau, die das Musée d'Orsay der Impressionistin und Manet-Schwägerin Berthe Morisot widmet, die trotz aller bürgerlicher Fesseln nie träumte, sondern malte: "Rückt man aber ran an die Bilder und den Figuren auf die Haut, verschwindet die Blumigkeit des Milieus; der Schauplatz der Weiblichkeit erscheint plötzlich umkämpft. Sehr wohl hadert Morisot mit Fragen der Wahrnehmung: Sehe ich Häuser oder Miniaturen; ein Ding im Fenster oder die Farbe von Glas; Leinen auf der Wäscheleine oder Leinwände 'en plein air'? Hier skribbelt sie sich durch die Details, dort lässt sie die Zügel schießen. In der Kontemplation des Schönen liegt eine Botschaft verborgen: In Wirklichkeit wartet die bürgerliche Frau nicht auf das Abendessen, sondern auf den Beginn einer neuen Zeit."

In der FR kommentiert Harry Nutt schon ein wenig ermüdet die Aufregung um die Ausstellung "Milchstraßenverkehrsordnung (space is the place)" im Künstlerhaus Bethanien. Das Kollektiv Soap du Jour wirft den Machern mit entsprechendem Furor vor, nur die Kunst weißer alter Männer zu zeigen: "Das kleine Beispiel Bethanien zeigt, dass der ehrenwerte Einsatz für die Interessen von Minderheiten nicht frei ist von anti-aufklärerischen Tendenzen. Den Aktivisten von 'Soap du Jour' geht es um den symbolischen Triumph, das Urteil ist mit dem Anlegen des Maßbands bereits gefällt. Der apodiktische Ton, in dem sie ihr Anliegen öffentlich machen, tritt auf im Gewand einer repressiven Toleranz."

Weiteres: Olga Kronsteiner erinnert im Standard an den Sammler und Förderer Max Morgenstern, der sich vor allem um das Werk Alfred Kubins verdient gemacht hat. Rose-Maria Gropp gratuliert in der FAZ dem amerikanischen Künstler Richard Prince zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung des kanadischen Fotografen Michel Campeau im Fotografie Forum Frankfurt, der für seine Serie "Darkroom" die Dunkelkammern seiner Kollegen in Havanna, Paris, Brüssel oder Niamey verweigte (FR), die Ausstellung "Zwischen Ausgängen" in der Berliner Galerie Weißer Elefant (taz), eine Ausstellung in der Getty Villa in Pacific Palisades über ihr antikes Vorbild, die Villa dei Papiri in Herculaneum (FAZ).
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Design

"Mode ist ein schwieriges Geschäft geworden", schreibt Brigitte Werneburg in ihrem taz-Bericht vom Nachwuchsdesigner-Wettbewerb International Talent Support in Triest. Der Klimawandel hat auch Folgen für die Ressourcen klassischer Kleidungsproduktion, weshalb der Nachwuchs händeringend nach Alternativen Ausschau hält: Noch nie gab es hier so viel Upcycling zu sehen. Etwa Corrina Goutos, die ihre "hybriden Schmuckstücke, gefertigt aus BIC-Feuerzeugen, IT-Abfällen, Plastiktuben und natürlichem Material wie etwa Muscheln" als "Fossilien der Zukunft" bezeichnet. Oder Rafael Kuoto, der "seine grandiosen Stücke ausschließlich aus Stoffen und Materialien fertigt, die von den Herstellern aussortiert wurden. ... Dass Kleidung primär nicht mehr zerlegt wird, um etwa die Morphologie des traditionellen Anzugs in Frage zustellen und neue Formen zu entwickeln, sondern um Reste zu retten und Material und Handwerk achtsam einzusetzen, ist ein wesentlicher Aspekt, der hier deutlich wird. Er unterscheidet aktuelle Entwurfskonzepte von der sogenannten Mode nach der Mode."

Außerdem bespricht Katharina J. Cichosch ein Buch über den Modedesigner Marc Jacobs.
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Literatur

"Literatur sollte lügen und erfinden, um zur Wahrheit zu kommen", sagt der Schriftsteller und Musiker Hendrik Otremba im Tagesspiegel-Gespräch über seinen neuen Roman "Kachelbads Erbe", der vom kryonischen Verfahren handelt, bei dem Menschen im Tiefkühlschlaf ihren eigenen Tod überwinden wollen. Für ihn "eine unfassbar dekadente Angelegenheit. ... Wenn ich mir die Welt gerade angucke, weiß ich nicht, ob die Zukunft ein positiver Sehnsuchtsort ist. Ich würde mich eher sorgen, aufzuwachen und zu denken: Verdammt, wäre ich mal einfach gefroren geblieben."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld (SZ) und Hendrikje Schauer (FAZ) gratulieren der Germanistin und Essayistin Hannelore Schlaffer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Giosué Calaciuras "Die Kinder des Borgo Vecchio" (Dlf Kultur), Tim Wintons "Die Hütte des Schäfers" (CulturMag), Damir Karakašs "Erinnerung an den Wald" (FR), Elke Erbs "Gedichtverdacht" (SZ), Peter Hellers "Der Fluß" (CulturMag), Holly Goldberg Sloans und Meg Wolitzers "An Nachteule von Sternhai" (NZZ), Deborah Danowskis und Eduardo Viveiros de Castros Essay "In welcher Welt leben?" (Dlf Kultur), Lothar Müllers "Freuds Dinge" (Freitag), Jörg-Dieter Kogels "Im Land der Träume. Mit Sigmund Freud in Italien" (Freitag) und Rafik Schamis "Die geheime Mission des Kardinals" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Durchaus beeindruckt zeigt sich Christiane Peitz im Tagesspiegel von der Lässigkeit, ja Coolness, die Wolfgang Wagner ausstrahlte, doch insgesamt lässt sie sich von der Ausstellung zum hundertsten Geburtstag des Bayreuther Prinzipals nicht täuschen: "Wolfgang Wagner, dieses konservativ-fränkische Urgestein, dessen Inszenierungen mittelmäßig blieben, war auch herrisch und selbstherrlich, er tabuisierte die Familiengeschichte. Nicht nur seiner Mutter Winifred erteilte er Hausverbot, sondern auch dem Filmemacher Hans Jürgen Syberberg, nachdem Winifred vor dessen Kamera ihrer ungebrochenen Hitler-Liebe Ausdruck verliehen hatte, dreißig Jahre nach Kriegsende. Dass der Bann beiden galt, belässt die Ausstellung im Vagen, und das Hausverbot für den kritischen Wieland-Sohn Gottfried wird gar nicht erst erwähnt."

Außerdem: SZ-Kritiker Philipp Bovermann tummelt sich beim Münchner UWE-Festival unter Studierenden, um zu erfahren wie das Theater der Zukunft "transparenter, gemeinschaftlicher, mitfühlender, weiblicher" werden kann.
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Film

Schon durchaus solide, aber irgendwie auch sehr gleichförmig fand Presse-Kritikerin Barbara Petsch den neuen Netflix-Thriller "The Red Sea Diving Resort", der mit der Rettung äthiopischer Juden eigentlich einen hervorragenden Stoff mitbringt. Doch in der Gleichförmigkeit liegt der Knackpunkt: Netflix und Film-Streaming generell haben ihren Ruf als einstige Hoffnungsträger in Sachen ambitioniertem Erzählen in letzter Zeit nämlich ziemlich ramponiert: "Streamingkonzerne sind die neuen Großmächte im Filmbusiness", doch "machen sie, ähnlich wie Hollywood, von ihrer gewichtigen Stellung zu wenig Gebrauch". Petsch wünscht sich, "dass interessante, spannende, auch randständige Themen nicht nur mit konventionellen, oft auf technische Gags konzentrierten Mitteln aufbereitet" werden. "Wer sich viel anschaut, den irritieren wie verschiedene Geschichten ähnlich verarbeitet werden: Im Krieg wie im All, die gleichen Typen."

Besprochen werden außerdem die von Ben Affleck und Matt Damon produzierte Copserie "City on a Hill" (Welt, FAZ) und Denys Arcands "Der unverhoffte Charme des Geldes" (SZ, unsere Kritik hier).
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Stichwörter: Netflix, Streaming, Arca, Affleck, Ben

Musik

"Feuer ist ein Leitmotiv auf 'Flamagra', dem neuen Album von Flying Lotus", erklärt in der Zeit Jens Balzer, dem dieses Motiv auf dem während der kalifornischen Waldbrände im vergangenen Jahr entstandenen Album in allen möglichen Kontexten begegnet. Und ihn zu lyrischen Betrachtungen anregt: Es geht nämlich "auch um die Klänge verblichener Zukunftsvisionen, um Erinnerung an die Hoffnungen von einst und um den Blick in die Ungewissheit dessen, was kommt. Das Feuer dient als Symbol des Untergangs und der gefährdeten Zivilisation. Es kann aber auch für Reinigung und Wiedergeburt stehen ... Über seiner Musik liegt nun das Licht der Geschichte, des unaufhörlichen Werdens und Vergehens. Es ist eine Musik, die noch in ihren winzigsten Wendungen und Kombinationen jenes bewahren will, woraus sie erwuchs, und die zugleich unbeirrt nach den Klängen des noch nicht Gehörten, noch zu Erfindenden sucht." Ein aktuelles Video:



Weiteres: Michael Stallknecht porträtiert in der SZ den Komponisten Pascal Dusapin, dem die Salzburger Festspiele eine Konzertreihe widmen. Hans-Jürgen Schaal schreibt in der NMZ über Adornos Musiktheorie. Gerald Felber berichtet in der FAZ von den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker, wo sich einen Schwerpunkt mit Liedern aus der DDR befasst. Pia Stendera stellt in der taz die linke Dresdner Brasscombo Banda Comunale vor. In den aus der Literarischen Welt online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Michael Pilz daran, dass Bob Dylan seinerzeit wegen eines Motoradunfalls nicht an Woodstock teilnehmen konnte. Jürgen Moises gratuliert in der SZ dem Münchner Krautrock- und Weltmusik-Kollektiv Embryo zum 50-jährigen Bestehen. Beim Zündfunk des BR gibt es ein schönes Feature über die Band.

Besprochen werden Lise de la Salles Konzert beim Rheingau Festival (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Kodály-Aufnahme von Julian Steckel (SZ).
Archiv: Musik